Ten Mile Bottom

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Kapitel 5

Es war ein wunderschöner Junimorgen und ich hasste jede Sekunde davon.

Ebenso wie in der vorangegangenen Nacht konnte ich nicht schlafen, also gab ich es um fünf Uhr morgens auf und stand auf. Mein neuer Vermieter hatte das Haus mit den Worten beschrieben, dass es etwas Liebe und Pflege brauchte, aber in Wahrheit war es ein verdammter Albtraum. Aiden hatte mich davon überzeugt, dass ich ein Projekt brauchte, eine mühselige Arbeit, um mich abzulenken und mir dabei zu helfen, meine Gedanken zu entgiften, und voilà, einen Monat später hatte ich ein Haus am Rand von Ten Mile Bottom gemietet – einer malerischen Kleinstadt in Cambridgeshire. Ich hatte eine Mietminderung erhalten, weil ich zugestimmt hatte, die ganze Arbeit allein zu machen.

Ich war nicht sicher, wen ich mehr hasste – Aiden, den Vermieter oder mich selbst.

Wahrscheinlich Aiden. Ich hatte zugestimmt, mein gesamtes Leben in London aufzugeben und der Mistkerl hatte mich die Stadt auswählen lassen, indem ich wahllos auf eine Karte gezeigt und den Namen der Stadt zum damaligen Zeitpunkt urkomisch gefunden hatte.

Ich seufzte schwer, als ich das Wohnzimmer musterte. Am Abend zuvor war es mir gelungen, die Hartholzböden – wahrscheinlich die einzig vernünftige Eigenschaft dieses Hauses – mit einem dicken Tuch abzudecken, um heute die Wände zu streichen.

Die Sache ist, dass ich nicht für solche Arbeiten gemacht war. Ich hatte nicht einmal herausgefunden, wie der Ofen in meiner Londoner Wohnung funktionierte. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Pinsel in der Hand gehabt und wollte nicht einmal daran denken, irgendetwas mit einem Hammer oder Schraubenzieher zu reparieren, und mit einer Flasche Bleiche in der Hand war ich eine Gefahr für die Umwelt.

Es war wirklich verlockend, jemanden anzurufen, der all die Arbeit machte, während ich einfach im Garten lag und ein Buch las, aber ich wusste, dass Aiden recht hatte. Wenn ich das tun würde, würden meine Gedanken wieder außer Kontrolle geraten und meine Angstzustände in die Höhe treiben. Ich musste die Arbeit selbst erledigen und vielleicht würde ich mich dann eine Weile nicht wie ein nutzloses Stück Scheiße fühlen.

Mit neu erwecktem Enthusiasmus ging ich in die Küche und nahm mein Tablet vom Tisch. Auf YouTube musste es doch Anleitungen zum Streichen geben, oder? Es konnte nicht so schwer sein, etwas Farbe auf einer flachen Oberfläche zu verteilen.

***

Es stellte sich heraus, dass es verdammt schwer war. Es gab so viele Dinge zu beachten, zum Beispiel, dass der erste Anstrich so gleichmäßig wie möglich war; dass die Ränder zur Decke und den Fußleisten mit militärischer Präzision abgeklebt wurden; dass man sich selbst mit der Menge an Farbe zurückhielt, damit man nicht mitten im Projekt mit leeren Händen dastand.

Beim letzten Punkt scheiterte ich kläglich. Mir ging bei der Hälfte der zweiten Schicht die Farbe aus. Eine Menge davon befand sich auf dem Boden, weil es verdammt schwer war, die Rolle vom Gitter zu nehmen, ohne dabei überall Farbe zu verteilen, selbst wenn es bei dem Typen auf YouTube so einfach und sauber ausgesehen hatte. Ich bekam sowieso Hunger, also entschloss ich mich für eine kleine Pause, um Mittag zu essen und bei einem Heimwerkerladen anzuhalten, um mehr Farbe zu holen.

Nach einer dringend nötigen Dusche und einem Klamottenwechsel stieg ich in mein Auto und hatte das Gefühl, wirklich etwas erreicht zu haben. Und diesen Moment suchte sich mein Auto aus, um mir den Mittelfinger zu zeigen.

Ich liebte dieses Auto. Das tat ich wirklich. Ohne sentimentalen Grund hatte ich eine absurde Verbindung zu diesem Auto. Der BMW M6 war das Erste, was ich mir mit der Vorauszahlung für meinen ersten Roman gekauft hatte. Das war vor fünf Jahren gewesen und ich liebte dieses Auto noch immer so sehr wie damals, als ich sie das erste Mal in dem funkelnden Autohaus gesehen hatte. Obwohl sie sehr temperamentvoll war, mich schon mehrere Mal am Straßenrand hatte stranden lassen und ich ihretwegen Unmengen an Geld für Reparaturen ausgegeben hatte, war es mir nie auch nur in den Sinn gekommen, mir ein anderes Auto anzuschaffen.

Bis zu diesem Moment. Der Motor schaltete sich automatisch ab und das rot blinkende Licht in Form eines Reifens auf dem Armaturenbrett fühlte sich an wie der letzte Tropfen Unglück in meiner erbärmlichen Existenz.

»Fuck!«, schrie ich, schlug auf das Lenkrad und traf aus Versehen die Hupe. »Ich hasse dich, du dämliches Scheiß-Auto!« Das dröhnende Geräusch der Hupe offenbarte die Wut in mir auf eine so perfekte Art und Weise, dass ich weiter darauf drückte, immer und immer wieder, während ich mein Auto verfluchte und schließlich körperlich und mental erschöpft war.

Ich ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken, atmete tief ein und versuchte, mich zu beruhigen. Ein leises Klopfen am rechten Fenster erschreckte mich und ich zuckte zusammen. Mein Herz schlug wie wild, als ich mich dem Eindringling in meinem persönlichen Zusammenbruch zuwandte.

Ein Mann, wahrscheinlich Ende sechzig, starrte mich an und hatte den Finger gekrümmt, als würde er erneut klopfen wollen. Sorge und vielleicht etwas Vorsicht zeichnete sich auf seinem faltigen Gesicht ab, aber sein Blick war freundlich, als er mich durch die Scheibe hindurch musterte.

»Ja?«, sagte ich, als ich das Fenster runterließ und spürte, wie die Verärgerung in mir köchelte, aber es gelang mir, den alten Mann nicht anzufauchen.

»Alles in Ordnung, Kumpel?«, fragte der Mann, unbeeindruckt von meinem feindseligen Verhalten. Sein Blick glitt durch das Innere des Wagens, als würde er nach Hinweisen auf meinen Geisteszustand suchen.

»Mir geht's gut, danke«, sagte ich und wollte das Fenster schließen, besann mich dann jedoch eines Besseren.

»Sicher? Da blinkt ein rotes Licht an deinem Armaturenbrett«, sagte der Mann und zeigte auf das Licht, als hätte ich es verdammt noch mal nicht gesehen. Ich biss die Zähne zusammen. »Und du hast gehupt, als würdest du Hilfe brauchen.«

Ich funkelte ihn an, aber er lächelte nur und die Freundlichkeit in seinen Augen sorgte dafür, dass meine Verärgerung noch höher kochte.

»Hör mal«, sagte er, bevor ich die Möglichkeit hatte zu antworten. »Warum kommst du nicht auf eine Tasse Tee mit rein und wartest auf den Abschleppwagen? Du weißt, wie sie sind, es könnte eine Stunde dauern, bis sie hier sind und dein Auto aufgeladen haben.«

»Ein Abschleppwagen?«, fragte ich, als hätte ich das Wort noch nie zuvor gehört. Mir war nicht klar gewesen, dass das Problem so ernst war.

»Nun, ja«, sagte der Mann verwirrt. »Deine Servolenkung ist ausgestiegen. Du kannst nirgendwo hin. Und wenn ich mir das Auto ansehe, bin ich ziemlich sicher, dass sie es nicht hier reparieren können. Es ist alles elektronisch, nicht wahr?«

»Was ist alles elektronisch?« Mir war klar, dass ich wie ein Idiot klang, aber der Mann gab mir zu viele Informationen auf einmal. Ausfall der Servolenkung? Abschleppwagen? Einladung zum Tee? Was, wenn ich ein blutrünstiger Krimineller war, der es auf alte Menschen abgesehen hatte, und das hier nur Show war?

»Das Servolenkungssystem in deinem Auto«, sagte der Mann langsamer und deutlicher als vorher.

»Ich hab keine Ahnung«, sagte ich ehrlich und lehnte mich zurück. Das war ein verdammter Albtraum.

»Alles klar«, sagte der Mann und klopfte mit der Handfläche auf die Tür. »Besorgen wir dir eine heiße Tasse Tee und rufen Hilfe. Das wird in Nullkommanichts erledigt sein.« Er lächelte mich an und kurz kam mir der Gedanke, dass er der blutrünstige Kriminelle war, der es auf junge und verletzliche Menschen abgesehen hatte, und sobald ich sein Haus betreten hatte, würde niemand meine Leiche finden.

An diesem Punkt war es mir egal. Ich stieg aus, schloss unsinnigerweise das Auto ab und folgte dem Mann zu seinem Haus, das meinem gegenüberlag.

***

»Du bist letzte Woche eingezogen, ja?«, fragte Mr. Grayson – oder Steve, wie ich ihn nennen sollte –, während er eine Tasse mit dampfendem Tee vor mir abstellte. Ich nickte und schloss meine Finger um die heiße Tasse, obwohl draußen fast achtunddreißig Grad waren. »Was führt dich nach Ten Mile Bottom?«

Er sah mich über den Rand seiner Tasse hinweg neugierig an, während er vorsichtig einen Schluck trank.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich brauchte einen Tapetenwechsel.«

Ich rutschte auf dem Stuhl herum. Unter seinem suchenden Blick fühlte ich mich unwohl und ich fürchtete, dass er noch mehr Fragen stellen würde. Ich war diese ganze freundliche Nachbarschaftssache nicht gewohnt. Ich hatte in London fünf Jahre in meiner Wohnung gelebt und kannte die Namen meiner Nachbarn nicht, geschweige denn, dass ich ihnen bei einem heißen Getränk meine Lebensgeschichte erzählte. Scheiße, ich würde es als Erfolg betrachten, wenn ich einen von ihnen auf der Straße erkannte.

Als hätte er mein Unbehagen gespürt, nickte Steve, eher zu sich selbst, und fragte: »Magst du Kuchen?«

Der plötzliche Themenwechsel ließ mir schwindlig werden. »Sicher«, sagte ich.

»Gut.« Er stand auf und ging zur Anrichte auf der anderen Seite der Küche, sodass er mir den Rücken zuwandte. »Meine Ruby liebt das Backen. Sie macht jeden Tag etwas, Gott möge sie segnen«, sagte er, als er Teller aus dem Schrank nahm. »Sie ist gerade bei ihrem Buchclub – hat gestern eine Pfirsich-Tarte für sie gebacken – und es wird ihr nicht gefallen, dass sie dich verpasst. Sie wollte rüberkommen und sich vorstellen, als du eingezogen bist, aber ich konnte sie aufhalten. Gib dem Jungen ein oder zwei Tage, um sich einzuleben, Liebling, hab ich ihr gesagt. Ich weiß, dass Stadtmenschen etwas schreckhaft werden, wenn man sie in die Ecke drängt.«

 

Ich konnte das Lächeln aus seiner Stimme heraushören, obwohl ich ihn nicht sah. Unwillkürlich musste ich ebenfalls lächeln. »Woher wusstest du, dass ich ein Stadtmensch bin?«, fragte ich und malte Anführungszeichen in die Luft, als er sich mit den beiden Tellern in der Hand zu mir umdrehte.

Steve antworte nicht, sondern hob nur eine seiner buschigen Augenbrauen. Er stellte die Teller auf den Tisch und ging dann zum Kühlschrank.

»Vanillesoße?«

»Ja, bitte«, sagte ich. Vielleicht war es doch gar nicht so schlecht, mit einer heißen Tasse Tee und einem Stück Kirschkuchen mit viel Vanillesoße auf den Abschleppwagen zu warten.

Kapitel 6

Der Pannendienst tauchte ungefähr eine Stunde später auf, genau wie Steve es vorhergesagt hatte. Der Typ warf einen Blick unter die Motorhaube, während Steve und ich zusahen, und verkündete, dass er hier draußen nichts machen konnte und das Auto in die Werkstatt bringen musste.

»Ich vermisse es, wie sie früher gemacht wurden«, sagte er, knallte die Motorhaube zu und ließ mich zusammenzucken. »Man konnte fast jedes Problem lösen, indem man an das, was auch immer kaputt war, einen Draht gebunden hat. Jetzt braucht man Computer und Apps und was sonst noch.«

Ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, die Augen zu verdrehen. Mit Mühe.

»Also…«, sagte ich gedehnt und deutete zwischen uns und dem Auto hin und her. Der Typ sah mich ausdruckslos an. »Gibt es in der Nähe eine Werkstatt?«

»Bring ihn zu Bob«, sagte Steve zu dem Kerl. Er sah mich an, dann das Auto und nickte schließlich.

»Scheint die beste Option zu sein.«

Wer auch immer dieser Bob war, ich wollte so schnell wie möglich dorthin und mein Auto reparieren lassen. Nachdem ich so viel Zeit damit verschwendet hatte, auf den Abschleppdienst zu warten, mussten die Leute jetzt etwas Initiative zeigen und aufhören, so zu tun, als würde die Zeit in Ten Mile Bottom langsamer vergehen. Es war nicht überraschend, dass Steve den Abschlepper kannte – Howard? Harrison? – und während ich immer frustrierter wurde, unterhielten sie sich weiter am Straßenrand, als wären wir auf einem Familiengrillfest.

Ich räusperte mich. Die beiden sahen mich an, als wäre ich ein Kind, das nach Aufmerksamkeit sucht.

»Hätten Sie was dagegen, wenn wir fahren?«, fragte ich und deutete auf das Auto.

Widerwillig seufzend verabschiedete sich Howard/Harrison von Steve und lud mein Auto auf seinen Anhänger. Bei dem Anblick, wie sie sich nicht allein bewegen konnte, an ein Seil gespannt und hilflos auf einen Truck gezogen wurde, hätte ich weinen können. Stattdessen schob ich das Gefühl beiseite und wandte mich an Steve.

»Danke für den Kuchen und alles.«

»Du wirst noch mal vorbeikommen müssen«, sagte er und sein träges Lächeln brachte seine Augen zum Leuchten. »Ruby wird dich auch kennenlernen wollen.«

Ich verzog das Gesicht, sodass sich Steves Lächeln in ein breites Grinsen verwandelte. Der Mistkerl wusste, dass ich mich seinetwegen unwohl fühlte und es war ihm egal.

»Sicher«, sagte ich hoffentlich unverbindlich.

Die Fahrt zu Bobs Werkstatt war auf mehr als nur eine Art unangenehm. Howard/Harrison zwang mich, vorne in seinem Truck zu sitzen, wo wahrscheinlich nicht mehr sauber gemacht wurde, seit er das Ding gekauft hatte, und ich verbrachte die fünfzehnminütige Fahrt damit, allen Fragen auszuweichen, die er mir zuwarf. Ich war nie glücklicher gewesen, als ich keine hundert Meter entfernt das große blaue Schild mit der Aufschrift Robert Goodwin & Sons sah. Ich konnte nicht schnell genug aussteigen und überließ es Howard/Harrison, mein Auto abzuladen, damit ich zur Rezeption gehen konnte.

Ein Typ, etwa so alt wie meine Eltern, saß hinter einem Tisch, klickte mit der Maus und starrte auf einen riesigen Bildschirm. Er trug eine dicke Brille, durch die seine grünen Augen riesig wirkten.

»Alles klar?«, fragte er, als ich auf ihn zuging.

»Ging mir schon besser.«

Bob – vermutlich – lächelte mich an, nahm die Brille ab und deutete mit dem Kinn auf mein Auto, das gerade vor seinem Büro abgeladen wurde.

»Ihres?«

Ich nickte.

»Was ist passiert?«

Ich erklärte, was das Problem zu sein schien, während Bob mir einen Stuhl und Tee anbot. Ich setzte mich, lehnte aber den Tee ab. Als ich fertig war, griff er nach seinem Walkie-Talkie und bat jemanden namens Ben, hereinzukommen.

»Mein Sohn sieht sich Ihr Auto in einer Minute an«, sagte er und musterte mich unauffällig. Ich konnte die Neugier in seinen Augen sehen, aber obwohl das Schicksal meines Autos in den Händen dieses Mannes lag, runzelte ich die Stirn und hoffte somit sein Bedürfnis, in meinem Leben herumzuschnüffeln, zu ersticken. Mir war das heute zu oft passiert und mein Privatleben privat zu halten, wurde ermüdend.

Zum Glück kamen zwei Männer durch eine Seitentür, die in die Werkstatt führte. Sie lachten und der größere schubste den anderen spielerisch, als er über die Schwelle trat.

»Lass das, Arschgesicht!«, sagte er und konnte sich nach dem Stoß kaum auf den Beinen halten.

»Jungs!«, sagte Bob warnend.

Der Typ, der beinahe gefallen wäre, sah seinem Dad in die Augen, ehe er sich zu mir umdrehte und erstarrte. Große, grüne Augen starrten mich an, als hätte er einen Geist gesehen. Der andere Typ stieß gegen ihn, überrascht von der plötzlichen Starre mitten im Raum.

»Was stimmt nicht mit dir, Ben?«

Bob verdrehte die Augen, seufzte und rief Ben schließlich zu sich, um ihm das Problem meines Autos zu erklären. Ben nickte und als er sich wieder zu mir umdrehte, sah er mir nicht in die Augen.

»Warum lässt du sie heute Abend nicht hier und wir rufen dann morgen an, nachdem wir sie getestet haben?« Seine Haut war dunkler als die seines Dads, aber ich konnte trotzdem die Röte sehen, die sich auf seine Wangenknochen schlich. Ich runzelte die Stirn und öffnete den Mund, um zu protestieren und zu verlangen, dass mein Auto heute noch gecheckt wurde, aber etwas in Bens Körpersprache ließ mich innehalten. »Es ist nur so, dass wir heute noch andere Autos fertigstellen müssen und ich bin nicht sicher, wie lange das dauern wird.« Als er dieses Mal sprach, sah er mich aus seinen grünen Augen an, scheinbar der einzige Zug, den er von seinem Dad geerbt hatte. Ich hatte keine Ahnung, warum er so verlegen wurde, genauso wenig wie sein Dad und sein Bruder, wenn ihre verwirrten Blicke irgendein Hinweis waren.

Ich war ein wenig genervt – ich fühlte mich wie ein Nachzügler, der am Ende des Witzes hereinkam, alle lachen hörte und keine Ahnung hatte, was so lustig war. Was noch schlimmer war, ich fühlte mich analysiert, auseinandergenommen und als würden sie hinter meinem Rücken über mich sprechen, sobald ich ging. Eine Welle aus Heimweh traf mich so heftig und unerwartet, dass ich mich an der Tischkante festhalten musste, um nicht zu schwanken.

Beschämt sah ich Ben an und hielt seinen Blick gefangen, während ich die Stirn runzelte. Mir lag eine schnippische Antwort auf der Zunge und ich wollte sie mit tadelloser Arroganz zum Besten geben, aber die Verletzlichkeit in seinen wunderschönen Augen ließ die Worte auf meiner Zunge ersterben. Wie konnte er einem Fremden gegenüber so offen sein? Die Falte zwischen meinen Brauen wurde tiefer, aber die wütenden Worte, die ich ihm sagen wollte, verpufften ungesagt.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte ich schließlich und wandte den Blick ab. »Aber ich komme nicht zum Haus zurück.« Ich hielt inne, als mir klar wurde, dass ich noch Besorgungen machen musste, bevor ich zurückkonnte, und das unangenehme Gefühl in meinem Bauch erinnerte mich daran, dass ich kein anständiges Mittagessen hatte. Der Kuchen bei Steve war längst vergessen. »Könnten Sie mir die Nummer eines Taxi-Unternehmens geben?« Ich nahm mein Handy hervor, um die Nummer zu wählen und von hier zu verschwinden.

»Ja, natürlich«, sagte Bob, wurde aber von dem Abschlepptypen unterbrochen, der ins Büro kam, damit ich die Papiere unterschrieb.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ben von seinem Bruder am Arm gepackt und durch die Tür in die Werkstatt gezogen wurde. Durch die Glastür konnte ich sehen, dass sie über irgendetwas diskutierten; Bens Bruder wedelte mit den Armen, während Ben mit verschränkten Armen dastand und auf den Boden starrte. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Ich hatte absolut keine Ahnung, was los war, und um ehrlich zu sein, hatte ich die Nase voll von der ganzen Sache. Ich verabschiedete mich schnell von Bob und ging nach draußen, ohne ihm eine Chance zum Widerspruch zu geben. Ich würde mein eigenes verdammtes Taxi finden.

Draußen nahm ich mein Handy wieder hervor, starrte jedoch nur auf einen schwarzen Bildschirm. Ich drückte den Power-Knopf, bis das Handy in meiner Hand vibrierte, aufleuchtete und eine Sekunde später mit der leuchtenden Akkuanzeige wieder ausging.

»Verdammter Idiot«, murmelte ich zu mir selbst und drückte das Handy an mich, damit ich es nicht auf den Betonboden warf. Es war meine Schuld, das wusste ich, ich war derjenige, der gestern Abend vergessen hatte, es zu laden, und trotzdem fühlte es sich an, als würde sich das ganze Universum gegen mich verschwören. Als würde es sich immer noch gegen mich verschwören.

Peinlicherweise war ich den Tränen nahe. Aber ich sollte verdammt sein, wenn ich wieder da reinging und nach meinem dramatischen Abgang von eben um Hilfe bat. Wenn ich musste, würde ich nach Hause laufen.

Das Stadtzentrum konnte nicht allzu weit weg sein, richtig? Ich würde dorthin laufen, eine Powerbank kaufen, um mein Handy zu laden, und ein Taxi rufen. Scheiße, ich würde verdammt noch mal ein neues Handy kaufen, bevor ich zu Bob zurückging und ihn um Hilfe bat.

Ich ging los.

Nach ein paar Minuten wurde mir klar, dass das eine schlechte Idee war. Es gab keinen Gehweg an der Straße; im Grunde riskierte ich mein Leben, wenn ich an der Straße lief und hoffte, dass kein verrückter Mistkerl die Kurve zu eng nahm und mich in ein totgefahrenes Etwas verwandelte.

Trotzdem blieb ich stur. Bis ein Auto langsam neben mich fuhr. Ich drehte mich um und sah den Fahrer finster an, der das Fenster herunterließ.

»Du kannst dir mich nicht leisten, Süßer, also fahr weiter«, sagte ich und wedelte wegwerfend mit der Hand.

Der Fahrer lachte und ich schwöre bei Gott, dass es das entzückendste, reinste, verdammt erotischste Geräusch war, das ich je gehört hatte, und es ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben. Ich lehnte mich etwas vor, um einen Blick auf die Kreatur zu werfen, die meinen Schwanz in zwei Sekunden hatte hart werden lassen. Vielleicht hatte ich ja überreagiert und er konnte sich mich tatsächlich leisten, wenn er noch mal so lachte.

Mein Blick traf auf klare, grüne Augen und das Stirnrunzeln kehrte zurück.

»Warum folgst du mir, anstatt an meinem Auto zu arbeiten?«

Ben lächelte und in seinen Augen funkelte etwas, das nur als Schalk beschrieben werden konnte. »Warum laufen Sie?«

»Lange Geschichte«, sagte ich, straffte mich und lief weiter. Er folgte mir. Hinter ihm fuhr ein Auto heran und hupte laut, als es an uns vorbeiraste.

»Steigen Sie ein«, sagte er.

Ich ignorierte ihn und war mir nicht nur bewusst, dass ich stur war, sondern auch der Parallelen zu Natürlich Blond.

»Mr. Hart, steigen Sie ein, bevor Sie irgendein Arschloch in einem Vierzigtonner erwischt, ohne es überhaupt zu bemerken.«

Mr. Hart. Toll. Einfach toll.

Ich blieb abrupt stehen und griff nach der Tür. Ben stieg auf die Bremse, als ich die Tür öffnete und einstieg.

»Bitte nenn mich nicht so«, sagte ich, als ich mich anschnallte. »Finn ist in Ordnung.«

Ben nickte und beschleunigte langsam. Im Radio lief ein R'n'B-Song, den ich nicht kannte, und die Klimaanlage pustete mir kühle Luft ins Gesicht, sodass ich mich unwohl fühlte. Ich beugte mich vor und drehte die Öffnung des Luftgitters von mir weg.

»Wohin?«, fragte Ben, während er mit einer Hand in den nächsten Gang schaltete. Scheiße, aber ich fand diese kleine Geste sexy. Seine langen Finger umschlossen den schwarzen Hebel und bewegten ihn so mühelos, dass sich mein Magen zusammenzog.

»Lass mich einfach irgendwo in der Nähe des Stadtzentrums raus. Was auch immer auf deinem Weg liegt.«

Ben nickte erneut und eine Weile fuhren wir schweigend. Ich hatte recht gehabt – das Stadtzentrum war weniger als fünf Minuten Fahrt entfernt, also hätte ich zu Fuß nicht länger als eine halbe Stunde gebraucht. Eine seltsame Befriedigung breitete sich in mir aus. Immerhin war ich kein vollständiger Idiot.

 

»Ich rate dir, diese Straße niemals wieder zu Fuß zu laufen«, sagte Ben, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Allein in den letzten sechs Monaten hat es hier sechs tödliche Unfälle gegeben und bei den meisten waren Fahrradfahrer oder Leute, die mit ihren Hunden spazieren waren, beteiligt.« Er hielt inne, um mich einen Moment lang anzusehen, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel und ich konnte meinen Blick nicht von der Stelle lösen. »Ich sage dem Stadtrat schon seit Jahren, dass sie an dieser Strecke einen Blitzer aufstellen sollen.«

Ich seufzte. »Gefährliche Zeiten…«, sagte ich und winkte ab, anstatt meinen Gedanken zu Ende zu bringen.

Ben fuhr kommentarlos auf den Parkplatz vor dem Kaufhaus.

»Danke«, sagte ich und schnallte mich ab. »Du hättest dir nicht die Mühe machen müssen, mich hier abzusetzen.« Aus irgendeinem Grund wurde ich immer verlegener und mied den Blickkontakt. Ich spürte, wie meine Angst größer wurde und wollte nichts mehr, als aus diesem Auto auszusteigen.

Als ich die Hand schon am Türgriff hatte, wagte ich einen Blick auf Ben. Er beobachtete mich eindringlich mit einer kleinen Falte zwischen den Brauen, als würde er angestrengt versuchen, mich zu verstehen, aber kläglich scheitern.

»Alles klar, danke noch mal«, sagte ich, öffnete die Tür und stieg aus. »Bitte ruf mich an, sobald du weißt, was mit meinem Auto nicht stimmt, ja?« Ich sah ihn nicken, ehe ich die Tür etwas zu heftig zuschlug.

Meine Beine zitterten, als ich das Kaufhaus betrat, ohne mich umzudrehen, war mir aber sehr bewusst, dass Ben wegfuhr.

Niedriger Blutzucker, dachte ich, als ich mich daran erinnerte, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, und auch das hatte nur aus einem Joghurt und einer Banane bestanden.

Richtig. Zuerst essen, dann Selbstmitleid.