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Der Stechlin

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Verweile doch. Tod. Begräbnis.
Neue Tage

Vierzigstes Kapitel

Agnes, während oben die gereizte Szene zwischen Bruder und Schwester spielte, war unten in der Küche bei Mamsell Pritzbur und erzählte von Berlin, wo sie vorigen Sommer bei ihrer Mutter auf Besuch gewesen war. »Eins war da,« sagte sie, »das hieß das Aquarium. Da lag eine Schlange, die war so dick wie'n Bein.«

»Aber hast du denn schon Beine gesehn?« fragte die Pritzbur.

»Aber, Mamsell Pritzbur, ich werde doch wohl schon Beine gesehn haben … Und dann, an einem andern Tag, da waren wir in einem ›Tiergarten‹, aber in einem richtigen, mit allerlei Tieren drin. Und den nennen sie den ›Zoologischen‹.«

»Ja, davon hab ich auch schon gehört.«

»Und in dem ›Zoologischen‹, da war ein ganz kleiner See, noch viel kleiner als unser Stechlin, und in dem See standen allerlei Vögel. Und einer, ganz wie'n Storch, stand auf einem Bein.«

Als die Mädchen das Wort »Storch« hörten, kamen sie näher heran.

»Aber die Beine von dem Vogel, oder es waren wohl mehrere Vögel, die waren viel größer als Storchenbeine und auch viel dicker und viel röter.«

»Und taten sie dir nichts?«

»Nein, sie taten mir nichts. Bloß, wenn sie so ne Weile gestanden hatten, dann stellten sie sich auf das andre Bein. Und ich sagte zu Mutter: ›Mutter, komm; der eine sieht mich immer so an.‹ Und da gingen wir an eine andere Stelle, wo der Bär war.«

Das Kind erzählte noch allerlei. Die Mädchen und auch die Mamsell freuten sich über Agnes, und sie trug ihnen ein paar Lieder vor, die ihre Mutter, die Karline, immer sang, wenn sie plättete, und sie tanzte auch, während sie sang, wobei sie das himmelblaue Kleid zierlich in die Höhe nahm, ganz so, wie sie's in der Hasenheide gesehen hatte.

So kam der Nachmittag heran, und als es schon dunkelte, sagte Engelke: »Ja, gnädger Herr, wie is das nu mit Agnessen? Sie is immer noch bei Mamsell Pritzbur unten, un die Mächens wenn sie so singt und tanzt, kucken ihr zu. Sie wird woll auch so was wie die Karline. Soll sie wieder nach Haus, oder soll sie hierbleiben?«

»Natürlich soll sie hierbleiben. Ich freue mich, wenn ich das Kind sehe. Du hast ja ein gutes Gesicht, Engelke, aber ich will doch auch mal was andres sehn als dich. Wie das lütte Balg da so saß, so steif wie ne Prinzeß, hab ich immer hingekuckt und ihr wohl ne Viertelstunde zugesehn, wie da die Stricknadeln immer so hin und her gingen und der rote Strumpf neben ihr baumelte. So was Hübsches hab ich nicht mehr gesehn, seit zu Weihnachten die Grafschen hier waren, die blasse Komtesse und die Gräfin. Hat sie dir auch gefallen?«

Engelke griente.

»Na, ich sehe schon. Also Agnes bleibt. Und sie kann ja auch nachts mal aufstehn und mir eine Tasse von dem Tee bringen, oder was ich sonst grade brauche, und du alte Seele kannst ausschlafen. Ach, Engelke, das Leben is doch eigentlich schwer. Das heißt, wenn's auf die Neige geht; vorher is es soweit ganz gut. Weißt du noch, wenn wir von Brandenburg nach Berlin ritten? In Brandenburg war nich viel los; aber in Berlin, da ging es.«

»Ja, gnädger Herr. Aber nu kommt es.«

»Ja, nu kommt es. Nu is Katzenpfötchen dran. So was gab es damals noch gar nicht. Aber ich will nichts sagen, sonst wird die Buschen ärgerlich, und mit alten Weibern muß man gut stehn; das is noch wichtiger als mit jungen. Und, wie gesagt, die Agnes bleibt. Ich sehe so gern was Zierliches. Es is ein reizendes Kind.«

»Ja, das is sie. Aber …«

»Ach, laß die ›Abers‹. Du sagst, sie wird wie die Karline. Möglich is es. Aber vielleicht wird sie auch ne Nonne. Man kann nie wissen.«

Agnes blieb also bei Dubslav. Sie saß am Fenster und strickte. Mal in der Nacht, als ihm recht schlecht war, hatte er nach dem Kinde rufen wollen. Aber er stand wieder davon ab. »Das arme Kind, was soll ich ihm den Schlaf stören? Und helfen kann es mir doch nicht.«

So verging eine Woche. Da sagte der alte Dubslav: »Engelke, das mit der Agnes, das kann ich nich mehr mit ansehn. Sie sitzt da jeden Morgen und strickt. Das arme Wurm muß ja hier umkommen. Und alles bloß, weil ich alter Sünder ein freundliches Gesicht sehn will. Das geht so nich mehr weiter. Wir müssen sehn, daß wir was für das Kind tun können. Haben wir denn nicht ein Buch mit Bildern drin oder so was?«

»Ja, gnädger Herr, da sind ja noch die vier Bände, die wir letzte Weihnachten bei Buchbinder Zippel in Gransee haben einbinden lassen. Eigentlich war es bloß ne ›Landwirtschaftliche Zeitung‹, und alle, die mal nen Preis gewonnen haben, die waren drin. Und Bismarck war auch drin un Kaiser Wilhelm auch.«

»Ja, ja, das is gut; das gib ihr. Und brauchst ihr auch nich zu sagen, daß sie keine Eselsohren machen soll; die macht keine.«

Wirklich, die »Landwirtschaftliche Zeitung« lag am andern Morgen da, und Agnes war sehr glücklich, mal was andres zu haben als ihr Strickzeug, und die schönen Bilder ansehn zu können. Denn es waren auch Schlösser drin und kleine Teiche, drauf Schwäne fuhren, und auf einem Bilde, das eine Beilage war, waren sogar Husaren. Engelke brachte jeden Morgen einen neuen Band, und mal erschien auch Elfriede, die Lorenzen, um nach Dubslavs Befinden fragen zu lassen, von der Pfarre herübergeschickt hatte. »Die kann sich ja die Bilder mit ansehen,« sagte Dubslav; »am Ende macht es ihr selber auch Spaß, und vielleicht kann sie dem kleinen Ding, der Agnes, alles so nebenher erklären, und dann is es so gut wie ne Schulstunde.«

Elfriede war gleich dazu bereit. Und nun standen die beiden Kinder nebeneinander und blätterten in dem Buch, und die Kleine sog jedes Wort ein, was die Große sagte. Dubslav aber hörte zu und wußte nicht, wem von beiden er ein größeres Interesse zuwenden sollte. Zuletzt aber war es doch wohl Elfriede, weil sie den wehmütigen Zauber all derer hatte, die früh abberufen werden. Ihr zarter, beinahe körperloser Leib schien zu sagen: »Ich sterbe.« Aber ihre Seele wußte nichts davon; die leuchtete und sagte: »Ich lebe.«

Das mit den Bilderbüchern dauerte mehrere Tage. Dann sagte Dubslav: »Engelke, das Kind fängt heute schon wieder von vorn an; es ist mit allen vier Bänden, so dick sie sind, schon zweimal durch; ich sehe, wir müssen uns was Neues ausbaldowern. Das is nämlich ein Wort aus der Diebssprache; soweit sind wir nu schon. Übrigens ist mir was Gutes eingefallen: hol ihr eine von unsern Wetterfahnen herunter. Die stehn ja da bloß so rum, un wenn ich tot bin und alles abgeschätzt wird – was sie ›ordnen‹ nennen –, dann kommt Kupperschmied Reuter aus Gransee und taxiert es auf fünfundsiebzig Pfennig.«

»Aber, gnädger Herr, uns' Woldemar …«

»Nu ja, Woldemar. Woldemar ist gut, natürlich, und die Komtesse, seine junge Frau, is auch gut. Alles is gut, und ich hab es auch nicht so schlimm gemeint; man red't bloß so. Nur soviel is richtig: meine Sammlung oben is für Spinnweb und weiter nichts. Alles Sammeln ist überhaupt verrückt, und wenn Woldemar sich nich mehr drum kümmert, so is es eigentlich bloß Wiederherstellung von Sinn und Verstand. Jeder hat seinen Sparren, und ich habe meinen gehabt. Bring aber nich gleich alles runter. Nur die Mühle bring und den Dragoner.«

Engelke gehorchte.

Den ersten Tag, wie sich denken läßt, war Agnes ganz für den Dragoner, der, als man ihn vor Jahr und Tag von seinem Zelliner Kirchturm heruntergeholt hatte, frisch aufgepinselt worden war: schwarzer Hut, blauer Rock, gelbe Hosen. Aber sehr bald hatte sich das Kind an der Buntheit des Dragoners sattgesehen, und nun kam statt seiner die Mühle an die Reihe. Die hielt länger vor. Meistens – wenn sie nur überhaupt erst im Gange war – brauchte das Kind bloß zu pusten, um die Mühlflügel in ziemlich rascher Bewegung zu halten, und der schnarrende Ton der etwas eingerosteten Drehvorrichtung war dann jedesmal eine Lust und ein Entzücken. Es waren glückliche Tage für Agnes. Aber fast noch glücklichere für den Alten.

Ja, der alte Dubslav freute sich des Kindes. Aber so wohltuend ihm seine Gegenwart war, so war es auf die Dauer doch nicht viel was andres, als ob ein Goldlack am Fenster gestanden oder ein Zeisig gezwitschert hätte. Sein Auge richtete sich gerne darauf; als aber eine Woche und dann eine zweite vorüber war, wurd ihm eine gewisse Verarmung fühlbar, und das so stark, daß er fast mit Sehnsucht an die Tage zurückdachte, wo Schwester Adelheid sich ihm bedrücklich gemacht hatte. Das war sehr unbequem gewesen, aber sie besaß doch nebenher einen guten Verstand, und in allem, was sie sagte, war etwas, worüber sich streiten und ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen abbrennen ließ. Etwas, was ihm immer eine Hauptsache war. Dubslav zählte zu den Friedliebendsten von der Welt, aber er liebte doch andrerseits auch Friktionen, und selbst ärgerliche Vorkommnisse waren ihm immer noch lieber als gar keine.

Kein Zweifel, der alte Schloßherr auf Stechlin sehnte sich nach Menschen, und da waren es denn wahre Festtage, wenn Besucher aus Näh oder Ferne sich einstellten.

Eines Tages – es schummerte schon – erschien Krippenstapel. Er hatte seinen besten Rock angezogen und hielt ein übermaltes Gefäß, mit einem Deckel darauf, in seinem linken Arm.

»Nun, das ist recht, Krippenstapel. Ich freue mich, daß Sie mal nachsehn, ob unser Museum oben noch seinen ›Chef‹ hat. Ich sage ›Chef‹. Der Direktor sind Sie ja selber. Und nun kommen Sie auch gleich noch mit ner Urne. Hat gewiß Ihr Freund Tucheband irgendwo ausgegraben. Oder is es bloß ne Terrine? Himmelwetter, Krippenstapel, Sie werden mir doch nich ne Krankensuppe gekocht haben?«

»Nein, Herr Major, keine Krankensuppe. Gewiß nicht. Und doch is es einigermaßen so was. Es ist nämlich ne Wabe. Habe da heute mittag einen von meinen Stöcken ausgenommen und wollte mir erlaubt haben, Ihnen die beste Wabe zu bringen. Es ist beinah so was wie der mittelalterliche Zehnte. Der Zehnte, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, war eigentlich was Feineres als Geld.«

 

»Find ich auch. Aber die heutige Menschheit hat für so was Feines gar keinen Sinn mehr. Immer alles bar und nochmal bar. O, das gemeine Geld! Das heißt, wenn man keins hat; wenn man's hat, ist es soweit ganz gut. Und daß Sie gleich an Ihren alten Patron – ein Wort, das übrigens vielleicht zu hoch gegriffen ist und unser Verhältnis nicht recht ausdrückt – gedacht haben! Lorenzen wird es hoffentlich nicht übelnehmen, daß ich Sie, wenn ich mich Ihren ›Patron‹ nenne, so gleichsam avancieren lasse. Ja, das mit der Wabe. Freut mich aufrichtig. Aber ich werde mich wohl nicht drüberher machen dürfen. Immer heißt es: ›das nicht‹. Erst hat mir Sponholz alles verboten und nu die Buschen, und so leb ich eigentlich bloß noch von Bärlapp und Katzenpfötchen.«

»Am Ende geht es doch,« sagte Krippenstapel. »Ich weiß wohl, in eine richtige Kur darf der Laie nicht eingreifen. Aber der Honig macht vielleicht ne Ausnahme. Richtiger Honig ist wie gute Medizin und hat die ganze Heilkraft der Natur.«

»Is denn aber nicht auch was drin, was besser fehlte?«

»Nein, Herr Major. Ich sehe die Bienen oft schwärmen und sammeln, und seh auch, wie sie sammeln und wo sie sammeln. Da sind voran die Linden und Akazien und das Heidekraut. Nu, die sind die reine Unschuld; davon red ich gar nicht erst. Aber nun sollten Sie die Biene sehn, wenn sie sich auf eine giftige Blume, sagen wir zum Beispiel auf den Venuswagen, niederläßt. Und in jedem Venuswagen, besonders in dem roten (aber doch auch in dem blauen), sitzt viel Gift.«

»Venuswagen; kann ich mir denken. Und wie sammelt da die Biene?«

»Sie nimmt nie das Gift, sie nimmt immer bloß die Heilkraft.«

»Na, Sie müssen es wissen, Krippenstapel. Und auf Ihre Verantwortung hin will ich mir den Honig auch schmecken lassen, und die Buschen muß sich drin finden und sich wohl oder übel zufrieden geben. Übrigens fällt mir bei der Alten natürlich auch das Kind ein. Da sitzt es am Fenster. Na, komm mal her, Agnes, und sage, daß du hier auch was lernst. Ich hab ihr nämlich Bücher gegeben, mit allerlei Bildern drin, und seit vorgestern auch eine Götterlehre, das heißt aber noch eine aus guter, anständiger Zeit und jeder Gott ordentlich angezogen. Und da lernt sie, glaub ich, ganz gut. Nicht wahr, Agnes?«

Agnes knickste und ging wieder auf ihren Platz.

»Und dann hab ich dem Kind auch unsern Dragoner und die Mühle gegeben. Also unsre besten Stücke, soviel ist richtig. Ich denke mir aber, mein Museumsdirektor wird über diesen Eingriff nicht böse sein. Eigentlich is es doch besser, das Kind hat was davon als die Spinnen. Und was macht denn Ihr Oberlehrer in Templin? Hat er wieder was gefunden?«

»Ja, Herr Major. Münzenfund.«

»Na, das is immer das beste. Vermutlich Georgstaler oder so was; Dreißigjähriger Krieg. Es war ja ne gräßliche Zeit. Aber daß sie damals aus Angst und Not soviel verbuddelt haben, das is doch auch wieder ein Segen. Is es denn viel?«

»Wie man's nehmen will, Herr Major; praktisch und profan angesehen ist es nicht viel, aber wissenschaftlich angesehen ist es allerdings viel. Nämlich drei römische Münzen, zwei von Diokletian und eine von Caracalla.«

»Na, die passen wenigstens. Diokletian war ja wohl der mit der Christenverfolgung. Aber ich glaube, es war am Ende nicht so schlimm. Verfolgt wird immer. Und mitunter sind die Verfolgten obenauf.«

Dabei lachte der Alte. Dann rief er Engelke, daß er den Honig herausnehme. Krippenstapel aber verabschiedete sich, seine leere Terrine vorsichtig im Arm.

Einundvierzigstes Kapitel

Dubslav hatte sich über Krippenstapels Besuch und sein Geschenk aufrichtig gefreut, weil es ja das Beste war, was ihm die alte treue Seele bringen konnte. Er bestand denn auch darauf (trotzdem Engelke, der ein Vorurteil gegen alles Süße hatte, dagegen war), daß ihm die Wabe jeden Morgen auf den Frühstückstisch gestellt werde.

»Siehst du, Engelke,« sagte er nach einer Woche, »daß ich mich wieder wohler fühle, das macht die Wabe. Denn man muß jedes Fisselchen mitessen, Wachs und alles, das hat er mir eigens gesagt. Das is grad so wie beim Apfel die Schale; die hat die Natur so gewollt und is ein Fingerzeig und muß respektiert werden.«

»Ich bin aber doch für abschälen,« sagte Engelke. »Wenn man so sieht, was mitunter alles dran ist …«

»Ja, Engelke, ich weiß nicht, du bist jetzt so fein geworden. Aber ich bin noch ganz altmodisch. Und dann glaub ich nebenher wirklich, daß in dem Wachs die richtige ›gesamte Heilkraft der Natur‹ steckt, fast noch mehr als in dem Honig. Krippenstapel übrigens is jetzt auch so furchtbar gebildet und hat so viele feine Wendungen, wie zum Beispiel die mit der ›gesamten Heilkraft‹. Aber so fein wie du is er doch noch lange nicht, darauf will ich mich verschwören. Und auch darauf, daß er sich keine Birne schält.«

In dieser guten Laune verblieb Dubslav eine ganze Weile, sich mehr und mehr zurechtlegend, daß er sich die Quälerei mit all dem andern Zeug eigentlich hätte sparen können; »denn wenn alles drin ist, so ist doch auch Bärlapp und Katzenpfötchen drin und natürlich auch Fingerhut oder wie Sponholz sagt: ›Die Digitalis.‹« Engelke freilich wollte von diesen Sophistereien nichts wissen; sein Herr aber ließ sich durch solche Zweifel nicht stören und fuhr vielmehr fort: »Und dann, Engelke, macht es doch auch einen Unterschied, von wem eine Sache kommt. Die Katzenpfötchen kommen von der Buschen, und die Wabe kommt von Krippenstapel. Das heißt also, hinter der Wabe steht ein guter Geist, und hinter den Katzenpfötchen steht ein böser Geist. Und das kannst du mir glauben, an solchen Rätselhaftigkeiten liegt sehr viel im Leben, und wenn mir Lorenzen seine Patsche gibt, so ist das ganz was anders, wie wenn mir Koseleger seine Hand gibt. Koseleger hat solche weichen Finger und auf dem vierten einen großen Ring.«

»Aber er is doch ein Superintendent.«

»Ja, Superintendent is er. Und er kommt auch noch höher. Und wenn es nach der Prinzessin geht, wird er Papst. Und dann wollen wir uns Ablaß bei ihm holen; aber viel geb ich nicht.«

Als Dubslav und Engelke dies Gespräch führten, saß Agnes wie gewöhnlich am Fenster, mit halbem Ohre hinhörend, und so wenig sie davon verstand, so verstand sie doch gerade genug. Krippenstapel war ein guter Geist und ihre Großmutter war ein böser Geist. Aber das alles war ihr nicht mehr, als ob ihr ein Märchen erzählt würde. Sie hatte schon so vieles in ihrem Leben gehört und war wohl dazu bestimmt, noch viel, viel andres zu hören. Ihr Gesichtsausdruck blieb denn auch derselbe. Sie träumte bloß so hin, und daß sie dies Wesen hatte, das war es recht eigentlich, was den alten Herrn so an sie fesselte. Das Auge, womit sie die Menschen ansah, war anders als das der andern.

Engelke hatte sich in die nebenan gelegene Dienststube zurückgezogen; ein heller Schein fiel von der Veranda her durch die Balkontür und gab dem etwas dunklen Zimmer mehr Licht, als es für gewöhnlich zu haben pflegte. Dubslav hielt die Kreuzzeitung in Händen und schlug nach einem Brummer, der ihn immer und immer wieder umsummte. »Verdammte Bestie,« und er holte von neuem aus. Aber ehe er zuschlagen konnte, kam Engelke und fragte, ob Uncke den gnädigen Herrn sprechen dürfe.

»Uncke, unser alter Uncke?«

»Ja, gnädger Herr.«

»Na, natürlich. Kriegt man doch mal wieder nen vernünftigen Menschen zu sehn. Was er nur bringen mag? Vielleicht Verhaftung irgendwo: Demokratennest ausgenommen.«

Agnes horchte. Verhaftung! Demokratennest ausgenommen! Das war doch noch besser als ein Märchen »vom guten und bösen Geist«.

Inzwischen war Uncke eingetreten, Backenbart und Schnurrbart, wie gewöhnlich, fest angeklebt. In der Nähe der Tür blieb er stehen und grüßte militärisch. Dubslav aber rief ihm zu: »Nein, Uncke, nicht da. So weit reicht mein Ohr nicht und meine Stimme erst recht nicht. Und ich denke doch, Sie bringen was. Was Reguläres. Also ran hier. Und wenn es nicht was ganz Dienstliches is, so nehmen Sie den Stuhl da.«

Uncke trat auch näher, nahm aber keinen Stuhl und sagte: »Herr Major wollen entschuldigen. Ich komme so bloß … Der alte Baruch Hirschfeld hat mir erzählt, und die alte Buschen hat mir erzählt …«

»Ach so, von wegen meiner Füße.«

»Zu Befehl, Herr Major.«

»Ja, Uncke, wollte Gott, es stünde besser. Immer denk ich, wenn wieder ein Neuer kommt, ›nu wird es‹. Aber es will nicht mehr; es hilft immer bloß drei Tage. Die Buschen hilft nicht mehr, und Krippenstapel hilft nicht mehr, und Sponholz hilft schon lange nicht mehr; der kutschiert so in der Welt rum. Bleibt also bloß noch der liebe Gott.«

Uncke begleitete dies Wort mit einer Kopfbewegung, die seine respektvolle Stellung (aber doch auch nicht mehr) zum lieben Gott ausdrücken sollte. Dubslav sah es und erheiterte sich. Dann fuhr er in rasch wachsender guter Laune fort: »Ja, Uncke, wir haben so manchen Tag miteinander gelebt. Denke gern daran zurück – sind noch einer von den Alten. Und der Pyterke auch. Was macht er denn?«

»Ah, Herr Major, immer noch tüchtig da; schneidig,« und dabei rückte er sich selbst zurecht, wie wenn er die überlegene Stattlichkeit seines Kollegen wenigstens andeuten wolle.

Dubslav verstand es auch so und sagte: »Ja, der Pyterke; natürlich immer hoch zu Roß. Und Sie, Uncke, ja, Sie müssen laufen wie 'n Landbriefträger. Es hat aber auch sein Gutes; zu Fuß macht geschmeidig, zu Pferde macht steif. Und macht auch faul. Und überhaupt, Gebrüder Beeneke is schon immer das Beste. Da kann man nicht zu Fall kommen. Aber jeder will heutzutage hoch raus. Das is, was sie jetzt die ›Signatur der Zeit‹ nennen. Haben Sie den Ausdruck schon gehört, Uncke?«

»Zu Befehl, Herr Major.«

»Und die Sozialdemokratie will auch hoch raus und so zu Pferde sitzen wie Pyterke, bloß noch viel höher. Aber das geht nicht gleich so. Gut Ding will Weile haben. Und Torgelow, wenn er auch vielleicht reden kann, reiten kann er noch lange nicht. Sagen Sie, was macht er denn eigentlich? Ich meine Torgelow. Sind denn unsre kleinen Leute jetzt mehr zufrieden mit ihm?«

»Nein, Herr Major, sie sind immer noch nicht zufrieden mit ihm. Er wollte da neulich in Berlin reden und hat auch wirklich was zu Graf Posadowsky gesagt. Und das is so dumm gewesen, daß es die andern geniert hat. Und da haben sie ihn bedeutet: ›Torgelow, nu bist du still; so geht das hier nich.‹«

»Ja,« lachte Dubslav, »und wo der nu steht, da sollte ich eigentlich stehen. Aber es is doch besser so. Nu kann Torgelow zeigen, daß er nichts kann. Und die andern auch. Und wenn sie's alle gezeigt haben, na, dann sind wir vielleicht wieder dran und kommen noch mal oben auf, und jeder kriegt Zulage. Sie auch, Uncke, und Pyterke natürlich auch.«

Uncke schmunzelte und legte seine zwei Dienstfinger an die Schläfe.

»… Vorläufig aber müssen wir abwarten und den sogenannten ›Ausbruch‹ verhüten und dafür sorgen, daß unsere Globsower zufrieden sind. Und wenn wir klug sind, glückt es vielleicht auch. Glauben Sie nicht auch, Uncke, daß es kleine Mittel gibt?«

»Zu Befehl, Herr Major, kleine Mittel gibt es. Es hat's schon.«

»Und welche meinen Sie?«

»Musik, Herr Major, und verlängerte Polizeistunde.«

»Ja,« lachte Dubslav, »so was hilft. Musik und nen Schottschen, dann sind die Mädchen zufrieden.«

»Und,« bestätigte Uncke, »wenn die Mädchens zufrieden sind, Herr Major, dann sind alle zufrieden.«

Uncke hatte zusagen müssen, mal wieder vorzusprechen, aber es kam nicht dazu, weil Dubslavs Zustand sich rasch verschlimmerte. Von Besuchern wurde keiner mehr angenommen, und nur Lorenzen hatte Zutritt. Aber er kam meist nur, wenn er gerufen wurde.

»Sonderbar,« sagte der Alte, während er in den Frühlingstag hinausblickte, »dieser Lorenzen is eigentlich gar kein richtiger Pastor. Er spricht nicht von Erlösung und auch nicht von Unsterblichkeit, und is beinah, als ob ihm so was für alltags wie zu schade sei. Vielleicht is es aber auch noch was andres, und er weiß am Ende selber nicht viel davon. Anfangs hab ich mich darüber gewundert, weil ich mir immer sagte: Ja, solch Talar- und Beffchenmann, der muß es doch schließlich wissen; er hat so seine drei Jahre studiert und eine Probepredigt gehalten, und ein Konsistorialrat oder wohl gar ein Generalsuperintendent hat ihn eingesegnet und ihm und noch ein paar andern gesagt: ›Nun gehet hin und lehret alle Heiden.‹ Und wenn man das so hört, ja, da verlangt man denn auch, daß einer weiß, wie's mit einem steht. Is gerade wie mit den Doktors. Aber zuletzt begibt man sich und hat die Doktors am liebsten, die einem ehrlich sagen: ›Hören Sie, wir wissen es auch nicht, wir müssen es abwarten.‹ Der gute Sponholz, der nun wohl schon an der Brücke mit dem Ichthyosaurus vorbei ist, war beinah so einer, und Lorenzen is nu schon ganz gewiß so. Seit beinah zwanzig Jahren kenn ich ihn, und noch hat er mich nicht ein einziges Mal bemogelt. Und daß man das von einem sagen kann, das ist eigentlich die Hauptsache. Das andre … ja, du lieber Himmel, wo soll es am Ende herkommen? Auf dem Sinai hat nun schon lange keiner mehr gestanden, und wenn auch, was der liebe Gott da oben gesagt hat, das schließt eigentlich auch keine großen Rätsel auf. Es ist alles sehr diesseitig geblieben; du sollst, du sollst, und noch öfter ›du sollst nicht‹. Und klingt eigentlich alles, wie wenn ein Nürnberger Schultheiß gesprochen hätte.«

 

Gleich danach kam Engelke und brachte die Mittagspost. »Engelke, du könntest mal wieder die Marie zu Lorenzen rüberschicken – ich ließ' ihn bitten.«

Lorenzen kam denn auch und rückte seinen Stuhl an des Alten Seite.

»Das ist recht, Pastor, daß Sie gleich gekommen sind, und ich sehe wieder, wie sich alles Gute schon gleich hier unten belohnt. Sie müssen nämlich wissen, daß ich mich heute schon ganz eingehend mit Ihnen beschäftigt und Ihr Charakterbild, das ja auch schwankt wie so manch andres, nach Möglichkeit festgestellt habe. Würde mir das Sprechen wegen meines Asthmas nicht einigermaßen schwer, ich wär imstande, gegen mich selber in eine Art Indiskretion zu verfallen und Ihnen auszuplaudern, was ich über Sie gedacht habe. Habe ja, wie Sie wissen, ne natürliche Neigung zum Ausplaudern, zum Plaudern überhaupt, und Kortschädel, der sich im übrigen durch französische Vokabeln nicht auszeichnete, hat mich sogar einmal einen ›Causeur‹ genannt. Aber freilich schon lange her, und jetzt ist es damit total vorbei. Zuletzt stirbt selbst die alte Kindermuhme in einem aus.«

»Glaub ich nicht. Wenigstens Sie, Herr von Stechlin, sorgen für den Ausnahmefall.«

»Ich will es gelten lassen und mich auch gleich legitimieren. Haben Sie denn in Ihrer Zeitung gelesen, wie sie da neulich wieder dem armen Bennigsen zugesetzt haben? Mir mißfällt es, wiewohl Bennigsen nicht gerade mein Mann ist.«

»Auch meiner nicht. Aber, er sei, wie er sei, er ist doch ein Excelsior-Mann. Und wer hierlandes für ein freudiges ›excelsior‹ ist, der ist bei den Ostelbiern (Pardon, Sie gehören ja selbst mit dazu) von vornherein verdächtig und ein Gegenstand tiefen Mißtrauens. Jedes höher gesteckte Ziel, jedes Wollen, das über den Kartoffelsack hinausgeht, findet kein Verständnis, sicherlich keinen Glauben. Und bringt einer irgendein Opfer, so heißt es bloß, daß er die Wurst nach der Speckseite werfe.«

Dubslav lachte. »Lorenzen, Sie sitzen wieder auf Ihrem Steckenpferd. Aber ich selber bin freilich schuld. Warum kam ich auf Bennigsen! Da war das Thema gegeben, und Ihr Ritt ins Bebelsche (denn weitab davon sind Sie nicht) konnte beginnen. Aber daß Sie's wissen, ich hab auch mein Steckenpferd, und das heißt: König und Kronprinz oder alte Zeit und neue Zeit. Und darüber hab ich seit lange mit Ihnen sprechen wollen, nicht akademisch, sondern märkisch-praktisch, so recht mit Rücksicht auf meine nächste Zukunft. Denn es heißt nachgrade bei mir: ›Was du tun willst, tue bald.‹«

Lorenzen nahm des Alten Hand und sagte: »Gewiß kommen andre Zeiten. Aber man muß mit der Frage, was kommt und was wird, nicht zu früh anfangen. Ich seh nicht ein, warum unser alter König von Thule hier nicht noch lange regieren sollte. Seinen letzten Trunk zu tun und den Becher dann in den Stechlin zu werfen, damit hat es noch gute Wege.«

»Nein, Lorenzen, es dauert nicht mehr lange; die Zeichen sind da, mehr als zuviel. Und damit alles klappt und paßt, geh ich nun auch gerad ins Siebenundsechzigste, und wenn ein richtiger Stechlin ins Siebenundsechzigste geht, dann geht er auch in Tod und Grab. Das is so Familientradition. Ich wollte, wir hätten eine andre. Denn der Mensch is nun mal feige und will dies schändliche Leben gern weiterleben.«

»Schändliches Leben! Herr von Stechlin, Sie haben ein sehr gutes Leben gehabt.«

»Na, wenn es nur wahr ist! Ich weiß nicht, ob alle Globsower ebenso denken. Und die bringen mich wieder auf mein Hauptthema.«

»Und das lautet?«

»Das lautet: ›Teuerster Pastor, sorgen Sie dafür, daß die Globsower nicht zu sehr obenauf kommen.‹«

»Aber, Herr von Stechlin, die armen Leute …«

»Sagen Sie das nicht. Die armen Leute! Das war mal richtig; heutzutage aber paßt es nicht mehr. Und solch unsichere Passagiere wie mein Woldemar und wie mein lieber Lorenzen (von dem der Junge, Pardon, all den Unsinn hat), solche unsichere Passagiere, statt den Riegel vorzuschieben, kommen den Torgelowschen auf halbem Wege entgegen und sagen: ›Ja, ja, Töffel, du hast auch eigentlich ganz recht,‹ oder, was noch schlimmer ist: ›Ja, ja, Jochem, wir wollen mal nachschlagen.‹«

»Aber, Herr von Stechlin.«

»Ja, Lorenzen, wenn Sie auch noch solch gutes Gesicht machen, es ist doch so. Die ganze Geschichte wird auf einen andern Leisten gebracht, und wenn dann wieder eine Wahl ist, dann fährt der Woldemar rum und erzählt überall, Katzenstein sei der rechte Mann. Oder irgendein andrer. Aber das ist Mus wie Mine; – verzeihen Sie den etwas fortgeschrittenen Ausdruck. Und wenn dann die junge gnädige Frau Besuch kriegt oder wohl gar einen Ball gibt, da will ich Ihnen ganz genau sagen, wer dann hier in diesem alten Kasten, der dann aber renoviert sein wird, antritt. Da ist in erster Reihe der Minister von Ritzenberg geladen, der, wegen Kaltstellung unter Bismarck, von langer Hand her eine wahre Wut auf den alten Sachsenwalder hat, und eröffnet die Polonaise mit Armgard. Und dann ist da ein Professor, Kathedersozialist, von dem kein Mensch weiß, ob er die Gesellschaft einrenken oder aus den Fugen bringen will, und führt eine Adelige, mit kurzgeschnittenem Haar (die natürlich schriftstellert), zur Quadrille. Und dann bewegen sich da noch ein Afrikareisender, ein Architekt und ein Porträtmaler, und wenn sie nach den ersten Tänzen eine Pause machen, dann stellen sie ein lebendes Bild, wo ein Wilddieb von einem Edelmann erschossen wird, oder sie führen ein französisches Stück auf, das die Dame mit dem kurzgeschnittenen Haar übersetzt hat, ein sogenanntes Ehebruchsdrama, drin eine Advokatenfrau gefeiert wird, weil sie ihren Mann mit einem Taschenrevolver über den Haufen geschossen hat. Und dann gibt es Musikstücke, bei denen der Klavierspieler mit seiner langen Mähne über die Tasten hinfegt, und in einer Nebenstube sitzen andere und blättern in einem Album mit lauter Berühmtheiten, obenan natürlich der alte Wilhelm und Kaiser Friedrich und Bismarck und Moltke, und ganz gemütlich dazwischen Mazzini und Garibaldi, und Marx und Lassalle, die aber wenigstens tot sind, und daneben Bebel und Liebknecht. Und dann sagt Woldemar: ›Sehen Sie da den Bebel. Mein politischer Gegner, aber ein Mann von Gesinnung und Intelligenz.‹ Und wenn dann ein Adeliger aus der Residenz an ihn herantritt und ihm sagt: ›Ich bin überrascht, Herr von Stechlin, – ich glaubte den Grafen Schwerin hier zu finden,‹ dann sagt Woldemar: ›Ich habe die Fühlung mit diesem Herrn verloren.‹«

Der Pastor lachte. »Und Sie wollen sterben. Wer so lange sprechen kann, der lebt noch zehn Jahr.«

»Nichts, nichts. Ich halte Sie fest. Kommt es so oder kommt es nicht so?«

»Nun, es kommt sicherlich nicht so.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Ganz sicher.«

»Dann sagen Sie mir, wie es kommt, aber ehrlich.«

»Nun, das kann ich leicht, und Sie haben mir selber den Weg gewiesen, als Sie gleich anfangs von ›König und Kronprinz‹ sprachen. Dieser Gegensatz existiert natürlich überall und in allen Lebensverhältnissen. Es kommen eben immer Tage, wo die Leute nach irgendeinem ›Kronprinzen‹ aussehn. Aber so gewiß das richtig ist, noch richtiger ist das andre: der Kronprinz, nach dem ausgeschaut wurde, hält nie das, was man von ihm erwartete. Manchmal kippt er gleich um und erklärt in plötzlich erwachter Pietät, im Sinne des Hochseligen weiterregieren zu wollen; in der Regel aber macht er einen leidlich ehrlichen Versuch, als Neugestalter aufzutreten, und holt ein Volksbeglückungsprogramm auch wirklich aus der Tasche. Nur nicht auf lange. ›Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch eng im Raume stoßen sich die Sachen.‹ Und nach einem halben Jahre lenkt der Neuerer wieder in alte Bahnen und Geleise ein.«