„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein

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Opa sah mich fragend an. „Was meinst du mit Lügner?“

„Na ja, du hast doch gesehen, dass Oma in ein tiefes Loch gekommen ist und nicht in den Himmel.“

„Das stimmt natürlich, meine Kleine. Jeder Mensch hat eine Seele, und die fliegt zum Himmel, sobald man gestorben ist.“

„Ach, so ist das, Opa, das konnte ich ja nicht wissen.“

„Habt ihr das nicht im Konfirmandenunterricht durchgenommen?“

Ich war auf diese Frage nicht vorbereitet und stotterte, bis ich die richtigen Worte fand. „So weit sind wir noch nicht“, sagte ich lässig. „Wir sind erst bei Jesus Christus, du weißt schon, der mit dem Kreuz.“

Opa meinte, dann würde ich das mit den Seelen und dem Himmel auch noch lernen.

„Ja ganz bestimmt“, erwiderte ich und dachte: Jetzt fange ich auch noch an zu lügen.

Opa und ich beendeten unser Gespräch und freuten uns auf das, was der Heiligabend für uns bereithielt. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Dicke Schneeflocken schwebten vom Himmel und es sah aus, als ob sie tanzten. Der Schnee knirschte unter unseren Schuhsohlen, als ich Opas Hand suchte. Bei ihm fühlte ich mich geborgen. Wir liefen über den Schuhmarkt und konnten von dort aus direkt die Schuhstraße runterlaufen. Vorbei an Bäcker Valentin, wo auch heute die Planwagen der Russen standen. Menschen hasteten an uns vorüber und hinter den Fensterscheiben sahen wir Kerzen brennen. Ich fragte mich, ob an einem Fest wie Heiligabend alle Menschen glücklich waren. Die Kinder bestimmt, denn mit Geschenken konnte man sie glücklich machen.

Man schloss damals die Haustüren nicht ab, und so betraten wir den Flur. Wir schüttelten unsere Bekleidung aus, denn wir waren ganz schön eingeschneit. Opa ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Nachdem ich meinen nassen Mantel ausgezogen und ihn an der Garderobe aufgehängt hatte, schlüpfte ich in meine warmen Pantoffeln. Dann betrat ich die Küche und sagte zu Mutter, Opa und ich seien wieder da.

„Das sehe ich“, erwiderte Mutter, „und wie war es in Laden?“

Ich habe Opa beim Aufräumen geholfen. Dann kamen noch Peter, Jürgen und Horst wegen der weißen Mäuse vorbei.“

„Und sonst?“, wollte sie wissen. „War das alles?“

„Die großen Puppen sind nicht mehr da“, antwortete ich traurig.

„Die hat Opa bestimmt verkauft, viele Kinder wünschen sich zu Weihnachten so schöne Puppen. Wir müssen Geldverdienen, damit wir genug zu essen haben.“

Ich hätte auch gerne so eine Puppe gehabt und war enttäuscht, weil sich mein Wunsch vermutlich nicht erfüllen würde. „Mutti, ich habe Hunger und Durst!“, quengelte ich. „Opa bestimmt auch.“

„Hast du dir die Hände gewaschen?“ Mutter besah sich meine Hände. „Offenbar nicht. Hier ist Seife!“

Ich wusch mir die Hände über dem Becken und dachte: Immer das blöde Waschen!

Im nächsten Moment sagte Mutter: „Geh und hol Opa Max, ihr könnt den Kuchen probieren. Du kannst durch mein Zimmer gehen.“

Au fein, es gab Kuchen! Ich rannte durch Mutters Zimmer, die Durchgangstür war ausnahmsweise nicht abgeschlossen. Ich klopfte und rief: „Opa, mach auf, es gibt Kaffee und Kuchen für uns!“

„Sehr schön“, hörte ich ihn antworten. „Ich komme!“

„Es gab Streuselkuchen und Abgeriebenen, den Opa am liebsten aß. Auch mir lief beim Anblick das Wasser im Munde zusammen. Opa war der Meinung, dass dem Bäcker Valentin der Kuchen in diesem Jahr besonders gut gelungen war.

„Ach, Vater“, entgegnete Mutter, „der Bäcker braucht doch bloß unsere Bleche in seinen Backofen zu schieben. Und das Backen ist ja nun wirklich keine Kunst. Dieses Mal hatte ich ja richtige Eier zur Verfügung und kein Eipulver, das den Teig gelb färbt. Und die Butter ist natürlich etwas ganz Besonderes dank deiner Tauschgeschäfte über Land.“

Ich verschlang den Kuchen förmlich mit den Augen, weil es ihn viel zu selten gab. Als ich den ersten Bissen nahm, schmeckte es einfach traumhaft. Nach einer Weile fragte ich Mutter, ob ich noch ein Stück haben dürfe.

„Du hast schon drei Stück gegessen!“, begann sie, doch dann erlaubte sie mir, ein weiteres Stück zu nehmen.

„Danke, Mutti.“

Opa tunkte den Kuchen in seinen Kaffee – mittlerweile war das schon so eine Art Ritual. Ich konnte mal wieder die Klappe nicht halten und sagte zu Opa: „Den Kuchen kannst du auch ohne Zähne essen, den brauchst du nicht einzutunken. Mutter muss ihren vorderen Zahn auch immer rausnehmen.“

Opa sah Mutter erstaunt an. „Wieso, Anna, fehlt dir vorne etwa ein Zahn?“

„So ein Quatsch!“, protestierte sie. „Wo fehlt mir ein Zahn?“ Sie zeigte ihre Zähne, es waren alle da. „Doris, deinen alten Opa so zu veräppeln, macht dir wohl Spaß!“ Am liebsten hätte mich Mutter wohl mit ihren Blicken aufgefressen. Ich schämte mich, weil ich meinen Eid gebrochen hatte.

Opa setzte sich ans Fenster und rauchte genussvoll seine Pfeife. Sie war sehr lang und hatte einen bemalten Pfeifenkopf. Inzwischen legte Mutter ein weißes Damast-Tischtuch und passende Servietten auf den Küchentisch. Dann holte sie das schöne Geschirr mit dem Goldrand herauf und bat mich, ihr beim Aufdecken zu helfen. Sie zeigte mir, wie man die einzelnen Teile richtig platzierte, und ich lernte, dass die Schneide eines Messers immer nach innen gehörte. Mutter hätte all dies angeblich im „Bad Luisenhotel“ in Bad Reichenhall gelernt. Als wir fertig waren, schickte sie mich in mein Zimmer. „Zieh dich schon mal aus, damit ich dich waschen kann.“

„Aber Mutter, ich habe mich doch heute Morgen gründlich gewaschen!“ Musste das denn schon wieder sein?

„Ich weiß, mein Kind, aber du bist doch völlig durchgeschwitzt.“ Um mich zu ärgern, sang Mutter wie so oft das Lied „Dorle hat ein schwarzes Ohrle“, das mich jedes Mal wütend machte. Widerstand war in diesem Fall zwecklos.

Im Zimmer war es mollig warm und der Topf mit dem angewärmten Wasser stand in der Ofenröhre. Dann traute ich meinen Augen nicht. Auf dem Sofa lag nicht nur mein Leibchen und saubere Unterwäsche, dort lag auch ein neues Kleid. Erst vor Kurzem hatte ich es im Schaufenster des Kaufhauses „Magnet“ bewundert. Es war rot-schwarz kariert, unten hatte es Rüschen. Ich stellte mich damit vor den großen Spiegel, drehte mich in alle Richtungen und fand mich todschick. Dann ging ich mit dem Kleid in die Küche, umarmte meine Mutter, was ich höchst selten tat, und sagte: „Danke, ich freue mich so über das neue Kleid!“

„Dann musst du es nur noch anprobieren und schauen, ob es dir passt.“

„Ganz bestimmt passt es mir, ich gebe es nicht mehr her! Glücklich drückte ich es an mich. Mutter, der meine Freude nicht verborgen blieb, schmunzelte. Ich ging zurück ins Zimmer und schnökerte überall herum. Mutter hatte dort einiges an Nippes stehen. Mein Blick fiel auf einige Fotos von meinem Vater in Fliegeruniform. Ich sah aus wie er, hatte dieselben blauen Augen und ebensolche blonden Haare. Traurig, dass er nicht bei mir war, küsste ich das Foto. Ich hätte so gerne einen Vater gehabt.

Das Waschen verlief heute ohne Probleme. Mutter war mir beim Anziehen behilflich, indem sie mir das Leibchen und das neue Kleid zuknöpfte. Es passte wie angegossen. Dann folgte die ungeliebte Prozedur, meine langen Zöpfe zu lösen und die Haare durchzukämmen. Wie ich es gewohnt war, ging Mutter nicht gerade zimperlich mit mir um. Ich heulte und schrie: „Aua, das ziept so doll!“

„Stell dich nicht so an!“, erwiderte sie. „Am besten wäre es, wenn du einen Kurzhaarschnitt bekommst wie Monika und Christiane, dann kannst du dir deine Haare ebenfalls selbst kämmen.

„Ich will keinen Kurzhaarschnitt, ich will meine Zöpfe behalten!“

„Dann halt auch still und heule nicht jedes Mal.“

Meine Gedanken, die ich in solchen Situationen meiner Mutter gegenüber hegte, werde ich vorerst für mich behalten.

Im Flur hörten wir Schritte und Fußtritte. Jemand befreite sich vom Schnee. Ich öffnete die Tür, sah zuerst Tante Gerda und fiel ihr um den Hals. Sie küsste mich und drückte mich an sich. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie sehr ich das doch alles vermisste. Die nassen Sachen wurden an den warmen Kachelofen gehängt, während die Schuhe im Flur stehen blieben und gegen Pantoffeln ausgetauscht wurden. Monika ging zu meiner Mutter und umarmte sie für meinen Geschmack viel zu lange. Auf einmal verspürte ich Eifersucht. Warum war Monika zu meiner Mutter so lieb? Sie sagte: „Tante Anna, wir freuen uns so auf das leckere Essen und auf die Geschenke!“

Tante Gerda sah sich um und erkundigte sich, wo Opa Max sei. „In seinem Zimmer“, antwortete ich, „er zieht sich gerade um.“

Währenddessen schielte mich Monika von der Seite an. Vermutlich bewunderte sie mein neues Kleid. „Wie findest du das Kleid?“, fragte ich sie und drehte mich einmal um die eigene Achse.

„Es sieht schön aus“, antwortete sie. „Ich hätte auch gerne mal was Neues, aber meine Mutter sagt immer, dass sie für so was kein Geld hat. Stattdessen sollen wir erst die alten Sachen auftragen.“

Endlich gesellte sich Opa zu uns. Geschniegelt und gestriegelt sah er gut aus in seinem neuen Hemd und der schicken Hose. Mutti bat uns, Platz zu nehmen, und wünschte uns einen guten Appetit. Die dicken Pferdewürstchen dampften im Kochtopf. Opa hielt ihr seinen Teller entgegen und bekam zwei Würstchen und einen ordentlichen Schlag Kartoffelsalat. Uns Kindern gab Mutter nur jeweils eine Wurst, weil wir ja noch klein waren und nicht arbeiten mussten wie die Erwachsenen. Ich schielte Mutter von der Seite an, denn ich wollte nicht verpassen, dass sie sich ihren Wachszahn rausnahm. Meine Oberlippe zuckte und ich musste es mir verkneifen, laut loszulachen. Stattdessen hielt ich mir die Hand vor den Mund. Opa hatte Probleme, die harte Wurstpelle zu zerbeißen. Kurzerhand nahm er erst die eine, dann die andere Wurst in die Hand und entfernte die Pelle.

 

An diesem Tag war es ungewöhnlich still. Kaum ein Gespräch wurde während des Essens geführt. Ich bemerkte, dass Tante Gerda kurz davor war zu weinen. Natürlich dachte sie an ihre Mutter Hertha, genauso wie ich es tat. Ich holte tief Luft, damit ich nicht weinen musste, und mein Herz holperte für einen kurzen Moment.

„So“, Opa hob sein Glas, „dann wollen wir darauf anstoßen, dass wir wieder so einen reich gedeckten Tisch haben.“ Die Erwachsenen ließen ihre Gläser aneinander klingen. Den Wein hatte Opa aus Kirschen aus unserem Garten in einem riesigen Glasballon selbst gemacht. Wir Kinder tranken unsere süße Limonade in einem Zug aus.

„Den Nachtisch gibt es später“, sagte Mutter.

Dann war es endlich so weit und unsere Herzen schlugen vor Aufregung schneller. Gemeinsam gingen wir auf den Flur und Opa fragte uns Kinder, ob wir unser Gedicht aufsagen wollten. Alle drei riefen wir: „Ja!“

„Und wer will anfangen?“

Ich stupste Monika an. „Ich fange an“, sagte sie und begann, das Gedicht „Von draußen, vom Walde komm ich her“ aufzusagen. Als ich als Nächste an der Reihe war, begann ich zu schwitzen. Monika gab mir einen Tritt auf den Fuß und alle sahen mich gespannt an. Nach kurzem Zögern fiel mir der Anfang wieder ein. „Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen …“ Schließlich war Christiane dran. Beim Aufsagen ihres Gedichts überschlug sie sich fast: „Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an …“ Sie machte ihre Sache am besten und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Alle applaudierten und im selben Moment ertönte das Glöckchen. Opa öffnete die Tür zum Wohnzimmer und das alte Grammophon spielte „Alle Jahre wieder“. Die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten und alles erstrahlte im Lichterschein. Eine im Erzgebirge gefertigte Pyramide aus Holz, die Opa Max vor dem Krieg gekauft hatte, drehte sich. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass der Weihnachtsmann viele süße Sachen aus Fondant an den Weihnachtsbaum gehängt hatte. Im nächsten Moment sahen wir Kinder die großen Gehpuppen. „Sieh mal, Mutter“, rief ich, „Opa hat sie doch nicht verkauft!“ Monika, Christiane und ich waren völlig aus dem Häuschen. Glückselig setzten wir uns unter den Baum und strahlten, weil wir so viele Geschenke bekommen hatten. Sogar ein Poesiealbum, in das unsere Freundinnen und Schulkameraden etwas hineinschreiben konnten, fanden wir unter den vielen Geschenken. Schließlich durften wir uns einige Fondantkringel vom Baum nehmen. Das war für uns etwas Besonderes, denn Süßes gab es ja nur begrenzt, weil die Zuckermarken für andere Nahrungsmittel benötigt wurden.

„Tante Anna, schau, was ich für einen schönen Rock und Pullover vom Weihnachtsmann bekommen habe!“ Monika stand mit ihren neuen Sachen vor meiner Mutter und strahlte vor Glück.

„Das ist aber sehr lieb vom Weihnachtsmann!“, erwiderte meine Mutter. „Ich würde die schönen Sachen gleich mal anprobieren.“ Im Nu hatte Monika sich ausgezogen und meine Mutti half ihr, den Pullover über den Kopf zu ziehen.

„Der gefällt mir ganz toll!“, schwärmte Monika. „Darf ich den anbehalten?“

„Natürlich, mein Kind.“

Es gab so viel auszupacken, dementsprechend glühten unsere Gesichter. Auch Christiane bekam warme Kleidung, doch noch mehr freute sie sich über das Schaukelpferd und die Puppe, die sie an die Hand nahm, um mit ihr umherzuspazieren. Die Erwachsenen saßen am Tisch, tauschten kleine Überraschungen aus und prosteten sich mit dem Wein zu.

„Wer möchte jetzt Mohnpielen essen?“, fragte meine Mutter in die Runde.

„Wir alle!“ hörte ich mein vorlautes Mundwerk sagen. Wenig später saßen wir Kinder mit unseren Puppen am Tisch und aßen die süße Nachspeise.

Die Luft im Zimmer wurde unerträglich. Opa hatte Zigarren bekommen und qualmte wie eine alte Dampflok. Die Kippen im Aschenbecher wurden immer mehr. Mutters Vorrat an Zigaretten schien auch heute nicht auszugehen. Endlich wurde das Fenster geöffnet und ich sah hinüber zum Haus meiner Freundin Irmgart. Deren Wohnzimmer war hell erleuchtet und ich fragte mich, wie sie und ihre Familie den Heiligabend verbrachten. Am liebsten wäre ich rübergegangen und hätte ihr meine Geschenke gezeigt.

Inzwischen war es spät geworden. Lust, ins Bett zu gehen, hatten Monika, Christiane und ich nicht, dazu waren wir viel zu aufgedreht. Nun ergriff Opa das Wort: „Normalerweise gehen wir an Heiligabend immer zur Mitternachtsmesse. Ich bin der Ansicht, dass wir das in diesem Jahr aufgrund der Umstände nicht machen sollten, schließlich ist alles schon traurig genug.“

„Ja, Vater“, sagte Tante Gerda und nickte. „Für diese Entscheidung bin ich dir sehr dankbar.“ Sie wandte sich Monika und Christiane zu. „Also los, Kinder, wir gehen dann mal nach Hause. Sammelt eure Geschenke ein, das Schaukelpferd nehmen wir ein anderes Mal mit. Morgen früh sind wir ja wieder hier. Ich darf gar nicht daran denken, was das für ein Chaos geben wird.“ Mit Blick auf meine Mutter sagte sie: „Anna, ich frage mich, wo wir alle sitzen werden. In der großen Wohnung war das mit so vielen Leuten kein Problem, aber hier?“

Opa winkte ab. „Ach, Gerda, das werden wir schon hinbekommen. Raum ist bekanntlich in der kleinsten Hütte!“

„Also dann bis morgen“, sagte Mutter. „Christiane, setz deine Pudelmütze auf und haltet draußen den Schal vor euren Mund, es weht ein eisiger Wind.“

Als wir wieder unter uns waren half ich, den Tisch abzuräumen. Als ich meinte, einen günstigen Moment erwischt zu haben, fragte ich vorsichtig: „Mutti, darf ich heute Nacht bei dir schlafen?“

„Meinetwegen, weil Weihnachten ist. Ich brauchte an diesem Tag nur meine Zähne zu putzen und die Hände zu waschen. Nachdem ich mir mein Nachthemd übergestreift hatte, ging ich zu Opa, der ebenfalls im Begriff war, schlafen zu gehen, wünschte ihm eine gute Nacht und erzählte ihm, dass ich bei Mutter schlafen dürfe. Bevor ich in Mutters Zimmer hinüberging, küsste ich ihn.

Wenig später kuschelte ich mich in die warme Decke und schlief wohl sofort ein. Ich bemerkte nicht einmal mehr, dass sich Mutter zu mir legte.

Ich wurde erst wach, als der Wecker zu rappeln begann. „Doris, du kannst erst mal liegen bleiben“, sagte Mutter zu mir. „Es ist noch sehr früh. Ich hole dich, wenn es in der Küche warm ist.“ Nebenan polterte bereits Opa Max. Offenbar kratzte er mit dem Feuerhaken die Asche durch den Rost und legte Holz in den Kachelofen, um das Zimmer zu heizen. Als ich nach einer Weile aufgestanden war, war alles wie gewohnt. Mutter und ich warteten auf Opa, der auf dem Hof war und die Kaninchen fütterte. Es schneite immer noch. Gemeinsam aßen wir unser Brot, das heute, am ersten Feiertag, etwas üppiger ausfiel als an den anderen Tagen. Es gab Harzer Käse und Schmalz, das Mutter aus fettem Speck zubereitet hatte. Zu Opas Freude gab es Zuckerrübenhonig. Er und Mutter tranken Muckefuck und für mich gab es heiße Milch, die ich literweise trinken konnte.

In etwa einer Stunde würde bei uns in der Küche die Hölle los sein. Ich freute mich auf Monika und Christiane und nahm an, dass wir, bevor die übrige Verwandtschaft eintraf, bestimmt noch in den Hagen gehen würden, um Schlitten zu fahren. Mutter schob die beiden von Opa geschlachteten Kaninchen, die mit Speck gespickt in der großen Schmorpfanne lagen, in den Bratofen. Mir war auf einmal ganz komisch zumute. Ich sah die kleinen süßen Kaninchen vor mir, wie sie putzmunter im Stall herumhoppelten. Und jetzt sollten wir sie zum Mittag essen? Nein, das konnte ich nicht! Ich hatte Mutter angeboten, ihr zu helfen, doch sie hatte mit der Begründung, ich könne noch keine Kartoffeln schälen, abgelehnt. „Setz dich aber gern an den Küchentisch“, schlug sie vor. „Vielleicht kannst du ja etwas von mir lernen.“ Sie saß vor einem großen Korb Kartoffeln, den sie für die grünen Klöße schälen wollte, die Opa so gerne aß.

„Mutti“, begann ich, „darf ich, wenn Monika und Christiane da sind, mit ihnen in den Hagen gehen? Wir könnten unsere Schlitten mitnehmen.“

Mutter zögerte mit der Antwort. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“

„Aber warum denn nicht?“, wollte ich wissen.

„Ganz einfach: Zuerst müsstest du dir deine warmen Sachen anziehen, und wenn du von draußen reinkommst, geht die Sache umgekehrt. Verstehst du, was ich meine?“ Ich nickte, obwohl ich gar nichts begriff. „Ihr könnt euch stattdessen im Zimmer mit deinen Spielsachen beschäftigen, du hast doch gestern so viel Schönes bekommen.“

Das war nicht das, was ich hören wollte. Ich war mal wieder sauer auf meine Mutter. Enttäuscht ging ich zu Opa ins Zimmer, setzte mich ans Fenster, hauchte die Fensterscheiben an und malte mit meinem Finger Fantasiebilder. Opa legte eine Platte auf und zog mit der Kurbel das Grammophon auf. Wenn es zu leiern begann, musste man es erneut aufziehen. Das Grammophon gehörte uns nicht, es war eine Leihgabe für die Feiertage. Ich inspizierte den Tannenbaum und mopste mir einen braunen Fondantkringel, den ich mir heimlich in den Mund steckte. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen! Gelangweilt nahm ich meine Strickliesel und den Häkelhaken und fing an, ein langes Strickband zu häkeln, das Mutter in meine Zöpfe einflechten konnte. In der Schule hatte ich im Handarbeitsunterricht Stricken und Häkeln gelernt. Voller Ungeduld wartete ich auf meine Cousinen. Die große Standuhr im Wohnzimmer schlug schon das zehnte Mal. Jetzt wurde es mir zu bunt. Ich holte mir meine Jacke, schlüpfte in die Stiefel, hängte mir den Muff um und sagte zu Opa: „Ich geh mal vor die Tür, um zu schauen, wo Tante Gerda bleibt. Sag Mutter Bescheid, falls sie nach mir fragt.“ Ich eilte nach draußen und lief bis zur Gänseburg. Auf einmal sah ich Tante Gerda, Monika und Christiane um die Ecke biegen. Freudig winkte ich ihnen zu und lief schneller. Weil es sehr glatt war, rutschte ich auf dem unebenen Kopfsteinpflaster aus und fiel der Länge nach hin. Da lag ich nun im hohen Schnee und rappelte mich allmählich wieder auf.

Monika war als Erste bei mir! „Hast du dir wehgetan?“, fragte sie mit besorgter Stimme.

Zum Glück war der Schnee weich und ich hatte nur eine Bauchlandung hingelegt. Jetzt waren auch Tante Gerda und Christiane bei mir.

„Doris, mein Kind, was machst du hier?“, wollte Tante Gerda wissen.

„Ich wollte nachsehen, wo ihr so lange bleibt. Außerdem war mir langweilig.“

Zehn Minuten später waren wir zu Hause und es roch bereits im Flur nach dem Braten.

Nachdem sich Tante Gerda und Opa Max begrüßt hatten, drückte Christiane Opa einen Kuss auf die Wange. Wir gingen zu Mutter in die Küche.

„Mutti, du schälst ja immer noch Kartoffeln!“, stellte ich fest.

Sie lächelte. „Wir sind ja heute auch viele Leute.“

„Guten Morgen, Anna“, sagte Tante Gerda. „Hier riecht es herrlich nach Kaninchenbraten.“

Das Lächeln meiner Mutter wurde noch eine Spur breiter. „Schau dir den Braten an, und wenn du schon dabei bist, schmecke bitte die Soße ab, falls noch etwas daran fehlt.“

„Einen Moment, ich wasche mir nur rasch die Hände, dann kann es losgehen.“ Tante Gerda sah sich suchend um. „Wo ist denn meine Kittelschürze?“

„Am Haken in der Speisekammer, wo du sie zuletzt hingehängt hast.“

Ich lauschte dem Gespräch zwischen meiner Mutter und Tante Gerda:

„Die Soße schmeckt schon sehr gut“, sagte meine Tante. „Ich denke, eine Prise Salz und etwas Pfeffer könnten nicht schaden. Allerdings ist es viel zu wenig für uns alle.“

„Gerda, Wasser kommt aus dem Hahn. Das ist das Einzige, das wir nicht bezahlen müssen.“

„Ach, darauf wäre ich gar nicht gekommen. Und das Fleisch ist wirklich sehr zart. Es schmeckt … ich weiß gar nicht, womit sich der Geschmack vergleichen lässt. Hast du es schon probiert, Anna?“

„Wie sollte ich? Auf keinen Fall esse ich Kaninchen!“

„Du spinnst doch! Und das, obwohl es auf unseren Karten nur sechshundert Gramm Fleisch im Monat zu kaufen gibt. Und in dem HO-Laden, der am 10. Februar 1949 in der Bäckerstraße eröffnet wurde und in dem wir ohne Karten einkaufen können, aber wer kann schon für ein Pfund Butter achtzehn Mark auf den Tisch legen? Mir läuft schon beim bloßen Anblick das Wasser im Munde zusammen. Aber wenn du nicht willst, freut sich der Rest der Familie umso mehr über den Braten.

„Bestimmt, Gerda.“ Meine Mutter nahm die letzte Kartoffel aus dem Korb und begann sie zu schälen.

Jetzt traute ich mich, eine Frage zu stellen. „Mutti, dürfen wir nicht doch noch rausgehen?“

„Meinetwegen, du gibst ja ansonsten keine Ruhe. Aber um 13 Uhr seid ihr wieder zu Hause, ihr hört ja die Uhr vom Kirchturm schlagen.“

 

Monika, Christiane und ich stürmten aus der Küche, holten unsere Schlitten aus dem Schuppen und liefen zum Bahnhof, in dessen unmittelbarer Umgebung sich der Berg befand, von dem wir zu Ostern immer Eier herunterrollen ließen. Viele unserer Schulfreundinnen und auch ein paar Jungs waren gerade dabei, den Berg zunächst zu erklimmen, um ihn gleich darauf im schnellen Tempo wieder herunterzufahren.

Jemand rief meinen Namen. „Hallo Doris! Schön, dass ihr auch gekommen seid!“

„Hallo Brigitte, hallo Peter!“ Ich erzählte den beiden, dass ich ziemlich lange hatte betteln müssen, damit wir vor dem Essen noch nach draußen gehen durften. Eigentlich hatte ich meiner Mutter gesagt, wir würden in den Hagen gehen, aber hier machte es viel mehr Spaß.

„Wollen wir zusammen runterfahren?“, fragte mich Brigitte.

„Na klar! Mal sehen, wer schneller ist. Monika, machst du mit?“

„Ja, schon, aber was ist mit Christiane?“

„Die nehme ich auf meinem Schlitten mit.“ Christiane sah mich mit großen Augen an und sagte, sie hätte Angst. Ich versuchte sie zu beruhigen. „Das brauchst du nicht! Du setzt dich vor den Schlitten und hältst dich vorne an den Holzgriffen fest. Ich setze mich hinter dich und passe auf, dass du nicht runterfällst. Wollen wir das so machen?“ Sie nickte zögerlich. „Gut, dann setz dich schon mal auf den Schlitten.“

Brigitte und Monika waren inzwischen bereit und warteten auf das Startzeichen. Ich umklammerte meine kleine Cousine, während Peter, ein Junge aus meiner Klasse, fragte, ob er uns einen Schubs geben solle.

„Klar“, sagte ich, „einen richtig dollen!“

Peter ließ sich das nicht zweimal sagen und zog unseren Schlitten zuerst ein ganzes Stück zurück. Dann nahm er Anlauf, stieß den Schlitten nach vorn, und schon sausten wir in rasantem Tempo den Berg hinunter. Ich fand es wunderbar und Christiane juchzte vor Begeisterung, sodass wir kein Ende fanden. Nach jeder Abfahrt kraxelten wir mit unserem Schlitten den Berg wieder hinauf. Weil wir schwitzten und schon bald völlig außer Atem waren, befreiten wir uns von unseren Pudelmützen und den Schals. Darüber vergaßen wir die Zeit und hörten auch nicht die Kirchturmuhr. Irgendwann sagte ich zu Monika: „Nimm deinen Schlitten, wir gehen nach Hause.“

Monika sah mich fragend an. Warum denn jetzt schon?

„Ich habe die Uhr nicht schlagen hören. Vielleicht ist es inzwischen sogar später als 13 Uhr. In dem Fall bekommen wir Ärger.“

„Frag doch die Frau da hinten“, schlug Monika vor. „Die hat bestimmt eine Uhr.“

Ich ging hinüber zu der Frau, auf die Monika zeigte, entschuldigte mich für die Störung und fragte nach der Zeit.

„Warte, ich schaue nach“, sagte sie. Einen Moment später nannte sie mir die Zeit. „Wir haben genau 12:30 Uhr. Ihr müsst wohl nach Hause, oder?“ Sie sah erst Monika und Christiane und dann mich an.

„Ja, das stimmt!“, antwortete ich. „Wir schaffen es noch rechtzeitig, danke.“ An meine beiden Cousinen gewandt fuhr ich fort: „Los, wir müssen gehen, sonst kommen wir zu spät zum Essen.“ Als wir uns von Brigitte verabschieden wollten, sagte sie: „Wartet, ich begleite euch ein Stück.“

Wir zogen unsere Schlitten die Lindenstraße entlang immer geradeaus bis zum Schuhmarkt, wo sich unser Laden befand. Vor der Fensterscheibe blieben wir stehen, um uns die weißen Mäuse anzusehen, die wie verrückt in ihrem Käfig hin und her liefen und offenbar nach Futter suchten.

„Die haben ja gar nichts zu fressen“, stellte Brigitte fest.

Oje, das musste ich Opa sagen. Er hatte wohl vergessen, die Mäuse zu füttern. Ich fragte Brigitte, was ihr der Weihnachtsmann gebracht hatte. Sie machte eine lässige Handbewegung. „Ein paar neue Sachen zum Anziehen, einen bunten Ball und ganz viel Schokolade und Bonbons aus Westberlin. Da wohnt nämlich meine Tante, und die schickt uns öfter mal ein Paket. Ich bekomme übrigens bald Schuhe mit einer Kreppsohle!“

Was wussten wir Kinder denn schon, was eine Kreppsohle war? Um auch etwas Tolles berichten zu können, sagte ich: „Das klingt ja alles sehr schön. Bei uns am Weihnachtsbaum hängen Kringel aus Fondant. Die schmecken besonders lecker!“ Schokolade hatten wir natürlich nicht bekommen.

„So, ich bin zu Hause“, sagte Brigitte. „Wir können uns ja nach Weihnachten auf dem Großen Mark treffen und Ball spielen.“

„Mal sehen“, entgegnete ich, „ich weiß nicht, was Mutter so vorhat.“

Vier Häuser weiter waren auch wir zu Hause. Als Erstes brachten wir die Schlitten in den Schuppen. Im Flur angekommen, fanden wir für unsere Mäntel keinen Platz, denn die Garderobe war vollgehängt und auf der Ablage lagen die Hüte unserer Onkel. Also nahmen wir unsere Mäntel mit in die Küche. „Wir sind wieder da!“ rief ich. „Mutter, wo sollen wir unsere Sachen aufhängen? Die Garderobe ist voll.“

„Legt die Sachen auf mein Sofa zu der anderen Garderobe. Schuhe ausziehen und Hände waschen! Und zieh dir das neue Kleid an, Doris, es hängt im Schrank.“

Wir waren völlig durchgeschwitzt und unsere Gesichter glühten. Wie meine Mutter gesagt hatte, legten wir unsere Mäntel einfach auf die anderen, egal wie nass und schmutzig sie waren. Dann nahm ich das Kleid vom Bügel und zog es mir an. Ich schwitzte immer noch.

„Monika, machst du mir die Knöpfe zu?“, bat ich meine Cousine.

„Ja klar, dreh dich um!“ Sie sagte, sie und Christiane hätten keine Sachen zum Wechseln mitgebracht.

„Ach, ist doch egal“, winkte ich ab. „Ich hätte mich auch nicht umgezogen, aber du kennst ja meine Mutter.“

„Ja, richtig.“ Monika lächelte und beteuerte, sie habe meine Mutter sehr lieb.

Christiane nickte. „Das stimmt, Tante Anna ist immer lieb zu uns.“

Wir gingen zurück in die Küche und begrüßten Tante Salli und Tante Elli, die gerade den Kaninchenbraten auf großen Platten anrichteten.

„Na, wie war euer Schlittenfahren?“, erkundigte sich Tante Salli.

„Ganz toll“, sagte ich. „Wir waren im Stadtpark und sind immer wieder den Berg runtergefahren. Es waren viele Kinder aus unserer Schule da.“ Unschlüssig standen Monika, Christiane und ich in der Küche herum.

„Geht schon mal zu Opa ins Zimmer und wünscht euren Verwandten schöne Weihnachten.“ Offenbar konnte uns meine Mutter in der Küche nicht gebrauchen.

„Wir haben aber Durst!“, protestierte ich.

„Jetzt nervt uns nicht! Ihr seht doch, dass wir alle Hände voll zu tun haben. Hier sind Gläser, das Wasser könnt ihr euch selbst nehmen.“

Nachdem wir ein Glas Wasser getrunken hatten, gingen Monika, Christiane und ich ins Wohnzimmer und begrüßten unsere Cousinen und Cousins sowie deren Väter. Sie alle saßen bereits um den großen Tisch herum und schienen bester Stimmung zu sein. Unsere Verwandten herzten uns und nahmen uns in den Arm.

„Du hast ein sehr schönes Kleid an“, sagte meine Cousine Helma. Sie sah mich bewundernd an. „So eins könnte mir auch gefallen.“

Karin war inzwischen fünfzehn Jahre alt und hatte eine Lehrstelle bei einem Fotografen begonnen. Silvia, die ein Jahr älter war, lernte Modezeichnerin. Helma ging noch zur Schule. Sie hatte viele Ideen, was sie einmal werden wollte.

Obwohl unsere Wohnung für so viele Gäste zu klein war, waren unsere Verwandten bester Stimmung. Die Erwachsenen tranken Bier, Schnaps und Wein, pafften Zigaretten und Zigarren und verwandelten das Wohnzimmer in eine stinkende und qualmende Hölle. Wir Kinder zählten im Geiste die Gedecke auf dem Tisch und stellten fest, dass sie nicht für alle reichten. Monika fragte mich, wo wir Kinder sitzen würden. Das interessierte mich auch. Ich lief in die Küche und fragte meine Mutter: „Sag mal, wo werden wir Kinder eigentlich essen?“

Statt mir zu antworten, fing sie an, sich zu verteidigen. „Hör zu, Doris: Niemand kann etwas dafür, dass wir so wenig Platz haben. Dein Opa hat diese Wohnung gemietet und wir müssen es nehmen, wie es ist, ganz gleich, ob es uns gefällt. Fangt bloß nicht an rumzumaulen, wenn ich euch jetzt sage, dass ihr in der Küche essen werdet.“

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