Kostenlos

Die Äbtissin von Castro

Text
Autor:
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Nach einigen Minuten Wartens erschien Signora von Campireali; sie ging mit großer Mühe und hatte den Arm ihres Haushofmeisters genommen, der in großem Staat war, mit dem Degen an der Seite; aber sein prächtiges Gewand war ganz mit Erde beschmutzt.

„O meine teure Helena! Ich komme, um dich zu retten!“ rief Signora von Campireali.

„Und wer sagt Euch, daß ich gerettet sein will?“

Signora von Campireali war verblüfft; sie sah ihre Tochter mit großen Augen an, sie schien sehr aufgeregt.

„Nun wohl, meine teure Helena,“ sagte sie endlich, „das Schicksal zwingt mich, dir eine Handlung einzugestehen, die nach dem Unglück, das ehemals unsrer Familie zustieß, vielleicht ganz natürlich war, die ich aber bereue und dich zu verzeihen bitte: Giulio Branciforte… lebt.“

„Und weil er lebt, will ich nicht leben!“

Signora von Campireali verstand erst gar nicht, was ihre Tochter meinte, dann richtete sie die flehentlichsten, zärtlichsten Bitten an sie; aber sie erhielt keine Antwort: Helena hatte sich zu ihrem Kruzifix gewendet und betete, ohne sie zu hören. Es war vergeblich, daß Signora von Campireali eine Stunde lang die äußersten Anstrengungen machte, um ein Wort oder einen Blick zu erlangen. Endlich sagte ihre Tochter ungeduldig:

Unter dem Marmor dieses Kruzifixes waren seine Briefe in meinem kleinen Zimmer in Albano verborgen; es wäre besser gewesen, mich von meinem Vater töten zu lassen! Geht… und laßt mir Gold zurück.“

Als Signora von Campireali trotz der besorgten Zeichen ihres Haushofmeisters noch länger mit ihrer Tochter reden wollte, wurde Helena ärgerlich:

„Laßt mir wenigstens eine Stunde Freiheit. Ihr habt mein Leben vergiftet, wollt Ihr nun auch meinen Tod vergiften?“

„Wir werden über den unterirdischen Gang noch zwei oder drei Stunden verfügen können; ich wage zu hoffen, daß du dich noch eines Besseren besinnen wirst,“ rief Signora von Campireali, in Tränen ausbrechend. Und sie nahm den Weg unter die Erde zurück.

„Ugone, bleibe bei mir“, sagte Helena zu einem ihrer Bravi, „und sei wohl bewaffnet, mein Bursche, denn vielleicht gilt es, mich zu verteidigen. Laß mich deinen Dolch, dein Schwert, dein Messer sehen!“

Der alte Soldat zeigte ihr seine beruhigend guten Waffen.

„Nun wohl, halte dich dort vor meinem Gefängnis auf, ich werde Giulio einen langen Brief schreiben, den du selbst ihm zustellen wirst; ich will nicht, daß er durch andre Hände als deine geht, da ich nichts habe, um ihn zu schließen. Du kannst alles lesen, was dieser Brief enthält. Nimm das ganze Gold, das meine Mutter hiergelassen hat, in deine Taschen; ich brauche nur noch fünfzig Zechinen für mich, lege sie auf mein Bett.“

Nach diesen Worten begann Helena zu schreiben:

„Ich zweifle nicht an Dir, mein teurer Giulio; ich gehe von hinnen, weil ich in Deinen Armen vor Schmerz sterben müßte; ich würde sehen, wie groß mein Glück gewesen wäre, wenn ich nicht einen Fehltritt begangen hätte. Glaub nicht, daß ich jemals nach Dir ein andres Wesen auf der Welt geliebt habe; weit entfernt davon, war mein Herz immer von der lebhaftesten Verachtung für den Mann erfüllt, den ich bei mir einließ. Mein Fehltritt geschah einzig aus Langweile und – wenn man will – aus Leichtfertigkeit. Bedenke, daß mein Geist, der durch den vergeblichen Versuch zu La Petrella so geschwächt war, wo der Fürst, den ich verehrte, weil Du ihn liebtest, mich so grausam empfing – bedenke, sage ich, daß mein so geschwächter Geist zwölf Jahre lang von Lügen umlagert war. Alles, was mich umgab, war falsch und verlogen, und ich wußte es. Ich erhielt anfangs etwa dreißig Briefe von Dir, urteile selbst, mit welchem Entzücken ich die ersten öffnete! Aber indem ich sie las, wurde mein Herz zu Eis. Ich prüfte diese Schrift, ich erkannte die Züge Deiner Hand wieder, aber nicht Dein Herz. Glaub mir, daß diese erste Lüge mein innerstes Leben so zerstört hat, daß ich soweit kam, einen Brief mit Deiner Handschrift ohne Freude zu öffnen! Die verabscheuungswürdige Ankündigung Deines Todes vernichtete vollends alles in mir, was noch aus den glücklichen Zeiten unsrer Jugend übriggeblieben war. Meine erste Absicht war, wie Du wohl verstehen wirst, die Küste Mexikos aufzusuchen und die Stelle mit meinen Händen zu berühren, wo die Wilden Dich, wie man mir sagte, getötet hatten. Wenn ich diesen Gedanken ausgeführt hätte… würden wir jetzt glücklich sein, denn wie groß auch die Zahl und die Geschicklichkeit der von einer wachsamen Hand um mich gesäten Spione gewesen wäre, hätte ich doch in Madrid alle Seelen, in denen noch Mitleid und Güte lebte, mir günstig gestimmt, und wahrscheinlich hätte ich die Wahrheit erfahren; denn schon, mein Giulio, hatten Deine Heldentaten die Aufmerksamkeit der Welt auf Dich gelenkt und vielleicht wußte irgendwer in Madrid, daß Du Branciforte seist. Willst Du, daß ich Dir sage, was unser Glück verhinderte? Zuerst die Erinnerung an den grausamen und kränkenden Empfang, den mir der Fürst in La Petrella bereitet hatte: welche mächtigen Hindernisse gab es von Castro bis Mexiko zu überwinden! Du siehst, meine Seele hatte schon ihre Kraft verloren. Dann kam mir eine Eingebung der Eitelkeit. Ich hatte große Bauten im Kloster durchführen lassen, um die Loge der Pförtnerin, worin Du in der Kampfnacht Zuflucht fandest, als Zimmer zu nehmen. Eines Tages betrachtete ich den Boden, den Du ehemals für mich mit Deinem Blut getränkt hattest; da hörte ich ein verächtliches Wort; ich erhob die Augen und sah gehässige Gesichter; um mich zu rächen, wollte ich Äbtissin werden. Meine Mutter, die sehr wohl wußte, daß Du am Leben warst, leistete das Äußerste, um diese ungeheuerliche Ernennung zu erreichen. Diese Stellung war für mich nur eine Quelle von Langweile; durch sie wurde meine Seele vollends erniedrigt. Ich fand Vergnügen daran, meine Macht oft nur im Unglück der andren zu genießen; ich beging Ungerechtigkeiten. Ich sah mich mit dreißig Jahren in den Augen der Welt tugendhaft, reich, angesehen und trotzdem vollkommen unglücklich. Da zeigte sich dieser arme Mensch, der ja die Güte selbst war, aber die Unbedeutendheit in Person. Seine Unbedeutendheit machte, daß ich seine ersten Anträge ertrug. Meine Seele war so unglücklich durch alles, was mich seit Deiner Abreise umgab, daß sie nicht mehr die Kraft hatte, der kleinsten Versuchung zu widerstehen. Soll ich Dir etwas sehr Indezentes gestehen? Aber einer Toten ist alles erlaubt. Wenn Du diese Zeilen lesen wirst, werden die Würmer diese angeblichen Schönheiten verzehren, die nur Dir gehören durften. Endlich muß ich Dir das sagen, was mir schwer wird; ich sah nicht ein, warum ich nicht, wie alle unsre römischen Damen, die Liebe der Sinne versuchen sollte; ich hatte eine Anwandlung von Leichtfertigkeit; aber ich konnte mich nie jenem Menschen hingeben, ohne ein Gefühl des Abscheus und des Ekels zu empfinden, das jedes Vergnügen zerstörte. Ich sah immer Dich an meiner Seite, in unserm Garten in Albano, als die Madonna Dir den edlen Gedanken eingab, der aber dann durch meine Mutter zum Unglück unsres Lebens geworden ist. Du warst nicht drohend, sondern zärtlich und gut, wie Du immer warst; Du sahst mich an und dann empfand ich Wut gegen diesen andren Mann und ich ging soweit, ihn aus aller Kraft zu schlagen. Das ist die ganze Wahrheit, mein teurer Giulio, ich wollte nicht sterben, ohne sie Dir zu sagen – und ich dachte auch, daß diese Zwiesprache mit Dir vielleicht den Gedanken an den Tod von mir nehmen könnte. Ich ersehe aber nur klarer daraus, wie meine Freude gewesen wäre, wenn ich Deiner wert geblieben wäre. Ich befehle Dir zu leben und die militärische Karriere fortzusetzen, die mir solche Freude bereitet hat, als ich von Deinen Erfolgen hörte. Was wäre gewesen, großer Gott! wenn ich Deine Briefe erhalten hätte, besonders nach der Schlacht von Achenne! Lebe und rufe Dir oft Ranuccio ins Gedächtnis zurück, der bei Ciampi fiel, und Helena, die in Santa Marta starb, weil sie in Deinen Augen keinen Vorwurf lesen wollte.“

Nachdem sie den Brief beendet hatte, näherte sich Helena dem alten Soldaten, den sie schlafend fand; sie nahm seinen Dolch, ohne daß er es merkte, dann weckte sie ihn.

„Ich bin zu Ende,“ sagte sie ihm, „ich fürchte, daß sich unsre Feinde des unterirdischen Zugangs bemächtigen. Nimm schnell meinen Brief, der auf dem Tisch liegt und bring ihn Giulio, du selbst bringst ihn, verstehst du? Und gib ihm noch mein Taschentuch, dieses hier; sag ihm, daß ich ihn auch in diesem Augenblick nicht mehr liebe, als ich ihn immer geliebt habe, immer, hörst du wohl!“

Ugone blieb stehen und ging nicht fort.

„Geh doch!“

„Signora, habt Ihr es wohl überlegt? Signor Giulio liebt Euch so sehr!“

„Ich auch, ich liebe ihn, nimm den Brief und übergib ihn selbst.“

„Nun wohl, möge Gott Eure Güte segnen!“

Ugone ging und kehrte schnell zurück. Er fand Helena tot: sie hatte den Dolch im Herzen.

SCHWESTER SCOLASTICA
ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI

In Neapel hörte ich im Jahr 1824 in der Gesellschaft von der Geschichte der Schwester Scolastica und dem Kanonikus Cibo sprechen. Neugierig, wie ich bin, kann man sich denken, wie ich herumfragte. Aber kein Mensch wollte mir klar und deutlich Auskunft geben; man fürchtete, sich zu kompromittieren. In Neapel spricht man nämlich von politischen Dingen niemals klar und deutlich; und dies ist der Grund davon: Eine neapolitanische Familie, die zum Beispiel aus drei Söhnen, einer Tochter, Vater und Mutter besteht, zerfällt in drei verschiedene Parteien – Verschwörungen, wie man das in Neapel nennt. So gehört die Tochter zur Partei ihres Liebhabers; jeder der Söhne gehört einer bestimmten Partei, und die Eltern sprechen mit einem Seufzer vom Hofe, der regierte, als sie zwanzig Jahre alt waren. Aus dieser Isolierung der Individuen ergibt sich, daß man niemals ernstlich und offen von Politik spricht. Bei der geringsten etwas präziseren Aufstellung, die um etwas den Gemeinplatz verläßt, erblassen ein paar Gesichter.

 

Da mein Ausfragen nach der Geschichte mit dem barocken Namen in der Gesellschaft keinerlei Ergebnis hatte, glaubte ich, es handle sich in der Geschichte dieser Schwester Scolastica um eines jener grauenvollen Ereignisse kürzester Vergangenheit, aus dem Jahre 1820 zum Beispiel.

Eine vierzigjährige Witwe, eine gute, aber nichts weniger als schöne Frau vermietete mir die Hälfte ihres kleinen Hauses in einer Gasse hundert Schritte weit vom reizenden Park von Chiaja, am Fuß des Hügels, den hier die Villa der Prinzessin Florida krönt, der Freundin des alten Königs. Es ist das vielleicht das einzige ruhige Viertel von Neapel. Meine Witwe hatte einen alten Galan, dem ich eine Woche durch den Hof machte. Als wir eines Tages miteinander durch die Stadt schlenderten, zeigte er mir die Stellen, wo sich die Lazzaroni gegen die Truppen des Generals Championnet geschlagen und den Hinterhof, wo sie den Herzog von *** lebendig verbrannt hatten; da fragte ich ihn im Überfall, doch ganz ruhig, weshalb man ein solches Geheimnis mit der Geschichte der Suor Scolastica mache.

Er gab mir ganz ruhig die Antwort: „Die fürstlichen Namenstitel, die jene trugen, sind auf deren heute lebende Nachfahren gekommen, und die würde es vielleicht peinlich berühren, ihre Namen mit einer Geschichte vermengt zu sehen, die so tragisch und für alle Welt so traurig war.“

„Ist die Sache denn nicht im Jahre 1820 passiert?“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“ sagte mein Neapolitaner und lachte laut auf über meine Jahreszahl. „Wer hat Ihnen denn was von 1820 gesagt?“ wiederholte er mit dieser wenig höflichen italienischen Lebhaftigkeit, die dem Pariser so auf die Nerven fällt.

„Wenn Ihnen an Ihrem Menschenverstand liegt, so sagen Sie 1745, also das Jahr nach der Schlacht von Velletri, die unserem großen Don Carlos den Besitz von Neapel einbrachte. Hierzulande nannte man ihn Carl VII., und später dann, in Spanien, wo er so Außerordentliches vollbrachte, hieß man ihn Carl III. Er hat in unsere königliche Familie die große Nase der Farnese gebracht.

Man nennt heute den Erzbischof nicht gern bei seinem richtigen Namen, vor dem ganz Neapel zitterte, als ihm höchst unangenehm der Name Velletri in die Ohren tönte. Die Deutschen lagerten auf den Hügeln um Velletri und versuchten unsern großen Carlos im Palazzo Grineti, den er bewohnte, auszuheben.

Es war ein Mönch, der die Anekdote aufgeschrieben haben soll, von der Sie redeten. Die junge Nonne, die er mit dem Namen Suora Scolastica bezeichnet, war aus der Familie des Herzogs von Bissignano. Der gleiche Chronist gibt in seiner Geschichte Proben eines leidenschaftlichen Hasses gegen den Erzbischof von damals, der, ein mächtiger Politiker in dieser ganzen Affäre, den Kanonikus Cibo als den Handelnden vorschob. Vielleicht war der schreibende Mönch ein Günstling des jungen Don Genarino, Marquis de las Flores, von dem man annimmt, daß er dem Carlos das Herz der schönen Rosalinda streitig gemacht hat, dem sehr galanten König sowohl wie auch dem alten Herzog Vargas del Prado, der für den reichsten Mann seiner Zeit galt. Es gibt sicher in der Geschichte dieser Katastrophe Sachen, welche Personen, die 1760 noch mächtig waren, schwer hätten beleidigen können, denn der Mönch, der um das Jahr schrieb, hütet sich, deutlich zu sein; seine Wortkunst ist beträchtlich; er redet immer in allgemeinen Maximen, sicher von perfekter Moral, aber Bestimmtes ist nicht daraus zu entnehmen. Nur zu oft muß man das Manuskript zuschlagen, um über das nachzudenken, was der gute Pater etwa hat sagen wollen. So wird er zum Beispiel beim Tode des Don Genarino fast unverständlich. Ich kann Ihnen vielleicht in einigen Tagen die Handschrift leihen, die so ennervierend ist, daß ich Ihnen nicht rate, sie zu kaufen. Vor zwei Jahren verkaufte man sie übrigens auf dem Bureau des Notars B. für nicht weniger als vier Dukaten.“

Acht Tage später war ich im Besitz dieser Handschrift, deren Verfasser jeden Augenblick seine Geschichte, statt sie zu Ende zu erzählen, in andern Worten immer wieder von vorne anfängt; erst glaubt der verzweifelte Leser, daß es sich um ein neues Faktum handelt, und schließlich wird die Konfusion so groß, daß man gar nicht mehr weiß, wovon die Rede ist.

Man muß nämlich wissen, daß im Jahre 1742 ein Neapolitaner, ein Mailänder, die vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht hundert Worte hintereinander in toskanischer Sprache gesprochen haben, sich des Toskanischen für den Druck bedienen, weil sie das für schön halten. Der vortreffliche General Colleta, der größte italienische Historiker, hatte auch ein bißchen diese Manie, die seinen Leser oft unsicher über das vom Verfasser Gemeinte macht. Das kaum verständliche Manuskript, das sich Suora Scolastica betitelte, zählte nicht weniger als 310 Seiten. Ich erinnere mich, gewisse Seiten daraus ins reine geschrieben zu haben, um des Sinnes sicher zu sein, den ich dem Gelesenen gab.

Sowie ich einmal die Geschichte genau kannte, hütete ich mich, direkte Fragen zu stellen. Sooft mir aus vielem Geschreibsel des Mönches irgendein sicheres Faktum deutlich war, erbat ich mir mit der unschuldigsten Miene einige Aufklärungen. Und nach einiger Zeit gab mir eine Person, die zwei Monate früher mir jede Antwort auf meine Fragen glatt verweigert hatte, ein kleines handgeschriebenes Heftchen von 60 Seiten, das auf die Geschichte selber nicht weiter eingeht, aber über gewisse Fakten pittoreske Details gibt. Zum Beispiel über die rasende Eifersucht.

Aus den Worten ihres Almoseniers, den der Erzbischof dazu gewonnen hatte, erfuhr eines Tages die Prinzessin Donna Ferdinanda de Bissignano, daß der junge Don Genarino nicht in sie, sondern in ihre Stieftochter Rosalinde verliebt sei. Sie rächte sich an ihrer Rivalin, die sie vom König Carlos geliebt glaubte, indem sie Don Genarino de las Flores in eine heftige Eifersucht hetzte. Dieses folgende nun ist die Geschichte, welche ganz Neapel im Jahre 1740 so heftig bewegt hat.

Im Jahre 1740 regierte in Neapel Don Carlos. Er war der Sohn der Fürstin Elisabet von Parma, einer Farnese, die ihm, trotzdem er der Jüngere war, gern eine Krone verschafft hätte, weshalb sie ihm zu günstiger Stunde nach Italien mit einer Armee dirigierte. Er gewann die Schlacht bei Velletri, trotzdem der Kampftag für ihn damit begonnen hatte, daß ihn eine Kompagnie Österreicher des Morgens in seinem Zimmer überraschte. Der Herzog Vargas del Prado, einer der spanischen Granden, welche die Elisabet Farnese ihrem Sohn als Stab gegeben hatte, rettete ihm das Leben oder doch die Freiheit, indem er ihm einen Fußtritt versetzte, der ihn ans Fenster seines nicht niedrig gelegenen Schlafzimmers beförderte, durch das er entkam.

Don Carlos mit der ungeheuern Nase war nicht ohne Geist. Als Karl III. von Neapel hielt er einen glänzenden Hof. Er brachte sich seine Untertanen mit festlichem Zirzenses nah und führte gleichzeitig strenges Regiment in allen Zweigen der Verwaltung. Die spanischen Vizekönige, deren Klugheit durch Masaniellos Revolte berühmt geblieben ist, hatte man davongejagt; die harten und geldgierigen österreichischen Generäle hatte man davongejagt; in der Folge so vieler Wechsel und Konfiskationen sah sich der neue König Herr fast über alles Hab und Gut. Die meisten Edelleute hatten die Konfiskation einiger ihrer Güter erlebt oder wurden mit konfisziertem Grundbesitz jener Unzufriedenen beschenkt, die von erkauften Subjekten Verräter genannt wurden. Diese Unsicherheit aller Vermögen verband sich mit der Notwendigkeit großer Ausgaben um der Gunst des Königs willen, und das verpflichtete die großen Herren, hinsichtlich ihrer Geschäfte die Augen recht offen zu halten.

Der Adel drängte sich an den Hof, und der Handelsstand gratulierte sich dazu, die unglaublichen Plackereien der Vizekönige und die Habsucht der österreichischen Generäle los zu sein; das gemeine Volk aber war höchlichst erstaunt, eine Regierung zu haben, von der es nicht immerzu geschunden wurde und gewöhnte sich daran, Steuern zu zahlen, von denen ein Teil als Premie an Adel und Geistlichkeit verteilt wurde.

Also regierte Don Carlos seit fünf Jahren; Ruhe und Wohlstand kehrten wieder; glückliche Zufälle halfen dabei. Der Winter von 1740 auf 1741 sah Festlichkeiten, wie schon lange keiner mehr. Acht oder zehn Damen von seltener Schönheit teilten sich in alles Lob und Preis, aber der junge König, der ein feiner Kenner war, erklärte für die schönste Dame seines Hofes Rosalinda, die Tochter des Principe d'Atella. Dieser Principe d'Atella, früher österreichischer General, war ein ebenso trübseliger wie kluger Mann, der gegen seinen Willen Donna Ferdinanda, seinem zweiten Weibe, darin nachgab, daß sie sich zu Hofe von seiner Tochter, der schönen Rosalinda, begleiten ließ, die der König für die allerschönste erklärte und die noch nicht sechzehn Jahre zählte.

Der Principe d'Atella hatte drei Söhne aus erster Ehe, deren standesgemäße Versorgung ihm Schwierigkeiten machte. Die Titel dieser Söhne, die alle Herzöge oder Prinzen waren, fand er in keinem Verhältnisse zu dem mäßigen Vermögen stehend, das er ihnen hinterlassen konnte.

D'Atella liebte seine sehr lustige und sehr unvorsichtige Frau, die, wenn auch um dreißig Jahre jünger als er, doch nicht mehr jung war, und es während der köstlichen Feste dieses Winters nur der Anwesenheit ihrer Tochter Rosalinda verdankte, immer von einem hofmachenden Schwarm der glänzendsten Jugend Neapels umgeben zu sein. Ihre besondere Aufmerksamkeit schenkte sie dem jungen Genarino de las Flores, dessen etwas hochfahrenden spanischen Manieren dem hübschen und lustigen Gesichte mit dem blonden Bärtchen und den blauen Augen, einer Seltenheit in Neapel, sehr gut standen; besonders von diesen blauen Augen waren die Damen des Hofes ganz entzückt. So sehr entzückt, daß Genarino schon zwei Wunden aus Duellen mit Bräutigamen oder Brüdern trug, in deren Familie er Unordnung gebracht hatte.

Der junge Marquis war geschickt genug, die Principessa d'Atella zu überzeugen, daß ihr seine Huldigung gelte, aber tatsächlich war er in die junge Rosalinda verliebt und, was mehr ist, eifersüchtig auf sie. Eben jener Herzog, der in der Nacht vor der Bataille von Velletri dem Don Carlos so von Nutzen gewesen war und sich nun der höchsten Gunst des jungen Königs erfreute, war aufs tiefste berührt von der naiven Grazie der jungen Rosalinda und ganz besonders von ihrem einfachen Wesen und ihrer aus den Augen strahlenden Aufrichtigkeit; er machte ihr auf eine majestätische Weise den Hof, wie sich dies für einen dreifachen spanischen Granden gehört. Aber er schnupfte und trug eine Perücke; und gerade Schnupftabak und Perücke sind für eine junge Neapolitanerin die zwei Dinge, die sie nicht ausstehen kann. Und trotz der nur bescheidenen Mitgift von vielleicht zwanzigtausend Francs und keiner andern Aussicht als das vornehme Kloster San Petito ganz oben in der Toledanerstraße, dem Modegrab der jungen Mädchen aus dem Hochadel, konnte sich Rosalinda nicht entschließen, die leidenschaftlichen Augen des Herzogs von Prada zu verstehen; wohl aber begriff sie sehr gut, was ihr Don Genarino mit seinen Blicken sagte, wenn ihn die Principessa d'Atella gerade nicht beobachtete. Der Herzog von Prada war sich nicht ganz sicher, ob die junge Rosalinda nicht manchmal auch Antwort auf Genarinos fragende Augen gab.

Die Liebe der beiden hatte wirklich, vernünftig betrachtet, gar keinen Sinn. Gewiß gehörte die Familie der Las Flores zum Hochadel, aber der alte Herzog dieses Namens, Genarinos Vater, besaß drei Söhne und hatte nach Brauch des Landes deren Angelegenheiten so arrangiert, daß der älteste etwa fünfzehnhundert Dukaten Rente bekam, während die beiden jüngeren sich mit zwanzig Dukaten im Monat zufrieden geben mußten samt Logis im Stadtpalais und in der Villa, zufrieden geben mußten, aber nicht damit zufrieden waren.

Don Genarino und Rosalinda verwandten all ihre Geschicklichkeit darauf, was sie für einander empfanden, vor der Principessa d'Atella zu verbergen, deren kokettischer Anspruch auf Begehrtwerden dem jungen Marquis niemals die falschen Gedanken verziehen hätte, die sie sich hinsichtlich seiner Liebe zu ihr machte. Aber ihr Gatte, der alte General, hatte bessere Augen als sie. Beim letzten Ball, den in diesem Winter König Carlos selber gab, war es ihm ganz klar geworden, daß der bereits durch mehr als ein Abenteuer berühmte Don Genarino es unternommen hatte, entweder seiner Frau oder seiner Tochter zu gefallen; und das eine paßte ihm so wenig wie das andere. Nächsten Morgen hieß er nach dem Frühstück seine Tochter, mit ihm auszufahren, und er brachte sie, ohne weiter auch nur ein Wort zu sprechen, nach dem Kloster von San Petito; es ist das jenes damals sehr modische Kloster, dessen köstliche Fassade man ganz oben zur linken in der Calle di Toledo sieht neben dem magnifiken Palazzo dei Studi.

 

Die langhin sich streckenden Mauern, die man bei einem Spaziergang auf der Wiese von Vomero immer im Rücken hat, sollen das profane Auge abhalten, in die Gärten von San Petito zu blicken.

Der alte Fürst tat erst den Mund auf, als er seiner Schwester seine Tochter vorstellte. Wie eine Mitteilung, die er ihr aus Höflichkeit mache und für die sie ihm dankbar sein müsse, sagte er zu Rosalinda, daß sie das Kloster nur ein einziges Mal noch verlassen würde, nämlich am Vorabend des Tages ihrer Profeß.

Rosalinda war über alles das nicht weiter erstaunt; sie wußte ganz gut, daß sie höchstens durch ein Wunder eine Verheiratung erwarten konnte, und den Herzog Vargas del Prado zu heiraten, davor graute ihr in diesem Augenblick. Außerdem hatte sie einige Jahre als Pensionärin in dem Kloster geweilt, in das man sie jetzt zurückbrachte, und alle ihre Erinnerungen an ihren frühern Klosteraufenthalt waren lustig und amüsant; so war sie am ersten Tage nicht arg betroffen von ihrem Lose; aber schon am nächsten Tage war ihr deutlich, daß sie den jungen Don Genarino niemals wiedersehen würde, und das traf sie, trotz ihres Alters Kindlichkeit, tief. Verspielt und betäubt die ersten Tage, wurde sie bald die am wenigsten resignierte und traurigste unter den Mädchen des Klosters. Wohl zwanzig Male dachte sie im Tage an Genarino, den sie nicht mehr sehen sollte, während doch früher und zu Hause an diesen liebenswürdigen jungen Mann zu denken ihr höchstens zweimal im Tage eingefallen war.

Drei Wochen nach ihrem Eintritt im Kloster geschah es ihr, daß sie beim Abendgebet die marianische Litanei ohne jeden Fehler hersagte und ihr dafür die Novizenmutter für den andern Tag erlaubte, zum erstenmal, auf das Belvedere hinaufzusteigen; so nennt man die weitläufige Galerie, von den Nonnen mannigfaltig mit Bildern und Arabesken geschmückt, die ganz oben an der Außenmauer des Klosters gegen die Toledanerstraße zu offen liegt.

Rosalinda war entzückt über die doppelte Wagenreihe, die um diese Zeit des Korso die Straße füllt; sie erkannte die meisten Wagen und die Damen darin. Das amüsierte sie und bedrückte sie zugleich.

Aber Verwirrung kam in ihr Herz, als sie unter einem Torweg einen jungen Mann erkannte, der zärtlich zu ihr hinauf einen Strauß wundervoller Blumen bewegte; es war Don Genarino, der seit Rosalindas Entführung ins Kloster jeden Tag hierher kam in der Hoffnung, sie auf dem Belvedere zu sehen; und da er um ihre Blumenliebe wußte, hatte er jedesmal, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, einen Strauß seltenster Blumen mitgebracht. Als Genarino sich erkannt sah, gab er ein sichtbares Zeichen seiner Freude, und bald folgtem diesem andere Zeichen, die zu beantworten sich Rosalinda hütete. Sie überlegte, daß nach der vom Kloster befolgten Regel Benedicti gut ein paar Wochen bis zu neuerlicher Erlaubnis das Belvedere zu besuchen vergehen könnten. Um sie herum war eine Menge sehr lustiger Nonnen, von denen fast alle ihren Freunden Zeichen machten, und diese jungen Damen schienen etwas geniert von der Anwesenheit dieses jungen Mädchens im weißen Schleier, die doch etwas erstaunt sein könnte über ihr wenig klösterliches Benehmen und ihr Sprechen mit den Herren da unten. Man muß wissen, daß in Neapel die Mädchen von Kindheit an die Fingersprache sprechen, bei der die verschiedenen Stellungen der Finger zueinander das Alphabet bilden. Man kann die Mädchen im Salon auf diese Weise leise sprechen sehen, während sich die betreffenden Eltern laut unterhalten.

Genarino zitterte bei dem Gedanken, Rosalindas Nonnentum könnte echt sein. Er war noch etwas weiter zurück in den Torweg getreten und sagte ihr von hier aus in den Kindersprache der Finger:

„Seitdem ich Sie nicht mehr sehe, bin ich unglücklich. Sind Sie im Kloster glücklich? Haben Sie so viel Freiheit, öfter auf das Belvedere zu kommen? Lieben Sie immer noch die Blumen?“

Rosalinda sah ihm voll ins Gesicht, aber antwortete nicht. Auf einmal verschwand sie, entweder von der Novizenmutter gerufen oder von den wenigen Worten Don Genarinos beleidigt. Der stand eine Weile bestürzt.

Dann stieg er das kleine Gehölz von Aranella hinauf, das über Neapel liegt; bis da hinauf zieht sich die Umfassungsmauer des weiten Klostergartens von San Petito. Weiter ging er seinen melancholischen Spaziergang und kam auf die Wiesenfläche von Vomero, von wo aus man über Neapel und das Meer blickt; nach ein paar hundert Schritten stand er vor dem großartigen Schlosse des Herzogs Vargas del Prado ehemals eine mittelalterliche Festung mit schwarzen kranelierten Mauern und berühmt in Neapel wegen seiner Düsterkeit und der Manie des Herzogs, sich nur von spanischen Domestiken bedienen zu lassen, die genau so alt waren wie er. Der alte Herzog sagte, daß er sich auf seinem Schlosse in Spanien glaube, und um diesen Eindruck zu vermehren, hatte er auch alle Bäume in der Umgebung umhauen lassen. Sooft es ihm nur der Dienst beim König erlaubte, begab sich der Herzog, um Luft zu schnappen, nach seinem Schloß San Nicola.

Das düstere Schloß vermehrte noch Genarinos Melancholie. Da packte ihn, als er unter der Mauer der Gärten von San Petito hinschritt, ein Gedanke. ‚Natürlich liebt sie noch die Blumen,‘ sagte er sich; ‚die Nonnen dürften deren kultivieren in ihrem Garten; also muß es wohl Gärtner geben; ich muß diese Gärtner kennenlernen.‘

In dieser sehr verlassenen Gegend gab es eine Osteria, in die Genarino eintrat; sein Anzug war für diesen Ort viel zu prächtig, und er merkte mit einigem Unbehagen, daß seine Anwesenheit Überraschung und Mißtrauen hervorrief; da tat er, als ob er sehr müde wäre und machte sich Liebkind mit den Wirtsleuten und dem Volk, das da seinen Schoppen Wein trank. Seiner offenen Art hatte er es zu danken, daß die Leute in der Kneipe ihm seine für den Ort etwas zu kostbaren Kleider verziehen. Genarino scheute sich nicht, mit dem Wirt und dessen Freunden ein paar Gläser von dem Bessern zu leeren, den er kommen ließ. Nach Verlauf einer Stunde Arbeit machte seine Anwesenheit keinen mehr mißtrauisch. Man riß Witze über die adeligen Nonnen von San Petito und über die Besucher, die manche von ihnen über die Gartenmauer weg empfingen.

Genarino bekam die Gewißheit, daß, worüber man in Neapel so viel redete, wirklich existiere. Die guten Leute von Vomero scherzten darüber, aber zeigten sich nicht im mindesten entrüstet über die weltlichen Gewohnheiten der Nonnen von San Petito.