Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца

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Aus der Reihe: Exklusive Klassik
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* * *

Am nächsten Morgen – ein blasser Nebel hängt noch über den Häusern, und die Fensterläden sind alle geschlossen, um den braven Schlaf der Bürger zu hüten, – reitet, wie jeden Morgen, unsere Eskadron auf das Exerzierfeld. In hottelndem Schritt geht es zuerst quer über das unbequeme Pflaster; noch ziemlich schlaftrunken, steif und verdrossen, schwanken meine Ulanen in ihren Sätteln. Bald haben wir die vier, fünf Gassen durchgetrottet, bereits auf der breiten Chaussee gehen wir über in einen leichten Trab und schwenken dann rechts ab gegen die offenen Wiesen. Ich kommandiere meinem Zug »Galopp«, und mit einem einzigen atmenden Stoß schnauben die anstürmenden Pferde los. Sie kennen schon das weiche, gute, weite Feld, die klugen Tiere; man muß sie weiter nicht antreiben, locker kann man die Zügel lassen, denn kaum daß sie den Schenkeldruck gespürt haben, legen die Gäule mit aller Kraft los. Auch sie fühlen die Lust der Erregung und der Entspannung.

Ich reite voran. Ich reite leidenschaftlich gern. Rieselnd spüre ich von den Hüften her das schwingende, schlingernde Blut im aufgelockerten Leib als lebendige Lebenswärme kreisen, indes einem sausend die kalte Luft um Stirn und Backen fährt. Herrliche morgendliche Luft: den Tau der Nacht schmeckt man noch darin, den Atem der aufgelockerten Erde, den Ruch der blühenden Felder, und zugleich umfließt einen der warme, sinnliche Dampf der atmenden Nüstern. Immer begeistert mich von neuem dieser erste Morgengalopp, der den stockigen, schlaftrunkenen Leib so wohlig durchschüttelt und die Benommenheit wie dumpfen Nebel wegreißt; unwillkürlich dehnt das Gefühl der Leichtigkeit, die mich trägt, mir die Brust, und mit aufgetanen Lippen trinke ich die sausende Luft in mich ein. »Galopp! Galopp!« – ich spüre die Augen heller, die Sinne lebendiger werden, und hinter mir klingt in regelmäßigem Rhythmus das Klickern der Säbel, das stoßende Schnauben der Pferde, das weiche, knisternde Quellen und Quietschen der Sättel, der gleiche schlagende Takt der Hufe. Ein einziger centaurischer Leib ist diese sausende Gruppe der Männer und Pferde, von einem einzigen Schwung getragen. Vor, vor, vor, Galopp, Galopp, Galopp! Ah, so reiten, so reiten bis ans Ende der Welt! Mit dem heimlichen Stolz, Herr und Schöpfer dieser Lust zu sein, wende ich mich manchmal im Sattel zurück, um meine Leute anzuschauen. Und mit einemmal sehe ich, alle meine braven Ulanen haben andere Gesichter. Die schwere ruthenische Bedrücktheit, die Dumpfheit, die Unausgeschlafenheit ist wie Ruß weggewischt von ihren Augen. Straffer richten sie sich auf, da sie sich beobachtet fühlen, mit lächelndem Mund erwidern sie die Freude in meinem Blick. Ich spüre, auch diese dumpfen Bauernburschen sind durchdrungen von der Lust der sausenden Bewegung, diesem Vortraum menschlichen Flugs. Alle empfinden sie genau so beseligt wie ich das animalische Glück ihres Jungseins, ihrer angespannten und zugleich erlösten Kraft.

Aber plötzlich kommandiere ich: »Haaalt! Trab!« Mit einem überraschten Ruck reißen alle die Zügel an. Der ganze Zug fällt wie eine scharf abgebremste Maschine in die schwerfälligere Gangart. Etwas verdutzt schielen sie zu mir herüber, denn sonst – sie kennen mich und meine unbändige Reitlust – preschen wir in einem einzigen scharfen Galopp über die Wiesen bis zum abgesteckten Exerzierfeld durch. Doch mir war, als hätte jählings eine fremde Hand meinen Zügel angerissen: ich habe mich plötzlich an etwas erinnert. Unbewußt muß ich am Rand des Horizonts links drüben das weiße Karree der Mauer, die Bäume des Schloßgartens und das Turmdach wahrgenommen haben, wie ein Schuß ist es in mich hineingefahren: vielleicht sieht dir jemand von dort zu! Jemand, den du mit deiner Tanzlust gekränkt hast und mit deiner Reitlust neuerdings kränkst. Jemand mit lahmen, gefesselten Beinen, der dir’s neiden könnte, dich so vogelhaft leicht hinsausen zu sehen. Jedenfalls, plötzlich schäme ich mich, so gesund, ungehemmt und rauschhaft hinzustürmen, ich schäme mich dieses allzu körperlichen Glücks als einer ungehörigen Bevorzugung. Langsam, in schwerem Hott und Trott, lasse ich hinter mir meine enttäuschten Burschen durch die Wiesen traben. Vergebens warten sie, ich spüre es, ohne sie anzusehen, auf ein Kommando, das sie neuerdings in Schwung setzt.

Freilich, im gleichen Augenblick, da diese sonderbare Hemmung mich überfällt, weiß ich auch schon, daß solche Kasteiung dumm und zwecklos ist. Ich weiß, daß es keinen Sinn hat, sich einen Genuß zu versagen, weil er andern versagt ist, sich ein Glück zu verbieten, weil irgendein anderer unglücklich ist. Ich weiß, daß in jeder Sekunde, während wir lachen und einfältige Scherze reißen, irgendwo einer in seinem Bette röchelt und stirbt, daß hinter tausend Fenstern sich Elend duckt und Menschen hungern, daß es Krankenhäuser, Steinbrüche und Kohlenbergwerke gibt, daß in Fabriken, in Ämtern, in Zuchthäusern Unzählige in Frondienst gespannt sind zu jeder Stunde, und keinem leichter wird in seiner Not, wenn noch ein anderer sich sinnlos quält. Wollte man beginnen, darüber bin ich mir klar, das gleichzeitige Elend dieser Erde sich auszudenken, es würgte einem den Schlaf ab und erstickte einem jedes Lachen im Mund. Aber immer ist es ja nicht das erdachte, das imaginierte Leiden, das einen bestürzt und zernichtet; nur was die Seele mit mitfühlenden Augen leibhaftig gesehen, vermag sie wahrhaft zu erschüttern. So nah und wesenhaft wie in einer Vision hatte ich inmitten meiner leidenschaftlichen Beschwingtheit plötzlich das blasse, verzerrte Gesicht zu erblicken vermeint, wie sie auf ihren Krücken sich durch den Saal schleppte, und gleichzeitig das Tocken und Tappen gehört und das Klirren und Quietschen der verborgenen Maschinen an den kranken Gelenken; gleichsam im Schreck, ohne zu denken, ohne zu überlegen, hatte ich die Zügel angerissen. Es hilft nichts, daß ich mir jetzt nachträglich sage: wem nützt du damit, daß du dummen schweren Trab reitest statt des mitreißenden, aufreizenden Galopps? Aber doch, der Stoß hat irgendeine Stelle meines Herzens getroffen, die nahe dem Gewissen liegt; ich habe nicht den Mut mehr, kraftvoll, frei und gesund die Lust meines Körpers zu genießen. Langsam, schläfrig trotten wir hin bis zur Lisière, die zum Exerzierfeld führt; erst wie wir völlig außer Blickweite des Schlosses sind, rüttle ich mich auf und sage mir: »Unsinn! Laß diese dummen Sentimentalitäten!« Und kommandiere: »Vorwärts! Gaa-lopp!«

Mit diesem einen plötzlichen Zügelriß begann es. Er war gleichsam das erste Symptom jener sonderbaren Vergiftung durch Mitgefühl. Zunächst spürte ich nur dumpf – etwa wie man bei einer Krankheit mit benommenem Kopfe aufwacht –, daß etwas mit mir geschehen war oder geschah. Bisher hatte ich in meinem engumzirkten Lebenskreis achtlos dahingelebt. Ich hatte mich einzig um das gekümmert, was meinen Kameraden, was meinen Vorgesetzten wichtig oder amüsant erschien, niemals aber hatte ich an etwas persönlich Anteil genommen oder jemand an mir. Nie hatte mich etwas eigentlich erschüttert. Meine Familienverhältnisse waren geregelt, mein Beruf, meine Karriere abgegrenzt und reglementiert, und diese Unbekümmertheit hatte – ich begriff es erst jetzt – mein Herz gedankenlos gemacht. Nun plötzlich war etwas an mir, mit mir geschehen – nichts äußerlich Sichtbares, nichts dem Anschein nach Wesentliches. Aber doch, dieser eine zornige Blick, da ich in den Augen der Gekränkten eine bisher ungeahnte Tiefe menschlichen Leidens erkannt, hatte etwas in mir aufgesprengt, und nun strömte von innen eine jähe Wärme durch mich hin, jenes geheimnisvolle Fieber erregend, das mir selbst unerklärlich blieb wie immer dem Kranken seine Krankheit. Ich begriff davon zunächst nicht mehr, als daß ich den gesicherten Kreis, innerhalb dessen ich bisher unbefangen dahingelebt, nun überschritten hatte und eine neue Zone betreten, die wie jedes Neue erregend und beunruhigend zugleich war; zum erstenmal sah ich einen Abgrund des Gefühls aufgerissen, den auszumessen und in den sich hinabzustürzen mir auf unerklärliche Weise verlockend schien. Aber gleichzeitig warnte mich ein Instinkt, solch verwegener Neugier nachzugeben. Er mahnte: »Genug! Du hast dich entschuldigt. Du hast die dumme Sache ins reine gebracht.« Aber »Geh nochmals hin!« raunte eine andere Stimme in mir. »Fühle noch einmal diesen Schauer über den Rücken hinwehen, dieses Rieseln von Angst und Spannung!« Und: »Laß ab«, warnte es wieder. »Dräng dich nicht auf, dräng dich nicht ein! Du wirst, simpler junger Mensch, der du bist, diesem Übermaß nicht gewachsen sein und noch ärgere Albernheiten begehen als das erste Mal.«

Überraschenderweise wurde diese Entscheidung mir selber abgenommen, denn drei Tage später lag ein Brief von Kekesfalva auf meinem Tisch, ob ich nicht sonntags bei ihnen dinieren möchte. Es kämen diesmal nur Herren, darunter jener Oberstleutnant von F. aus dem Kriegsministerium, von dem er mir gesprochen hätte, und selbstverständlich würden sich auch seine Tochter und Ilona besonders freuen. Ich schäme mich nicht, einzugestehen, daß diese Einladung mich eher schüchternen jungen Menschen sehr stolz machte. Man hatte mich also doch nicht vergessen, und die eine Bemerkung, daß Oberstleutnant von F. käme, schien sogar anzudeuten, daß Kekesfalva (ich verstand sofort, aus welchem Gefühl der Dankbarkeit) mir auf diskrete Art eine dienstliche Protektion verschaffen wollte.

Und wirklich, ich hatte es nicht zu bereuen, daß ich sofort zusagte. Es wurde ein richtiger gemütlicher Abend, und ich subalterner Offizier, um den sich beim Regiment niemand recht kümmerte, hatte das Gefühl, einer besonderen, völlig ungewohnten Herzlichkeit bei diesen älteren und soignierten Herren zu begegnen – offenbar hatte Kekesfalva sie auf eine besondere Weise auf mich aufmerksam gemacht. Zum erstenmal in meinem Leben behandelte mich ein höherer Vorgesetzter ohne jede rangliche Überlegenheit. Er erkundigte sich, ob ich zufrieden wäre bei meinem Regiment und wie es mit meinem Avancement stünde. Er ermutigte mich, wenn ich nach Wien käme oder sonst einmal etwas benötigte, bei ihm vorzusprechen. Der Notar wiederum, ein glatzköpfiger, munterer Mann mit einem gutmütig glänzenden Mondgesicht, lud mich in sein Haus, der Direktor der Zuckerfabrik richtete immer wieder das Wort an mich – welch eine andere Art Konversation als in unserer Offiziersmesse, wo ich jeder Meinung eines Vorgesetzten mit einem »gehorsamst« beipflichten mußte! Rascher als ich dachte, kam eine gute Sicherheit über mich, und schon nach einer halben Stunde sprach ich vollkommen ungehemmt mit.

 

Abermals tischten die beiden Diener Dinge auf, die ich bisher nur vom Hörensagen und vom Prahlen begüterter Kameraden kannte; Kaviar, köstlichen, eisgekühlten, ich schmeckte ihn zum erstenmal, Rehpastete und Fasanen, und dazu immer wieder diese Weine, die wohlig die Sinne beschwingten. Ich weiß, daß es dumm ist, von solchen Dingen sich imponieren zu lassen. Aber warum es leugnen? Ich kleiner, junger, unverwöhnter Leutnant genoß es mit geradezu kindischer Eitelkeit, mit so angesehenen älteren Herren derart schlaraffisch zu tafeln. Donnerwetter, dachte ich immer wieder, Donnerwetter, das sollte der Wawruschka sehen und der käsige Freiwillige, der uns immer anprotzt, wie üppig sie in Wien beim Sacher diniert haben! In ein solches Haus sollten sie einmal kommen, da würden sie Mund und Augen aufreißen! Ja, wenn sie zuschauen dürften, diese Neidhammel, wie ich da munter sitze und der Oberstleutnant aus dem Kriegsministerium mir zutrinkt, wie ich mit dem Direktor der Zuckerfabrik freundschaftlich diskutiere und er dann ganz ernsthaft äußert: »Ich bin überrascht, wie Sie mit all dem vertraut sind.«

Der schwarze Kaffee wird im Boudoir serviert, Kognak marschiert auf in großen, bauchigen, eisgekühlten Gläsern und dazu wiederum jenes Kaleidoskop von Schnäpsen, selbstverständlich auch die famosen dicken Zigarren mit den pompösen Bauchbinden. Mitten im Gespräch beugt sich Kekesfalva zu mir heran, um diskret anzufragen, was mir lieber sei: ob ich mitspielen wolle bei der Kartenpartie oder vorzöge, mit den Damen zu plaudern. Natürlich das letztere, erkläre ich schleunigst, denn mir wäre es doch nicht ganz behaglich, mit einem Oberstleutnant aus dem Kriegsministerium einen Rubber zu riskieren. Gewinnt man, so kann man ihn vielleicht verärgern, verliere ich, ist mein Monatsbudget geschmissen. Und dann, erinnere ich mich, habe ich im ganzen höchstens zwanzig Kronen in der Brieftasche.

So setze ich mich, während nebenan der Spieltisch aufgeschlagen wird, zu den beiden Mädchen, und sonderbar – ist es der Wein oder die gute Laune, die mir alles verklärt? – sie scheinen mir heute beide besonders hübsch. Edith sieht nicht so blaß, so gelblich, so kränklich aus wie das letztemal – mag sein, daß sie den Gästen zu Ehren etwas Rot aufgelegt hat, oder es ist wirklich nur die animierte Stimmung, die ihr die Wangen färbt; jedenfalls, es fehlt die gespannte, nervös flattrige Falte um ihren Mund und das eigenwillige Zucken der Brauen. In einem langen rosa Kleid sitzt sie da, kein Pelz, keine Decke verbirgt ihr Gebrest, und doch denke ich, denken wir alle in unserer guten Laune nicht »daran«. Bei Ilona hege ich sogar den leisen Verdacht, daß sie sich einen leichten Schwips angetrunken hat, ihre Augen knallen nur so, und wenn sie lachend ihre schönen, vollen Schultern zurückwirft, muß ich wirklich abrücken, um der Versuchung zu widerstehen, ihre bloßen Arme durch halben Zufall anzustreifen!

Mit einem Kognak hinter der Kehle, der einen wunderbar durchwärmt, mit einer schönen, schweren Zigarre, deren Rauch einem köstlich die Nase kitzelt, mit zwei hübschen, angeregten Mädchen neben sich und nach einem derart sukkulenten Diner fällt es auch dem Dümmsten nicht schwer, aufgeräumt zu plaudern. Ich weiß, ich kann im allgemeinen ganz gut erzählen, außer wenn mich meine verfluchte Schüchternheit hemmt. Aber diesmal bin ich ganz besonders in Form und konversiere mit wirklichem Animo. Natürlich sind es nur dumme kleine Geschichten, die ich auftische, gerade das Letzte, das sich bei uns ereignet hat, etwa wie der Oberst vorige Woche einen Eilbrief noch vor Postschluß zum Wiener Schnellzug schicken wollte und einen Ulanen rief, einen rechten ruthenischen Bauernjungen, und ihm einschärfte, der Brief müsse sofort nach Wien, worauf der dumme Kerl spornstreichs in den Stall rennt, sein Pferd sattelt und geradeaus auf der Landstraße nach Wien losgaloppiert; hätte man nicht noch telephonisch das nächste Kommando verständigt, so wäre der Esel wirklich die achtzehn Stunden geritten. Es sind also, bei Gott, keine tiefsinnigen Gescheitheiten, mit denen ich mich und die andern strapaziere, wirklich nur Allerweltsgeschichten, Kasernenhofblüten ältester und neuester Fechsung, aber – ich bin selbst darüber erstaunt – sie amüsieren die beiden Mädels unbändig, beide lachen ununterbrochen. Ediths Lachen klingt besonders übermütig mit seinem hohen silbrigen Ton, der im scharfen Diskant manchmal leicht überschlägt, aber die Lustigkeit muß bei ihr wirklich und ehrlich von innen kommen, denn die porzellanen dünne und durchsichtige Haut ihrer Wangen zeigt immer lebhaftere Tönung, ein Hauch von Gesundheit und sogar Hübschheit erhellt ihr Gesicht, und ihre grauen Augen, sonst etwas stählern und scharf, funkeln von einer kindlichen Freude. Gut ist es, sie anzusehen, solange sie ihren gefesselten Körper vergißt, denn freier und immer freier werden dadurch ihre Bewegungen, lockerer ihre Gesten; völlig unbefangen lehnt sie sich zurück, sie lacht, sie trinkt, sie zieht Ilona an sich heran und legt ihr den Arm um die Schulter; wirklich, die beiden amüsieren sich mit meinen Kinkerlitzchen ganz famos. Erfolg im Erzählen hat nun immer etwas Anfeuerndes für den Erzähler; eine Menge Geschichten fallen mir ein, die ich längst vergessen hatte. Sonst eher ängstlich und verlegen, finde ich einen mir ganz neuen Mut: ich lache mit und mache sie lachen. Wie übermütige Kinder kuscheln wir drei uns in der Ecke zusammen.

Und doch, während ich so ununterbrochen spaße und ganz eingetan scheine in unseren munteren Kreis, spüre ich gleichzeitig halb unbewußt, halb bewußt einen Blick, der mich beobachtet. Er kommt über ein Brillenglas, dieser Blick, er kommt herüber vom Kartentisch, und es ist ein warmer, ein glücklicher Blick, der mein eigenes Glücklichsein noch steigert. Ganz heimlich (ich glaube, er schämt sich vor den andern), ganz vorsichtig schielt der alte Mann von Zeit zu Zeit über seine Karten zu uns herüber, und einmal, da ich seinen Blick auffange, nickt er mir vertraulich zu. Sein Gesicht hat in diesem Augenblick den gesammelten, spiegelnden Glanz eines, der Musik hört.

Das dauert beinahe bis Mitternacht; nicht ein einzigesmal kommt unser Plaudern ins Stocken. Noch einmal wird etwas Gutes serviert, wunderbare Sandwiches, und merkwürdigerweise bin ich es nicht allein, der fest zugreift. Auch die beiden Mädchen packen kräftig ein, auch sie trinken ausgiebigst von dem schönen, schweren, schwarzen, alten englischen Port. Aber schließlich muß doch Abschied genommen werden. Wie einem alten Freunde, einem lieben, verläßlichen Kameraden, schütteln Edith und Ilona mir die Hand. Selbstverständlich muß ich ihnen versprechen, bald zu kommen, morgen schon oder übermorgen. Und dann gehe ich mit den drei andern Herren hinaus in die Halle. Das Auto soll uns nach Hause bringen. Ich hole mir selbst meinen Rock, indes der Diener beschäftigt ist, dem Oberstleutnant behilflich zu sein. Plötzlich spüre ich, wie mir jemand beim Umschwingen des Rocks helfen will: es ist Herr von Kekesfalva, und während ich ganz erschrocken abwehre (wie kann ich mich von ihm bedienen lassen, ich grüner Junge von dem alten Herrn?), drängt er flüsternd heran.

»Herr Leutnant«, raunt mir der alte Mann ganz scheu zu. »Ach Herr Leutnant, Sie wissen gar nicht. Sie können’s sich nicht denken, wie mich das glücklich gemacht hat, das Kind wieder einmal richtig lachen zu hören. Sie hat ja sonst gar keine Freude. Und heute war sie beinah wie früher, wenn …«

In diesem Augenblick tritt der Oberstleutnant auf uns zu. »Na, gehn wir?« lächelt er mich freundlich an. Selbstverständlich wagt Kekesfalva nicht, vor ihm weiterzusprechen, aber ich spüre, wie plötzlich die Hand des alten Mannes mir über den Ärmel streift, ganz, ganz leise und schüchtern über den Ärmel streift, so wie man ein Kind liebkost oder eine Frau. Eine unermeßliche Zärtlichkeit, unermeßliche Dankbarkeit liegt gerade im Versteckten und Verdeckten dieser scheuen Berührung; so viel Glück und so viel Verzweiflung fühle ich darin, daß ich abermals ganz erschüttert bin, und während ich militärisch respektvoll neben dem Herrn Oberstleutnant zum Auto die drei Stufen hinabschreite, muß ich mich gut zusammenhalten, damit niemand meine Benommenheit bemerkt.

* * *

Ich konnte nicht gleich schlafen gehen an jenem Abend, ich war zu erregt. So winzig der Anlaß sich auch, von außen gesehen, darstellen mochte – es war doch schließlich nichts Weiteres geschehen, als daß ein alter Mann mir zärtlich den Ärmel gestreichelt hatte – diese eine verhaltene Geste inbrünstigen Danks hatte schon ausgereicht, um ein Innerlichstes in mir zum Fluten und Überfluten zu bringen. Ich hatte in dieser überwältigenden Berührung eine Zärtlichkeit von so keuscher und doch leidenschaftlicher Innigkeit erfahren, wie nicht einmal von einer Frau. Zum erstenmal in meinem Leben war mir jungem Menschen Gewißheit geworden, irgend jemandem auf Erden geholfen zu haben, und maßlos war mein Staunen, daß ich kleiner, mittelmäßiger, unsicherer Offizier wirklich Macht haben sollte, jemanden derart glücklich zu machen. Vielleicht muß ich, um das Berauschende, das für mich in dieser jähen Entdeckung lag, zu erklären, mich selbst erst wieder erinnern, daß nichts seit meiner Kindheit mir dermaßen auf der Seele gelastet hatte wie die Überzeugung, ich sei ein völlig überflüssiger Mensch, allen andern uninteressant und bestenfalls gleichgültig. In der Kadettenschule, in der Militärakademie hatte ich immer nur zu den mittleren, völlig unauffälligen Schülern gehört, nie zu den beliebten oder besonders bevorzugten, und nicht besser ging’s mir beim Regiment. So war ich im tiefsten überzeugt, daß wenn ich plötzlich verschwinden würde, etwa vom Pferd fallen und mir das Genick brechen, die Kameraden vielleicht sagen würden »Schad um ihn« oder »Der arme Hofmiller«, aber nach einem Monat würde ich niemandem wirklich fehlen. An meine Stelle, auf mein Pferd würde ein anderer gesetzt, und dieser andere würde genau so gut oder schlecht meinen Dienst machen. Genau wie bei den Kameraden war es mir bei den paar Mädeln ergangen, mit denen ich in meinen zwei Garnisonen Verhältnisse gehabt hatte; in Jaroslau mit der Assistentin eines Zahnarztes, in Wiener Neustadt mit einer kleinen Näherin; wir waren zusammen ausgegangen, ich hatte Annerl an ihrem freien Tag ins Zimmer genommen, ihr zum Geburtstag ein kleines Halsband aus Korallen geschenkt; man hatte sich die üblichen zärtlichen Worte gesagt, wahrscheinlich sie auch wirklich ehrlich gemeint. Doch als ich dann abkommandiert wurde, hatten wir beide uns rasch getröstet; die ersten drei Monate schrieben wir uns noch ab und zu die obligaten Briefe, dann freundeten wir uns jeder mit anderen an; der ganze Unterschied blieb, daß sie in zärtlicher Aufwallung nun dem andern Ferdl sagte statt Toni. Vorüber, vergessen. Nirgends aber hatte bisher ein starkes, ein leidenschaftliches Gefühl mich, den Fünfundzwanzigjährigen, zum Anlaß genommen, und ich selbst erwartete und forderte im Grunde vom Leben gar nicht mehr, als sauber und korrekt meinen Dienst zu tun und in keiner Weise unangenehm aufzufallen.

Nun aber war das Unerwartete geschehen, und staunend blickte ich mit aufgeschreckter Neugier mich selber an. Wie? Auch ich mittelmäßiger junger Mensch hatte Macht über andere Menschen? Ich, der keine fünfzig Kronen ehrlich meinen Besitz nennen konnte, vermochte einem reichen Manne mehr Glück zu schenken als alle seine Freunde? Ich, Leutnant Hofmiller, konnte jemandem helfen, ich konnte jemanden trösten? Wenn ich mich einen Abend, zwei Abende zu einem lahmen, verstörten Mädchen setzte und mit ihr plauderte, wurden ihre Augen hell, ihre Wangen atmeten Leben, und ein ganzes verdüstertes Haus ward licht durch meine Gegenwart?

Ich gehe so rasch in meiner Erregung durch die dunkeln Gassen, daß mir ganz warm wird. Am liebsten möchte ich den Rock aufreißen, so dehnt sich mir das Herz. Denn in dieser Überraschung drängt und enthüllt sich unvermutet eine neue, eine zweite, die noch berauschender wirkt – nämlich, daß es so leicht war, so rasend leicht, diese fremden Menschen zu Freunden zu gewinnen. Was hatte ich denn viel geleistet? Ich hatte ein bißchen Mitleid gezeigt, ich hatte zwei Abende und zwar fröhliche, heitere, beschwingte Abende in dem Hause verbracht, und schon das war genug gewesen? Wie dumm dann, seine ganze freie Zeit tagtäglich im Kaffee zu verdösen, mit langweiligen Kameraden stumpfsinnig Karten zu spielen oder den Korso hinauf und hinunter zu promenieren. Nein, von nun ab nicht mehr diesen Stumpfsinn, diesen ludrigen Leerlauf! Mit wirklicher Leidenschaft nehme ich junger, plötzlich aufgeweckter Mensch mir vor, während ich immer hastiger hinschreite durch die weiche Nacht: Ich will von nun ab mein Leben ändern. Ich werde weniger ins Kaffeehaus gehen, werde aufhören mit dem dummen Tarockieren und Billardspiel, werde energisch Schluß machen mit allen diesen Zeittotschlägereien, die niemandem nützen und mich selber verdummen. Ich werde lieber dieser Kranken öfters Besuch machen, mich sogar jedesmal besonders vorbereiten, damit ich den beiden Mädchen immer etwas Nettes und Lustiges erzählen kann, wir werden zusammen Schach spielen oder sonst die Zeit behaglich verbringen; schon dieser bloße Vorsatz, zu helfen, und von nun ab andern nützlich zu sein, erregt in mir eine Art Begeisterung. Ich möchte am liebsten singen, ich möchte etwas Unsinniges tun aus diesem Gefühl der Beschwingtheit; immer erst, sobald man weiß, daß man auch andern etwas ist, fühlt man Sinn und Sendung der eigenen Existenz.

 

So kam es und nur so, daß ich in den nächsten Wochen die Spätnachmittage und meist auch die Abende bei den Kekesfalvas verbrachte; bald wurden diese freundschaftlichen Plauderstunden schon Gewöhnung und eine nicht ungefährliche Verwöhnung dazu. Aber welche Verlockung auch für einen seit den Knabenjahren von einer Militäranstalt in die andere herumgestoßenen jungen Menschen, unverhofft ein Zuhause zu finden, eine Heimat des Herzens statt kalter Kasernenräume und rauchiger Kameradschaftsstuben! Wenn ich nach erledigtem Dienst, halb fünf oder fünf, hinauswanderte, schlug meine Hand noch nicht recht auf den Klopfer, und schon riß der Diener freudigst die Tür auf, als hätte er durch ein magisches Guckloch mein Kommen beobachtet. Alles deutete mir liebevoll-sichtbar an, wie selbstverständlich man mich als zur Familie gehörig rechnete; jeder meiner kleinen Schwächen und Vorlieben war vertraulicher Vorschub geleistet. Von Zigaretten lag immer just meine Lieblingssorte bereit, ein beliebiges Buch, von dem ich das letzte Mal zufällig erwähnt hatte, ich würde es gerne einmal lesen, fand sich wie durch Zufall neu und doch schon vorsorglich aufgeschnitten auf dem kleinen Taburett, ein bestimmter Fauteuil gegenüber Ediths Chaiselongue galt unumstößlich als »mein« Platz – Kleinigkeiten, Nichtigkeiten dies alles, gewiß, aber doch solche, die einen fremden Raum wohltuend mit Heimischkeit durchwärmen und den Sinn unmerklich erheitern und erleichtern. Da saß ich dann, sicherer als je im Kreis meiner Kameraden, plauderte und spaßte, wie es mir vom Herzen kam, zum erstenmal wahrnehmend, daß jede Form der Gebundenheit die eigentlichen Kräfte der Seele bindet und das wahre Maß eines Menschen erst in seiner Unbefangenheit zutage tritt.

Aber noch ein anderes, viel Geheimnisvolleres hatte unbewußt Anteil daran, daß mich das tägliche Beisammensein mit den beiden Mädchen so sehr beschwingte. Seit meiner frühzeitigen Auslieferung an die Militäranstalt, seit zehn, seit fünfzehn Jahren also, lebte ich unausgesetzt in männlicher, in männischer Umgebung. Von morgens bis nachts, von nachts bis früh, im Schlafraum der Militärakademie, in den Zelten der Manöver, in den Stuben, bei Tisch und unterwegs, in der Reitschule und im Lehrzimmer, immer und immer atmete ich im Luftraum nur Dunst des Männlichen um mich, erst Knaben, dann erwachsene Burschen, aber immer Männer, Männer, schon gewöhnt an ihre energischen Gebärden, ihren festen, lauten Gang, ihre gutturalen Stimmen, ihren knastrigen Geruch, ihre Ungeniertheit und manchmal sogar Ordinärheit. Gewiß, ich hatte die meisten meiner Kameraden herzlich gern und durfte wahrhaftig nicht klagen, daß sie es nicht ebenso herzlich meinten. Aber eine letzte Beschwingtheit fehlte dieser Atmosphäre, sie enthielt gleichsam nicht genug Ozon, nicht genug spannende, prickelnde, elektrisierende Kräfte. Und wie unsere prächtige Militärkapelle trotz ihres vorbildlich rhythmischen Schwungs doch immer nur kalte Blechmusik blieb, also hart, körnig und einzig auf Takt eingestellt, weil ihr der zärtlich-sinnliche Streicherton der Violinen fehlte, so entbehrten sogar die famosesten Stunden unserer Kameraderie jenes sordinierenden Fluidums, das immer die Gegenwart oder auch nur Atemnähe von Frauen jeder Geselligkeit beimischt. Schon damals, als wir Vierzehnjährigen je zwei und zwei in unseren verschnürten kleidsamen Kadettenmonturen durch die Stadt promenierten, hatten wir, wenn wir andern jungen Burschen mit Mädchen flirtend oder nachlässig plaudernd begegneten, wirr sehnsüchtig empfunden, daß durch die seminaristische Einkasernierung etwas unserer Jugend gewalttätig entzogen wurde, was unseren Altersgenossen tagtäglich auf Straße, Korso, Eisbahn und im Tanzsaal ganz selbstverständlich zugeteilt war: der unbefangene Umgang mit jungen Mädchen, indessen wir, die Abgesonderten, die Eingegitterten, diesen kurzröckigen Elfen wie zauberischen Wesen nachstarrten, von einem einmaligen Gespräch mit einem Mädchen schon wie von einer Unerreichbarkeit träumend. Solche Entbehrung vergißt sich nicht. Daß späterhin rasche und meist billige Abenteuer mit allerhand gefälligen Weibspersonen sich einstellten, bot keinerlei Ersatz für diese sentimentalen Knabenträume, und ich spürte an der Ungelenkigkeit und Blödigkeit, mit der ich jedesmal (obwohl ich schon mit einem Dutzend Frauen geschlafen) in der Gesellschaft herumstotterte, sobald ich zufällig an ein junges Mädchen geriet, daß mir jene naive und natürliche Unbefangenheit durch allzulange Entbehrungen für allezeit versagt und verdorben war.

Und nun hatte sich plötzlich dies uneingestandene knabenhafte Verlangen, eine Freundschaft statt mit bärtigen, männischen, ungehobelten Kameraden einmal mit jungen Frauen zu erleben, auf die vollkommenste Weise erfüllt. Jeden Nachmittag saß ich, Hahn im Korbe, zwischen den beiden Mädchen; das Helle, das Weibliche ihrer Stimmen tat mir (ich kann es nicht anders ausdrücken) geradezu körperlich wohl, und mit einem kaum zu beschreibenden Glücksgefühl genoß ich zum erstenmal mein eigenes Nichtscheusein mit jungen Mädchen. Denn es steigerte nur das besonders Glückhafte in unserer Beziehung, daß durch eigenartige Umstände jener elektrisch knisternde Kontakt abgeschaltet war, der sich sonst unaufhaltsam bei jedem längeren Zuzweitsein von jungen Leuten verschiedenen Geschlechts ergibt. Völlig fehlte unseren ausdauernden Plauderstunden alles Schwülende, das sonst ein tête-à-tête im Halbdunkel so gefährlich macht. Zuerst freilich – ich gestehe es willig ein – hatten die küßlich vollen Lippen, die fülligen Arme Ilonas, die magyarische Sinnlichkeit, die sich in ihren weichen, schwingenden Bewegungen verriet, mich jungen Menschen auf die angenehmste Art irritiert. Ich mußte einigemal meine Hände in straffer Dressur halten gegen das Verlangen, einmal dies warme, weiche Ding mit den schwarzen, lachenden Augen an mich heranzureißen und ausgiebigst abzuküssen. Aber erstlich vertraute mir Ilona gleich in den Anfangstagen unserer Bekanntschaft an, daß sie seit zwei Jahren einem Notariatskandidaten in Becskeret verlobt sei und nur die Wiederherstellung oder Besserung im Befinden Ediths abwarte, um ihn zu heiraten ich erriet, daß Kekesfalva der armen Verwandten eine Mitgift zugesagt hatte, falls sie bishin ausharre. Und überdies, welcher Roheit, welcher Perfidie hätten wir uns schuldig gemacht, im Rücken dieser rührenden, ohnmächtig an den Rollstuhl gefesselten Gefährtin kleine Küßlichkeiten oder Handgreiflichkeiten ohne rechte Verliebtheit zu versuchen. Sehr rasch also versickerte der anfängliche sinnlich flirrende Reiz, und was ich an Zuneigung zu empfinden imstande war, wandte sich auf immer innigere Weise der Hilflosen, der Zurückgesetzten zu, denn zwanghaft bindet sich in der geheimnisvollen Chemie der Gefühle Mitleid für einen Kranken unmerklich mit Zärtlichkeit. Neben der Gelähmten zu sitzen, sie im Gespräch zu erheitern, ihren schmalen unruhigen Mund durch ein Lächeln beschwichtigt zu sehen oder manchmal, wenn sie, einer heftigen Laune nachgebend, ungeduldig aufzuckte, schon durch das bloße Auflegen der Hand beschämte Nachgiebigkeit zu erzielen und dafür noch einen dankbaren grauen Blick zu empfangen – solche kleinen Vertraulichkeiten einer seelischen Freundschaft beglückten mich bei dieser Wehrlosen, dieser Kraftlosen mehr, als es die leidenschaftlichsten Abenteuer mit ihrer Freundin vermocht hätten. Und dank dieser leisen Erschütterungen entdeckte ich – wie viele Erkenntnisse verdankte ich schon diesen wenigen Tagen! – mir völlig unbekannte und ungeahnt zartere Zonen des Gefühls.