Sternstunden der Menschheit

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Die Mauern und die Kanonen

Byzanz hat nur eine Macht und Stärke mehr, seine Mauern; nichts ist ihm von seiner einstigen weltumspannenden Vergangenheit geblieben als dieses Erbe einer größeren und glücklicheren Zeit. Mit dreifachem Panzer ist das Dreieck der Stadt gedeckt. Niederer, aber noch immer gewaltig, decken die steinernen Mauern die beiden Flanken der Stadt gegen das Marmarameer und das Goldene Horn; gigantische Maße dagegen entfaltet die Brustwehr gegen das offene Land, die sogenannte Theodosische Mauer. Schon Konstantin hatte vordem in Erkenntnis künftiger Gefährdung Byzanz mit Quadern gegürtet und Justinian diese Wälle weiter ausgebaut und befestigt; das eigentliche Bollwerk aber schaffte erst Theodosius mit der sieben Kilometer langen Mauer, von deren quaderner Kraft noch heute die efeuumschlungenen Überreste Zeugnis ablegen. Geziert mit Scharten und Zinnen, geschützt durch Wassergräben, bewacht von mächtigen quadratischen Türmen, in doppelter und dreifacher Parallelreihe errichtet und von jedem Kaiser der tausend Jahre abermals ergänzt und erneuert, gilt dieser majestätische Ringwall seiner Zeit als das vollendete Sinnbild der Uneinnehmbarkeit. Wie einst dem zügellosen Ansturm der Barbarenhorden und den Kriegsscharen der Türken, so spotten diese quadernen Blöcke auch jetzt noch aller bislang erfundenen Kriegsinstrumente, ohnmächtig prallen die Geschosse der Sturmböcke, der Widder und selbst der neuen Feldschlangen und Mörser von ihrer aufrechten Wand, keine Stadt Europas ist fester und besser geschirmt als Konstantinopel durch die Theodosische Mauer.

Mahomet nun kennt besser als irgendeiner diese Mauern und kennt ihre Stärke. In Nachtwachen und Träumen beschäftigt ihn seit Monaten und Jahren nur der eine Gedanke, wie diese Uneinnehmbaren zu nehmen, diese Unzertrümmerbaren zu zertrümmern wären. Auf seinem Tisch häufen sich die Zeichnungen, die Maße, die Risse der feindlichen Befestigungen, er kennt jede Hügelung vor und hinter den Mauern, jede Senke, jeden Wasserlauf, und seine Ingenieure haben mit ihm jede Einzelheit durchdacht. Aber Enttäuschung: alle haben sie errechnet, daß man mit den bisher angewandten Geschützen die Theodosische Mauer nicht zertrümmern kann.

Also stärkere Kanonen schaffen! Längere, weiter tragende, schußkräftigere, als sie bisher die Kriegskunst gekannt! Und andere Geschosse aus härterem Stein formen, gewichtigere, zermalmendere, zerstörendere als alle bisher erzeugten! Eine neue Artillerie muß erfunden werden gegen diese unnahbaren Mauern, es gibt keine andere Lösung, und Mahomet erklärt sich für entschlossen, diese neuen Angriffsmittel um jeden Preis zu schaffen.

Um jeden Preis – eine solche Ankündigung erweckt immer schon aus sich selbst schöpferische und treibende Kräfte. So erscheint bald nach der Kriegserklärung bei dem Sultan der Mann, der als der erfindungsreichste und erfahrenste Kanonengießer der Welt gilt. Urbas oder Orbas, ein Ungar. Zwar ist er Christ und hat eben zuvor seine Dienste dem Kaiser Konstantin angeboten; aber in der richtigen Erwartung, bei Mahomet höhere Bezahlung und kühnere Aufgaben für seine Kunst zu finden, erklärt er sich bereit, falls man ihm unbeschränkte Mittel zur Verfügung stelle, eine Kanone zu gießen, wie man sie gleich groß noch nicht auf Erden gesehen. Der Sultan, dem, wie jedem von einer einzigen Idee Besessenen, kein Geldpreis zu hoch ist, weist ihm sofort Arbeiter in beliebiger Anzahl zu, in tausend Karren wird Erz nach Adrianopel gebracht; drei Monate lang bereitet nun mit unendlichen Mühen der Kanonengießer die Lehmform nach geheimen Methoden der Härtung vor, ehe der erregende Guß der glühenden Masse erfolgt. Das Werk gelingt. Die riesige Röhre, die größte, die bisher die Welt gekannt, wird aus der Form herausgeschlagen und ausgekühlt, aber bevor der erste Probeschuß abgefeuert wird, sendet Mahomet Ausrufer durch die ganze Stadt, um die schwangeren Frauen zu warnen. Als mit ungeheurem Donner dann die blitzerhellte Mündung die mächtige Steinkugel ausspeit und diese eine Mauer mit einem einzigen Probeschuß zertrümmert, befiehlt Mahomet sofort die Anfertigung einer ganzen Artillerie in diesen gigantischen Maßen.

Die erste große »Steinwerfermaschine«, wie die griechischen Schriftsteller dann erschreckt diese Kanone nennen werden, wäre nun glücklich zustande gebracht. Aber noch schwierigeres Problem: wie dieses Monstrum durch ganz Thrakien schleifen, bis an die Mauern von Byzanz, diesen erzenen Lindwurm? Eine Odyssee ohnegleichen hebt an. Denn ein ganzes Volk, eine ganze Armee schleppt zwei Monate lang an diesem starren, langhalsigen Ungetüm. Zuerst sprengen Reiterscharen, um die Kostbarkeit vor jedem Überfall zu schützen, in ständigen Patrouillen voraus, hinter ihnen werken und karren Tag und Nacht Hunderte und vielleicht Tausende von Erdarbeitern, um die Straßenunebenheiten zu beseitigen für den überschweren Transport, der hinter sich für Monate wieder die Wege zerstört. Fünfzig Paar Ochsen sind der Wagenburg vorgespannt, auf deren Achsen – wie einstmals der Obelisk, als er von Ägypten nach Rom wanderte – mit genau verteiltem Gewicht die metallene Riesenröhre liegt; zweihundert Männer stützen unablässig zur Rechten und zur Linken das vor seiner eigenen Schwere schwankende Rohr, während gleichzeitig fünfzig Wagner und Zimmerleute ununterbrochen beschäftigt sind, die hölzernen Rollen auszuwechseln und zu ölen, die Stützen zu verstärken, Brücken zu legen; man versteht, daß nur Schritt um Schritt, im langsamsten Büffeltrott diese riesige Karawane sich ihren Weg bahnen kann durch Gebirg und Steppe. Staunend sammeln sich aus den Dörfern die Bauern und bekreuzigen sich vor dem erzenen Unwesen, das wie ein Gott des Krieges von seinen Dienern und Priestern von einem Land ins andere getragen wird; aber bald werden in gleicher Weise die erzgegossenen Brüder des gleichen lehmigen Mutterbetts herangeschleift; wieder einmal hat der menschliche Wille das Unmögliche möglich gemacht. Schon blecken zwanzig oder dreißig solcher Ungetüme ihre schwarzen Rundmäuler gegen Byzanz; die Schwerartillerie hat ihren Einzug in die Kriegsgeschichte gehalten, und es beginnt der Zweikampf zwischen der jahrtausendalten Mauer der oströmischen Kaiser und den neuen Kanonen des neuen Sultans.

Noch einmal Hoffnung

Langsam, zäh, aber unwiderstehlich zermalmen und zermahlen die Mammutkanonen mit blitzenden Bissen die Wälle von Byzanz. Zunächst kann jede nur sechs oder sieben Schüsse täglich abgeben, aber von Tag zu Tag bringt der Sultan neue zur Aufstellung, und in Staub- und Schuttwolken tut sich bei jedem Anprall dann immer neue Bresche in dem niederprasselnden Steinwerk auf. Zwar werden nachts von den Belagerten diese Löcher mit immer notdürftigeren hölzernen Palisaden und Leinwandballen geflickt, aber doch, es ist nicht die alte eherne, unversehrbare Mauer mehr, hinter der sie kämpfen, und mit Schrecken denken die achttausend hinter den Wällen an die entscheidende Stunde, in der dann die hundertfünfzigtausend Mahomets zum entscheidenden Angriff gegen die schon durchhöhlte Befestigung vorprellen werden. Es ist Zeit, höchste Zeit, daß Europa, daß die Christenheit sich ihres Versprechens entsinne; Scharen von Frauen liegen mit ihren Kindern den ganzen Tag vor den Reliquienschreinen in den Kirchen auf den Knien, von allen Wachttürmen spähen Tag und Nacht die Soldaten, ob nicht endlich in dem von türkischen Schiffen durchschwärmten Marmarameer die verheißene päpstliche und venezianische Entsatzflotte erscheinen wolle.

Endlich, am 20. April, um drei Uhr morgens, leuchtete ein Signal. In der Ferne hat man Segel erspäht. Es ist nicht die gewaltige, die erträumte christliche Flotte, aber immerhin: langsam vom Wind getrieben, steuern drei große genuesische Schiffe heran und hinter ihnen ein viertes, kleineres, ein byzantinisches Getreideschiff, das die drei größeren zu seinem Schutz in die Mitte genommen. Sofort sammelt sich ganz Konstantinopel begeistert an den Uferwällen, um die Helfer zu begrüßen. Doch gleichzeitig wirft sich Mahomet auf sein Pferd und galoppiert in schärfstem Ritt von seinem Purpurzelt zum Hafen hinab, wo die türkische Flotte vor Anker liegt, und gibt Befehl, um jeden Preis das Einlaufen der Schiffe in den Hafen von Byzanz, in das Goldene Horn, zu verhindern.

Hundertfünfzig, allerdings kleinere Schiffe, zählt die türkische Flotte, und sofort knattern Tausende Ruder ins Meer. Mit Enterhaken, mit Brandwerfern und Steinschleudern bewehrt, arbeiten sich diese hundertfünfzig Karavellen an die vier Galeonen heran, aber scharf getrieben vom Wind überholen und überfahren die vier mächtigen Schiffe die mit Geschossen und Geschrei belfernden Boote der Türken. Majestätisch, mit breit geschwellten runden Segeln steuern sie, unbekümmert um die Angreifer, hin zum sichern Hafen des Goldenen Horns, wo die berühmte Kette, von Stambul bis Galata hinübergespannt, ihnen dann dauernden Schutz bieten soll gegen Angriff und Überfall. Ganz nahe sind die vier Galeonen jetzt schon ihrem Ziel: schon können die Tausende auf den Wällen jedes einzelne Gesicht erkennen, schon werfen sich Männer und Frauen auf die Knie, um Gott und den Heiligen zu danken für die glorreiche Errettung, schon klirrt die Kette im Hafen nieder, um die Entsatzschiffe zu empfangen.

Da geschieht mit einemmal etwas Entsetzliches. Der Wind setzt plötzlich aus. Wie von einem Magnet festgehalten, stehen die vier Segelschiffe völlig tot mitten im Meer, gerade nur ein paar Steinwürfe weit von dem rettenden Hafen, und mit wildem Jubelgeschrei wirft sich die ganze Meute der feindlichen Ruderboote auf die vier gelähmten Schiffe, die wie vier Türme reglos im Meer starren. Rüden gleich, die sich in einem Sechzehnender verbeißen, hängen sich mit Enterhaken die kleinen Schiffe an die Flanken der großen, mit Äxten scharf in das Holzwerk schlagend, um sie zum Sinken zu bringen, mit immer neuer Mannschaft die Ankerketten emporkletternd, Fackeln und Feuerbrände gegen die Segel schleudernd, um sie zu entzünden. Der Kapitän der türkischen Armada treibt entschlossen sein eigenes Admiralschiff gegen das Transportschiff, um es zu rammen; schon sind die beiden Schiffe wie Ringer ineinander verklammert. Zwar können sich, von ihren erhöhten Borden und durch Haubenpanzer geschützt, die genuesischen Matrosen zunächst noch der Emporkletternden erwehren, noch jagen sie mit Haken und Steinen und griechischem Feuer die Angreifer zurück. Aber bald muß das Ringen zu Ende sein. Es sind zu viele gegen zu wenige. Die genuesischen Schiffe sind verloren.

 

Schauriges Schauspiel für Tausende auf den Mauern! So lustvoll nah, wie das Volk sonst im Hippodrom die blutigen Kämpfe verfolgte, so schmerzvoll nahe kann es jetzt eine Seeschlacht mit nacktem Auge betrachten und den scheinbar unvermeidlichen Untergang der Ihren, denn höchstens zwei Stunden noch, und die vier Schiffe erliegen der feindlichen Meute auf der Arena des Meers. Vergebens sind die Helfer gekommen, vergebens! Die verzweifelten Griechen auf den Wällen von Konstantinopel, gerade nur einen Steinwurf weit von ihren Brüdern, stehen und schreien mit geballten Fäusten in ohnmächtiger Wut, ihren Rettern nicht helfen zu können. Manche suchen mit wilden Gesten die kämpfenden Freunde anzufeuern. Andere wieder, die Hände zum Himmel gehoben, rufen Christus und den Erzengel Michael und alle die Heiligen ihrer Kirchen und Klöster an, die Byzanz seit so vielen Jahrhunderten beschützt haben, sie mögen ein Wunder wirken. Aber auf dem gegenüberliegenden Ufer von Galata wiederum warten und schreien und beten ebenso mit gleicher Inbrunst die Türken um den Sieg der Ihren: das Meer ist zur Szene geworden, eine Seeschlacht zum Gladiatorenspiel. Der Sultan selbst ist im Galopp herangejagt. Umringt von seinen Paschas reitet er so tief ins Wasser hinein, daß sein Oberrock naß wird, und schreit durch die zum Schallrohr gehöhlten Hände mit zorniger Stimme den Seinen den Befehl zu, um jeden Preis die christlichen Schiffe zu nehmen. Immer wieder, wenn eine seiner Galeeren zurückgetrieben wird, beschimpft er und bedroht er mit geschwungenem Krummsäbel seinen Admiral. »Wenn du nicht siegst, dann komme nicht lebend zurück.«

Noch halten die vier christlichen Schiffe stand. Aber schon geht der Kampf zu Ende, schon beginnen die Wurfgeschosse, mit denen sie die türkischen Galeeren zurücktreiben, auszugehen, schon ermattet den Matrosen nach stundenlangem Kampfe gegen die fünfzigfache Übermacht der Arm. Der Tag ist niedergestiegen, die Sonne senkt sich am Horizont. Eine Stunde noch, und wehrlos müssen die Schiffe, selbst wenn sie bis dahin nicht von den Türken geentert sind, durch die Strömung an das von den Türken besetzte Ufer hinter Galata getrieben werden. Verloren, verloren, verloren!

Da geschieht etwas, was der verzweifelnden, heulenden, klagenden Menge von Byzanz wie ein Wunder erscheint. Mit einmal beginnt ein leises Brausen, mit einmal erhebt sich ein Wind. Und sofort füllen sich die schlaffen Segel der vier Schiffe rund und groß. Der Wind, der ersehnte, der erbetene Wind ist wieder erwacht! Triumphierend erhebt sich der Bug der Galeonen, mit einem geschwellten Stoß überholt und überrennt ihr plötzlicher Anlauf die sie umschwärmenden Bedränger. Sie sind frei, sie sind gerettet. Unter dem brausenden Jubel der Tausende und aber Tausende auf den Wällen fährt jetzt das erste, das zweite, das dritte, das vierte in den sicheren Hafen ein, die herabgelassene Sperrkette klirrt schützend wieder empor, und hinter ihnen, auf dem Meere zerstreut, bleibt ohnmächtig die Meute der türkischen Kleinschiffe; noch einmal schwebt Jubel der Hoffnung wie ein purpurnes Gewölk über die düstere und verzweifelte Stadt.

Die Flotte wandert über den Berg

Eine Nacht lang dauert die überschwengliche Freude der Belagerten. Immer erregt ja die Nacht phantasievoll die Sinne und verwirrt die Hoffnung mit dem süßen Gift der Träume. Eine Nacht lang glauben die Belagerten sich schon gesichert und gerettet. Denn wie diese vier Schiffe Soldaten und Proviant glücklich gelandet haben, so werden jetzt Woche für Woche neue kommen, träumen sie. Europa hat sie nicht vergessen, und schon sehen sie in ihren voreiligen Erwartungen die Belagerung aufgehoben, den Feind entmutigt und besiegt.

Doch auch Mahomet ist ein Träumer, freilich ein Träumer jener anderen und viel selteneren Art, die es versteht, durch ihren Willen Träume in Wirklichkeit umzusetzen. Und während jene Galeonen sich schon sicher wähnen im Hafen des Goldenen Horns, entwirft er einen Plan von so phantastischer Verwegenheit, daß er innerhalb der Kriegsgeschichte den kühnsten Taten Hannibals und Napoleons ehrlich gleichzusetzen ist. Byzanz liegt vor ihm wie eine goldene Frucht, aber er kann sie nicht greifen: das Haupthindernis für diesen Griff und Angriff bildet die tief eingeschnittene Seezunge, das Goldene Horn, diese blinddarmförmige Bucht, welche die eine Flanke von Konstantinopel sichert. Einzudringen in diese Bucht ist praktisch unmöglich, denn am Eingange liegt die Genuesenstadt Galata, der Mahomet zur Neutralität verpflichtet ist, und von dort ist die eiserne Sperrkette quer bis zur Feindesstadt gespannt. Mit frontalem Stoß kann darum seine Flotte nicht in die Bucht, nur vom inneren Bassin her, wo das genuesische Terrain endet, wäre die christliche Flotte zu fassen. Aber wie eine Flotte schaffen für diese Binnenbucht? Man könnte eine bauen, gewiß. Aber das würde Monate und Monate dauern, und so lange will dieser Ungeduldige nicht warten.

Da faßt Mahomet den genialen Plan, seine Flotte vom äußern Meere, wo sie nutzlos ist, über die Landzunge in den Innenhafen des Goldenen Horns hinüberzutransportieren. Dieser atemberaubend kühne Gedanke, mit Hunderten von Schiffen eine bergige Landzunge zu überschreiten, erscheint von vorneweg so absurd, so unausführbar, daß die Byzantiner und die Genuesen von Galata ihn ebensowenig in ihre strategische Rechnung stellen wie vordem die Römer und nachher die Österreicher die rapiden Alpenübergänge Hannibals und Napoleons. Nach aller irdischen Erfahrung können Schiffe nur im Wasser fahren, nie aber eine Flotte über einen Berg. Doch eben dies ist allezeit das wahre Merkzeichen eines dämonischen Willens, daß er Unmögliches in Wirklichkeit verwandelt, immer erkennt man nur daran ein militärisches Genie, daß es im Kriege der Kriegsregeln spottet und im gegebenen Augenblick die schöpferische Improvisation einsetzt statt der erprobten Methoden. Eine ungeheure, eine in den Annalen der Geschichte kaum vergleichbare Aktion beginnt. In aller Stille läßt Mahomet zahllose Rundhölzer herbeischaffen und von Werkleuten zu Schlitten zimmern, auf welche man dann die aus dem Meer gezogenen Schiffe festlegt wie auf ein bewegliches Trockendock. Gleichzeitig sind schon Tausende Erdarbeiter am Werke, um den schmalen Saumpfad, der den Hügel von Pera hinauf- und wieder hinunterführt, möglichst für den Transport zu ebnen. Um aber die plötzliche Ansammlung von so vielen Werkleuten vor dem Feind zu verschleiern, läßt der Sultan an jedem Tag und in jeder Nacht über die neutrale Stadt Galata hinweg eine fürchterliche Kanonade aus Mörsern eröffnen, die an sich sinnlos ist und nur den einen Sinn hat, die Aufmerksamkeit abzulenken und die Berg-und-Talreise der Schiffe von einem Gewässer ins andere zu verdecken. Während die Feinde beschäftigt sind und nur vom Lande her einen Angriff vermuten, setzen sich die zahllosen runden Holzrollen, reichlich mit Öl und Fett getränkt, in Bewegung, und auf dieser riesigen Walze wird nun, jedes in seiner Schlittenkufe, von unzähligen Büffelpaaren und unter der nachschiebenden Hilfe der Matrosen ein Schiff nach dem anderen über den Berg hinübergezogen. Kaum daß die Nacht jeden Einblick verhüllt, beginnt diese mirakulöse Wanderung. Schweigsam wie alles Große, vorbedacht wie alles Kluge vollzieht sich das Wunder der Wunder: eine ganze Flotte wandert über den Berg. Das Entscheidende bei allen großen militärischen Aktionen ist immer das Überraschungsmoment. Und hier bewährt sich großartig Mahomets besonderes Genie. Niemand ahnt etwas von seinem Vorhaben – »wüßte ein Haar in meinem Bart von meinen Gedanken, ich würde es ausreißen«, hat einmal dieser genial Hinterhältige von sich gesagt –, und in vollkommenster Ordnung, während prahlerisch die Kanonen an die Mauern donnern, vollzieht sich sein Befehl. Siebzig Schiffe werden in dieser einen Nacht des 22. April von einem Meere zum anderen über Berg und Tal, durch Weinberge und Felder und Wälder transportiert. Am nächsten Morgen glauben die Bürger von Byzanz zu träumen: eine feindliche Flotte, wie von Geisterhand hergetragen, segelt bewimpelt und bemannt im Herzen ihrer unnahbar vermeinten Bucht; noch reiben sie die Augen und verstehen nicht, woher dieses Wunder kam, aber Fanfaren und Zimbeln und Trommeln jubeln schon unter ihrer bisher vom Hafen beschirmten Seitenmauer, das ganze Goldene Horn mit Ausnahme jenes engen neutralen Raumes von Galata, wo die christliche Flotte eingekapselt ist, gehört durch diesen genialen Coup dem Sultan und seiner Armee. Ungehindert kann er jetzt auf seiner Pontonbrücke seine Truppen gegen die schwächere Mauer heranführen: damit ist die schwache Flanke bedroht und die ohnehin schon spärliche Reihe der Verteidiger auf weiteren Raum verdünnt. Enger und enger hat sich die eiserne Faust um die Kehle des Opfers geschlossen.

Europa, hilf!

Die Belagerten täuschen sich nicht mehr. Sie wissen: nun auch in der aufgerissenen Flanke gepackt, werden sie nicht lange Widerstand leisten hinter ihren zerschossenen Mauern, achttausend gegen hundertfünfzigtausend, wenn nicht baldigst Hilfe kommt. Aber hat nicht feierlichst die Signoria von Venedig zugesagt, Schiffe zu entsenden? Kann der Papst gleichgültig bleiben, wenn Hagia Sophia, die herrlichste Kirche des Abendlandes, in Gefahr schwebt, eine Moschee des Unglaubens zu werden? Versteht Europa, das in Zwist befangene, durch hundertfache niedere Eifersucht zerteilte, noch immer nicht die Gefahr für die Kultur des Abendlandes? Vielleicht – so trösten sich die Belagerten – ist die Entsatzflotte längst bereit und zögert nur aus Unkenntnis, die Segel zu setzen, und es genügte, brächte man ihnen die ungeheure Verantwortung dieses todbringenden Säumens zum Bewußtsein.

Aber wie die venezianische Flotte verständigen? Das Marmarameer ist übersät von türkischen Schiften; mit der ganzen Flotte auszubrechen, hieße sie dem Verderben preisgeben und außerdem die Verteidigung, bei welcher doch jeder einzelne Mann zählt, um ein paar hundert Soldaten schwächen. So beschließt man, nur ein ganz kleines Schiff mit winziger Bemannung aufs Spiel zu setzen. Zwölf Männer im ganzen – gäbe es Gerechtigkeit in der Geschichte, ihr Name müßte so berühmt sein wie jener der Argonauten, und doch kennen wir keines einzelnen Namen – wagen die Heldentat. Auf der kleinen Brigantine wird die feindliche Flagge gehißt. Zwölf Männer kleiden sich auf türkische Art mit Turban oder Tarbusch, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Am 3. Mai wird um Mitternacht die Sperrkette des Hafens geräuschlos gelockert, und mit gedämpftem Ruderschlag gleitet das kühne Boot hinaus, geschützt von der Dunkelheit. Und siehe: das Wunderbare geschieht, und unerkannt durchfährt das winzige Schiff die Dardanellen bis ins Ägäische Meer. Immer ist es gerade das Übermaß der Kühnheit, das den Gegner lähmt. An alles hat Mahomet gedacht, nur nicht an dies Unvorstellbare, daß ein einzelnes Schiff mit zwölf Helden eine solche Argonautenfahrt durch seine Flotte wagen würde.

Aber tragische Enttäuschung: kein venezianisches Segel leuchtet am Ägäischen Meer. Keine Flotte ist bereit zum Einsatz. Venedig und der Papst, alle haben sie Byzanz vergessen, alle vernachlässigen sie, mit kleiner Kirchturmpolitik beschäftigt, Ehre und Eid. Immer wiederholen sich in der Geschichte diese tragischen Augenblicke, daß, wo höchste Zusammenfassung aller geeinten Kräfte zum Schutze der europäischen Kultur notwendig wäre, auch nicht für eine Spanne die Fürsten und die Staaten ihre kleinen Rivalitäten niederzuhalten vermögen. Genua ist es wichtiger, Venedig zurückzustellen, und Venedig wiederum Genua, als für einige Stunden vereint den gemeinsamen Feind zu bekriegen. Leer ist das Meer. Verzweifelt rudern die Tapfern auf ihrer Nußschale von Insel zu Insel. Aber überall sind die Häfen schon vom Feinde besetzt, und kein befreundetes Schiff wagt sich mehr in das kriegerische Gebiet.

Was nun tun? Einige der zwölf sind mit Recht mutlos geworden. Wozu nach Konstantinopel zurück, noch einmal den gefährlichen Weg? Hoffnung können sie keine bringen. Vielleicht ist die Stadt schon gefallen; jedenfalls erwartet sie, wenn sie zurückkehren, Gefangenschaft oder Tod. Aber – herrlich immer die Helden, die niemand kennt! – die Mehrzahl entscheidet dennoch für die Rückkehr. Ein Auftrag ist ihnen gegeben, und sie haben ihn zu erfüllen. Man hat sie um Botschaft gesandt, und sie müssen die Botschaft heimbringen, mag sie auch die bedrückendste sein. So wagt dieses winzige Schiff allein wieder den Weg zurück durch die Dardanellen, das Marmarameer und die feindliche Flotte. Am 23. Mai, zwanzig Tage nach der Ausfahrt, schon hat man längst in Konstantinopel das Fahrzeug verloren gegeben, schon denkt niemand mehr an Botschaft und Rückkehr, da schwenken plötzlich von den Wällen ein paar Wächter die Fahnen, denn mit scharfen Ruderschlägen steuert ein kleines Schiff auf das Goldene Horn zu, und als jetzt die Türken, durch den donnernden Jubel der Belagerten belehrt, erstaunend merken, daß diese Brigantine, die frecherweise mit türkischer Flagge durch ihre Gewässer gefahren, ein feindliches Schiff ist, stoßen sie mit ihren Booten von allen Seiten heran, um sie noch knapp vor dem schützenden Hafen abzufangen. Einen Augenblick schwingt Byzanz mit tausend Jubelschreien in der glücklichen Hoffnung, Europa habe sich seiner erinnert und jene Schiffe nur als Botschaft vorangesandt. Erst abends verbreitet sich die schlimme Wahrheit. Die Christenheit hat Byzanz vergessen. Die Eingeschlossenen sind allein, sie sind verloren, wenn sie sich nicht selber retten.

 
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