Scharlach

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Scharlach
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Scharlach

1  Titel Seite

2  Impressum

Stefan Zweig
Scharlach

In der Josefstadt, hatten ihm die Freunde zu Hause gesagt, solle er sich ein Zimmer nehmen, wenn er nach Wien ginge. Das sei nahe der Universität und alle Studenten wohnten dort gerne, weil es ein stiller, ein wenig altväterischer Bezirk sei und dann, weil es schon durch Tradition ihr Hauptquartier geworden war. So hatte er sich also gleich von der Bahn, wo er das Gepäck vorläufig ließ, durchgefragt, war hingegangen durch die vielen fremden lauten Gassen, vorbei an all den hastigen Menschen, die wie gejagt durch den Regen liefen und ihm nur unwillig Auskunft gaben.

Das Herbstwetter war unerbittlich. Unablässig plätscherte ein spitzer nasser Schauer nieder, schwemmte von den falben Bäumen das letzte zitternde Laub, trommelte von allen Traufen und zerriß den melancholischen Himmel in Millionen grauer Fasern. Der Wind warf manchmal den Regen wie ein flatterndes Tuch vor sich her, schleuderte ihn gegen die Wände, daß es nur so prasselte und zerbrach den Leuten die Schirme. Bald waren auf der Straße nur mehr die holpernden schwarzen Wagen mit den dampfenden Pferden zu sehen und hie und da ein paar fliegende Schatten von Vorüberrennenden.

Der junge Student ging von Haus zu Haus, stieg viele Treppen auf und nieder, froh, für ein paar Augenblicke dem bösartigen Regen zu entkommen. Er sah viele Zimmer, aber keines konnte ihm behagen. Daran war vielleicht der Regen schuld und das kalte graue Licht, das alle Räume bedrückt erscheinen ließ und sie anfüllte mit kränklicher gepreßter Luft. Ein leise beengtes Gefühl wurde in ihm wach, als er das Elend und die Unreinlichkeit mancher Quartiere sah, zu denen er auf krummen feuchten Treppen hinaufkroch, irgendwie eine erste Ahnung der großen Traurigkeiten, die hinter der Stirne dieser kleinen gebückten, abgeschabten Vorstadthäuser sich verbergen. Immer mutloser wurde sein Suchen.

Endlich traf er seine Wahl. Es war in der Josefstadt oben, nicht mehr weit vom Gürtel, in einem recht alten, aber schwerfällig breiten Hause von altbürgerlicher Behaglichkeit, wo er Quartier nahm. Das Zimmer war einfach und eigentlich kleiner, als er gewünscht hatte, aber die Fenster gingen in einen großen Hof hinaus, in einen jener alten Vorstadthöfe, wo ein paar Bäume standen, jetzt rauschend im Regen und leise fröstelnd. Dieses letzte zage Grün, die ganz verlorene Erinnerung an die Gärten seiner Heimat, lockte ihn an und dann, daß im Vorzimmer, als er die Glocke zog, ein Kanarienvogel in seinem Gehäuse zu trillern anfing und nicht müde wurde seiner Koloraturen, solang er das Zimmer besah. Das schien ihm ein gutes Vorzeichen, und auch die Vermieterin gefiel ihm, eine ältere verhärmte Frau, Beamtenswitwe, wie sie erzählte. Sie selbst bewohnte nur ein armseliges Kabinett mit ihrer kleinen Tochter, nebenan hatte noch ein anderer Student sein Zimmer, dessen Anwesenheit schon die Visitkarte an der Eingangstür verriet.

In den paar Stunden, die bis Abend blieben, wollte er noch eilig etwas sehen von der fremden, seit tausend Tagen herbeigesehnten Stadt, aber der kalte, vom Wind aufgepeitschte Regen vertrieb ihm bald das Gelüst. Er trat in ein Kaffeehaus, sah dann lange gedankenlos zu, wie der weiße Ball am Billardbrett dem roten nachlief, hörte das Gespräch von vielen fremden Menschen rings um sich herum und mühte sich, das bittere Gefühl der Enttäuschung niederzuringen, das langsam in seiner Kehle aufquoll und Worte wollte. Noch einmal versuchte er dann über die Straßen zu streifen, aber der Regen war zu hartnäckig. Triefend und durchnäßt ging er in ein Gasthaus, ein Abendbrot rasch und ohne Lust zu nehmen, und dann nach Hause.

Und nun stand er in seinem Zimmer und sah sich darin um. Ein paar Sachen lehnten da beieinander wie vergessen, ohne alle innere Zusammengehörigkeit, ohne Anmut und Lebendigkeit: zwei alte Schränke vornübergebeugt und aufseufzend, wenn man ihnen nahe trat, ein Bett mit verschossener Decke, eine weiße Lampe, die melancholisch im Dunkel des verdüsterten Zimmers pendelte, ein gebrechlicher Alt-Wiener Ofen. Dazwischen ein paar Farbdrucke und Fotografien, bleiche Dinger ohne Beziehungen zueinander, fremde Gesichter, die sich seit Jahren vielleicht hier schon anstarrten, ohne sich zu kennen. Frösteln quoll auf von der unebenen Diele, das eine Fenster schloß schlecht und klapperte unruhig, wenn der Wind den Regen gegen die Scheibe warf.

Ihn fröstelte. Fremd stand er unter diesem Altväterkram. Wer hatte in diesem Bette geschlafen, wer auf diesen Sesseln geruht, wer in diesen Spiegel geblickt, aus dem ihn nun sein eigenes blasses Kindergesicht angstvoll und fast weinerlich ansah? Nichts erinnerte ihn hier an Vergangenes und Erlebtes, fremd war alles und er fühlte die Kühle bis ins Blut.

Sollte er schon zu Bett gehen? Es war neun Uhr. Zum ersten Male schlief er unter fremdem Dach. Zu Hause saßen sie jetzt wohl freundlich bestrahlt vom goldenen Lampenlicht um den runden Tisch, im ruhigen Gespräch. Nun wußte er, würde Edith, seine blonde Schwester, bald aufstehen und hingehen zum Klavier und noch spielen, eine schwermütige Sonate oder irgendeinen lachenden Walzer, ganz wie er sie bat. Aber wo war er heute, der dort sonst am Klavier im Schatten stand und zu den Tönen träumte, bis sie aufstand und ihm herzlich gute Nacht bot?

Nein, er konnte noch nicht schlafen. Er ging hin und nahm aus dem Koffer, den er inzwischen hatte abholen lassen, seine paar Sachen. Alles war sorglich von den Seinen gepackt, und wie er die Ordnung auseinandernahm, mußte er an die Hände denken, die das für ihn in Liebe getan. Zwischen den Büchern fand er, froh erschreckt, eine Überraschung, das Bild seiner Schwester, die es ihm verstohlen hineingelegt, mit einer herzlichen Zeile darauf. Lang sah er es an, dieses helle lächelnde Gesicht, und stellte es dann hin auf den Schreibtisch, damit es freundlich auf ihn hinsehe und ihn tröste, den Heimatlosen. Aber es war ihm, als werde das Lächeln immer trüber auf dem Bilde und als würde sie hier, im Dunkel, traurig mit ihm. Kaum wagte er mehr hinzusehen, so dunkel schien es ihm schon.

Sollte er noch einmal hinaus aus diesem trüben trostlosen Gelaß? Wie er ans Fenster trat, sah er den Regen rastlos rinnen. Auf den trüben Scheiben sammelten sich die Tropfen, blieben stehen, bis sie ein anderer mitnahm, und rannen dann rasch herab, wie Tränen über glatte Kinderwangen. Immer neue kamen und immer wieder rannen sie herab, von allen Seiten, als weinte da draußen eine ganze Welt ihre Traurigkeit in Millionen Tränen aus. Er blieb stehen, vielleicht eine halbe Stunde lang. Dieses leise murmelnde Spiel voll dumpfen Leides, dieses stete Tropfenrinnen, die unverständliche Musik der klagenden Bäume – tief griff das wunderliche Bild der kollernden Tränen in sein Herz. Eine wilde Traurigkeit fiel ihn an, die nach Tränen schrie.

Er wollte sich aufreißen. Aber war das sein erster Abend in Wien? Wie oft schon hatte er ihn vorausgelebt, im Traum, im Gespräch mit der Schwester und den Freunden. Nichts Deutliches hatte er sich dabei gedacht, aber doch etwas Wildes und Helles, ein Hinstürmen durch die funkelnden Straßen, vorwärts, nur vorwärts, als sei morgen all die Pracht nicht mehr da, als wollte schon in der ersten Stunde Unvergeßliches erlebt sein. Im lachenden Gespräch hatte er sich gesehen, singend vor Übermut, den Hut aufwirbelnd und mit klopfendem Herzen. Und nun stand er da, vor einer blinden Scheibe, fröstelnd, allein, und sah zu, wie die Tropfen niederrannen, zwei und jetzt drei und wieder zwei, starrte hin, wie sie sich unsichtbare Gleise schufen, auf denen sie niederrollten, und kniff die Lider ein, daß nicht plötzlich auch seine eigenen Tränen herabliefen und hinfielen auf seine kalten Hände. Hatte er das seit Jahren ersehnt?

Wie langsam doch die Zeit verging. Der Zeiger auf dem Holzgehäuse der alten Uhr kroch ganz unmerklich vorwärts. Und immer drohender fühlte er die Abendangst, dieses unerklärliche kindische Bangen vor der Einsamkeit in diesem fremden Zimmer, die wilde Sehnsucht Heimweh, die er nicht mehr verleugnen konnte. Ganz allein war er in dieser riesigen Stadt, in der Millionen Herzen hämmerten, und keiner sprach zu ihm, als dieser plätschernde höhnische Regen, keiner hörte auf ihn oder sah ihn an, der da mit Schluchzen und Tränen rang, der sich schämte zu sein wie ein Kind und doch sich nicht zu retten wußte vor diesem Bangen, das hinter dem Dunkel stand und ihn mit stählernen Augen unerbittlich anstarrte. Nie hatte er sich so nach einem Wort gesehnt wie jetzt.

Da knarrte nebenan eine Tür und fiel sausend ins Schloß. Der Hingekauerte sprang auf und horchte. Eine rauhe und doch geübte Stimme summte nebenan eine abgerissene Strophe aus einem Burschenlied, dann surrte das angeflitzte Zündholz und er hörte das Hantieren mit der offenbar jetzt entzündeten Lampe. Das konnte nur sein Nachbar sein, ein Jurist, wie ihm die Vermieterin erzählt hatte, der vor den letzten Prüfungen stand. Er atmete tief auf, denn er fühlte sein Verlassensein für einen Augenblick beruhigt. Von drinnen knarrten die schweren strammen Tritte des Auf- und Abgehenden auf der Diele, das Lied klang immer deutlicher, und plötzlich schämte sich der Lauschende, so zitternd und hinhorchend dazustehen, und er schlich geräuschlos zum Tisch zurück, wie in Angst, als könnte ihm der nebenan durch die Wand zusehen.

Jetzt schwieg drin die Stimme und auch das Auf- und Niedergehen verstummte. Offenbar hatte sich sein Nachbar gesetzt. Nun fingen die surrenden Tropfen wieder an auf ihn einzusprechen, und die Einsamkeit mit all ihrer Angst lugte wieder aus dem Dunkel hervor.

 

Ihm war, als müßte er ersticken in dieser Enge. Nein, er konnte jetzt nicht allein bleiben. Er richtete sich auf, wartete, bis die Wangen nicht mehr gerötet waren vom Daliegen, probierte mit einem Räuspern die Stimme, dann schlich er hinaus und zur Tür des Nachbars hin. Zweimal hielt er an, doch dann klopfte endlich sein Finger zaghaft an die fremde Tür.

Ein offenbar erstauntes Schweigen folgte. Dann klang ein helles »Herein«.

Er klinkte die Tür auf. Blauer Rauch quoll ihm entgegen. Das enge Zimmer war ganz vollgedampft, und alle Gegenstände verschwammen zuerst in dem dicken, von der Zugluft aufschwankenden Nebel. Sein Nachbar stand hochaufgerichtet und sah erstaunt auf den Eintretenden. Er hatte Weste und Gilet bereits abgelegt, das halboffene Hemd zeigte ungeniert eine breite, behaarte Brust, die Schuhe lagen rechts und links am Boden hingehaut. Er war eine kräftige, bäuerisch derbe Gestalt, einem Arbeiter mehr ähnlich als einem Studenten, wie er da stand, die kurze Shagpfeife im Mund, deren Rauch er jetzt mit einem starken Stoß bis zur Tür hinblies.

Der Eintretende stammelte ein paar Worte. »Ich bin heute hier eingezogen und wollte mich Ihnen als Nachbar vorstellen.«

Sein Gegenüber schnellte mechanisch die Beine zusammen. »Sehr erfreut. Jurist Schramek.«

Nun nannte auch der Besuchende, hastig, um das Versäumnis zu reparieren, seinen Namen »Bertold Berger«.

Schramek überflog ihn mit einem Blick. »Sie sind im ersten Semester?«

Berger bejahte und fügte gleich bei, es sei auch sein erster Tag in Wien.

»Sie studieren natürlich Jus. Alle Leute studieren nur mehr Jus.«

»Nein, ich will mich an der medizinischen Fakultät inskribieren lassen.«

»So, bravo, endlich einmal einer … Aber bitte, nehmen Sie doch ein bißchen Platz!«

Die Aufforderung war herzlich.

»Sie nehmen doch eine Zigarette, Herr Collega.«

»Ich danke, ich rauche nicht.«

»Na … das wird schon werden. Die Nichtraucher sind im Aussterben begriffen. Also einen Kognak. Einen guten.«

»Danke … danke sehr.«

Schramek zog lachend die Schultern hoch: »Sie, lieber Kollege, seien Sie nicht böse, aber ich glaube, Sie sind, was man so sagt, ein Fadian. Kein Kognak, nicht rauchen, das ist sehr verdächtig.«

Berger wurde rot. Er schämte sich, so ungeschickt gewesen zu sein und seine Unbehülflichkeit gleich verraten zu haben, aber er spürte, daß eine verspätete Zusage noch lächerlicher sein müsse. Um etwas zu reden, entschuldigte er nochmals den nächtlichen Besuch. Aber Schramek ließ ihn nicht zu Ende reden, sondern hielt ihn mit ein paar Fragen fest. Sie waren beinahe Landsleute, aus Deutschböhmen der eine, aus Mähren der andere, bald fanden sie auch einen gemeinsamen Bekannten in ihrer Erinnerung. Ihr Gespräch ward bald lebendig. Schramek erzählte von seinen Prüfungen und seiner Verbindung, von all den hundert dummen Dingen, die solchen studentischen Naturen der Sinn dieser paar Jahre zu sein scheinen. Es war eine sehr lebendige Herzlichkeit in seinem Erzählen, eine etwas laute Heiterkeit und eine wohlbewußte, fast eitle Routine. Er freute sich sichtlich, einem Neuling, einem Provinzler zu imponieren. Und das gelang ihm mehr als er wußte. Berger horchte auf alle diese Dinge mit einer unbeschreiblich sehnsüchtigen Neugier, weil sie ihm das neue Leben zu verkünden schienen, das hier in Wien auf ihn wartete, ihm gefiel das forsche Reden, die Art, wie der Schramek beim Rauchen den Dampf in breiten blauen Kegeln von sich stieß. Auf jede Kleinigkeit achtete er, denn es war der erste echte Student, der ihm begegnete, und wahllos nahm er ihn als den vollkommensten.

Er hätte ihm gerne auch etwas erzählt, aber all das von Hause kam ihm gegen diese neuen Dinge plötzlich so unwichtig vor, so unscheinbar und platt all die Scherze vom Gymnasium, die Erlebnisse der Provinz, all seine eigenen Gedanken und Worte bisher schienen ihm plötzlich in die Kindheit hineinzugehören, und hier war erst der Beginn aller Mannhaftigkeit. Schramek merkte sein Schweigen gar nicht und freute sich sehr an dem scheu bewundernden Blick des Novizen. Berger fuhr auf sein Verlangen mit vorsichtiger Hand die drei Schmisse nach, die eine scharfe rote Spur über Schrameks kurzgeschorenen Schädel zogen, und staunte bei der Erzählung von der Kontrahage und Mensur. Ihm ward ängstlich und doch warm bei dem Gedanken, nun bald auch so Aug in Aug einem Gegner gegenüberzustehen, und er bat den Schramek, ihn für einen Augenblick einen der Säbel nehmen zu lassen, die in der Ecke des Zimmers lagen. Das war dann freilich ein schmerzliches Gefühl, wie er ihn nur mit Mühe aufheben konnte: er merkte erst wieder, wie schwach und kindhaft mager noch seine Arme waren, und fühlte den Unterschied zwischen sich und diesem stämmigen robusten Burschen mit einem plötzlichen Neid. Wie etwas ganz Unerhörtes schien es ihm, daß man mit so einem Säbel leicht durch die Luft wirbeln könne, die Klinge pfeifen lassen, mit aller Kraft die Parade durchschlagen und in ein fremdes Gesicht hineinfetzen. Alle diese alltäglichen Dinge schienen ihm sehr gewaltig und bewundernswert wie große erstrebenswerte Taten, und die scheue Bewunderung, mit der er davon sprach, machte den Schramek nur immer noch redseliger und vertrauter. Er sprach zu ihm wie zu einem Freunde und rollte das grellfarbige Bild seines ganzen Lebens auf, das nie über das studentische Ideal hinausreichte und auf das Berger wie verzückt hinstarrte. Hier hatte er den Herold seines neuen Lebens gefunden.

Um Mitternacht sagten sie sich endlich »Auf Wiedersehen«. Schramek schüttelte Berger herzlich die Hand, schlug ihm auf die Schulter und versicherte mit jenem spontanen Freundschaftsgefühl, wie man es nur in diesen Jahren kennt, er sei »ein lieber Kerl«, was den jungen ganz hingerissenen Menschen unendlich beglückte.

Ganz trunken von all diesen Eindrücken kam er in sein Zimmer, das ihm plötzlich nicht mehr so einsam und trübe schien, wenn auch der Regen noch immer am Fenster plätscherte und Kühle aus allen Fugen quoll. Sein Herz war voll von diesen fremden funkelnden Dingen, und er empfand es als unsagbares Glück, gleich am ersten Tage einen Freund gefunden zu haben. Allerdings: eine leise Wehmut mischte sich bald ein, er fühlte, wie schwach, wie kindisch, wie schuljungenhaft er neben diesem Menschen war, der mit beiden Füßen fest im Leben stand. Er war immer der schwächste, verzärteltste, kränklichste seiner Kameraden gewesen, immer zurückgeblieben in Spiel und Übermut, aber heute erst empfand er es schmerzlich. Würde er je werden können wie dieser Schramek: so fest, so stark, so frei? Eine wilde Sehnsucht kam ihn an, so flink und forsch reden zu können, Muskeln zu haben, das Leben fest anpacken zu können und nicht irgendwie mit ihm zu paktieren. Würde er je so werden können? Mißtrauisch sah er im Spiegel auf sein schüchternes, schmales und bartloses Kindergesicht und es fiel ihm wieder ein, daß er den Säbel kaum hatte heben können mit diesem zarten Arm, an dem kein Muskel aufsprang. Es fiel ihm ein, daß er vor zwei Stunden fast geweint hatte wie ein Kind, nur weil es dunkel und kalt und er niemanden um sich hatte. Eine Angst beugte sich leise über ihn: Wie würde es mit ihm, dem Schwachen, dem Kindischen werden in dieser fremden Stadt, in diesem neuen Leben, wo man die Kraft brauchte, Mut und Übermut? Nein – er raffte sich mit Gewalt auf – er wollte kämpfen, bis er vollwertig sei, so werden wie sein Freund, stark und gewaltig, alles wollte er ihm ablernen, den schlenkernden Gang, die helle forsche Art des Redens, seine Muskeln wollte er stärken, ein Mann werden wie er. Wehmut und Freude, Hoffnung und Verzagen rannen ineinander, immer mehr verwirrte sich seine Träumerei. Erst als die Lampe qualmte, sah er, daß es spät geworden sei, und ging eiligst zu Bett. Draußen trommelte noch immer der unerbittliche Septemberregen.

Das war Bertold Bergers erster Tag in Wien.

Und so blieb es auch in nächster Zeit: Wehmut und Freude, Hoffnung und Enttäuschung unablässig mitsammen vermengt, ein unklares Gefühl, aber immer nur Fremdsein und kein Sichgewöhnen. Das Große, Unerwartete, Neue, das er von seiner Unabhängigkeit, von der Studentenzeit, von Wien erwartet hatte, wollte sich nicht einstellen. Es gab ja einzelne schöne Dinge: Schönbrunn im milden Septemberglanz, die goldenen Alleen, die langsam zur Gloriette hinaufstiegen, und von dort oben dieser schwungvoll ausgreifende Blick über den edlen Garten und das kaiserliche Schloß. Oder die Theater mit ihrem Spiel und dem faszinierenden Beisammensein so vieler schöner Menschen, der Anblick der Eleganz bei den Veranstaltungen und Festen, die Straße manchmal, die so viele schöne und seltsame Gesichter an einem vorbeitrug und die funkelte von tausend Versprechungen und lockungen. Aber immer war es ein Anblick nur und nie ein Eindringen, immer nur wie das gierige Lesen in einem aufgeschlagenen Buch, nie die Unmittelbarkeit eines Gespräches, eines Erlebnisses.

Einen einzigen Versuch des Eindringens in diese neue Welt machte er gleich in den ersten Tagen. Er hatte Verwandte in Wien, vornehme Leute, die er besuchte und die ihn dann zu Tisch baten. Sie waren sehr liebenswürdig zu ihm, auch seine ungefähr gleichaltrigen Vettern, aber er fühlte doch zu sehr, daß man sich mit der Einladung nur einer Pflicht entledigte, fühlte auf seinem Anzug ihre Blicke mit einem unterdrückt-mitleidigen Lächeln, schämte sich seiner Provinzeleganz, seiner Schüchternheit, die kläglich sein mußte im Vergleich zu dem selbstsicheren Wesen seiner Vettern, und war froh, wie er sich empfehlen konnte. Und er ging nie mehr hin.

So drängte ihn alles in die Freundschaft jenes ersten Abends zurück, der er sich mit aller Leidenschaftlichkeit eines halben Kindes hingab. Er vertraute sich ganz diesem starken gesunden Menschen, der willig seine überschwängliche Liebe hinnahm und sie nur mit jener stets bereiten Herzlichkeit innerlich gleichgültiger Menschen erwiderte. Nach ein paar Tagen schon trug Schramek dem vor Freude errötenden Berger das »Du« an, das dieser noch nach längerer Zeit nur ungeschickt und zaghaft handhabte, so ungemein war der Respekt vor der Überlegenheit seines Freundes. Oft sah er ihn, wenn sie zusammen gingen, von der Seite verstohlen an, um diese weitausgreifende sichere Art des Gehens zu lernen und dann die ungezwungene Weise, wie er jedem hübschen Mädel den Kopf unter die Nase schob; selbst die Unarten gefielen ihm, dieses Fechtwirbeln mit dem Stock auf der Straße, der stete Knastergeruch in den Kleidern, das laute herausfordernde Reden in den Lokalen und die oft stupiden Ulke. Stundenlang konnte er Schramek zuhören, wenn er die belanglosesten Geschichten von Mädeln, Kontrahagen und Partien erzählte, unwillkürlich wurden ihm selbst alle diese Dinge wichtig, die ihn gar nicht berührten, er regte sich daran auf, sie schienen ihm das wirkliche, das eigentliche Leben zu sein, und er brannte vor Begier, auch so etwas zu erleben. Im geheimen hoffte er, Schramek werde ihn einmal in ein solches Abenteuer hineinschieben, aber der hatte eine seltsame Art, ihn bei wichtigen Angelegenheiten auszuschalten. Offenbar empfand er das kindische und bartlose Gesicht als zu wenig repräsentabel, denn er nahm ihn selten mit, wenn er in Couleur ging und sie trafen sich meist nur im Café oder in der Wohnung. Und immer mußte die Initiative von Berger ausgehen.

Das hatte der bald bemerkt und es hing an ihm als geheimer Kummer. In seiner Freundschaft war wie in jeder Freundschaft ganz junger Leute etwas von Liebe: die ungestüme Leidenschaftlichkeit und dann eine leise Eifersucht. Eine Erbitterung, der er freilich nicht Ausdruck zu geben wagte, bemächtigte sich seiner, wenn er merkte, daß Schramek zu ganz einfältigen, gleichgültigen Menschen, die er eben kennengelernt hatte, ebenso herzlich war wie zu ihm selbst und oft noch burschikoser. Und dann fühlte er, daß er ihm in den paar Wochen, die er ihn nun schon kannte, um keinen Schritt nähergekommen war als am ersten Abend, so sehr er sich auch ihm hingab. Er ärgerte sich, daß Schramek für alle seine Angelegenheiten nichts von dem Interesse zeigte, das er ihm doch für die seinen so überströmend entgegenbrachte, daß er ihm nie mehr gab, nie weniger als eine herzliche Begrüßung und dann gleich von seinen eigenen Dingen erzählte, kaum hinhörend, wenn Berger etwas von den seinen sprach.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?