Hannah Halblicht

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Aus der Reihe: Hannah Halblicht #2
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Die Wunderwasserwaben

Die drei Kinder blicken sich an, ohne zu wissen, was sie machen oder sagen sollen. Außer Leo: „Raito. Hat dein Rechenzentrum auch eine Uhr?“ „Eine?“, antwortet er. „Kommt mit, dann zeige ich sie euch!“ Die drei folgen ihm an den roten, blauen, gelben, grünen und orangfarbenen Kisten und Kabeln vorbei zum Ende des Raumes. Wie von Geisterhand öffnet sich eine Tür in der Wand. Raito dreht sich um und sagt: „Habt keine Angst vor dem Wasser. Beim ersten Mal ist es etwas seltsam, aber es geht nicht anders und ist völlig harmlos. Eigentlich finde ich es ganz witzig. Jeder von euch bekommt eine Blase, also drängelt nicht und haltet etwas Abstand.“ Plötzlich wird Raito von einem immer größer werdenden Wassertropfen, der von der Decke hängt, nach oben gezogen. Die silbern glänzende Flüssigkeit beginnt ihn zu umschließen. Der Wassertropfen wird immer größer bis daraus eine so große Kugel geworden ist, die Raito komplett einschließt. Er hebt seinen Daumen zum Zeichen, dass alles okay ist und zwinkert den dreien zu. Dann rast die Kugel über ihre Köpfen hinweg über den Gang, den sie gerade entlanggelaufen waren und verschwindet auf der anderen Seite. „Wie abgefahren ist das denn?“, fragt Collin und tritt durch die Tür. Sofort wird er von einem Wasserfaden nach oben gezogen und ebenfalls in eine Wasserkugel eingeschlossen. Leo und Hannah sehen nur noch, dass er die Lippen so formt, als ob er „Wow“ ruft. Und schon rast er über ihre Köpfe hinweg in Richtung gegenüberliegende Wand und ist verschwunden. „Hannah, ich hab keine Ahnung, ob ich diesen Geburtstag überleben werde, aber wenn Collin es so toll findet, muss ich es auch ausprobieren. See you!“, sagt er und lässt sich mit zusammengekniffenen Augen in den Riesenwassertropfen einsaugen und saust mit einem breiten Grinsen im Gesicht über Hannah hinweg. Schande, denkt sich Hannah. Leos Geburtstag. Sie wollte ihm doch nur die leuchtende Kraftsaftfrucht zeigen und sich danach wieder in ihr Bett zurückollopafieren. Sie hatte Leo extra ein Geschenk gebastelt, das sie ihm am nächsten Tag zu seiner Geburtstagsfeier übergeben wollte. Stattdessen ist sie wieder in Lumeria, soll ihrem Onkel in einem Riesentropfen folgen und mit ihm Probleme lösen, von denen sie noch gar nichts weiß. Sie hat ein sehr komisches Gefühl bei der Vorstellung, dass sie jetzt mit ihrem Pyjama in eine Wasserkugel steigen soll. Und was macht sie mit ihrer Ollopa2? Ist sie wasserdicht? Hatte ihr Onkel nicht auch eine Ollopa um den Hals hängen? Sie muss ihrem Onkel einfach vertrauen. Auch wenn das manchmal mehr als verrückt erscheint. Sie tritt einen Schritt vor. Als sie im Türrahmen steht, spürt sie sofort etwas Kühles über ihrem Kopf. Sie verliert den Halt unter den Füßen. Ihr ganzer Körper wird nach oben gezogen. Hannah muss blöderweise jetzt an ihren jüngsten Zahnarztbesuch denken. Da hatte sie ein ähnlich mulmiges Gefühl, wenn man zuvor nicht weiß, ob es gleich schmerzen wird. Es passiert so schnell, dass Hannah gar nicht mitbekommt, wie das Wasser ihren ganzen Körper umhüllt. Plötzlich steckt sie in dieser Kugel und muss lächeln, als der Refrain ihres Lieblingsliedes ertönt: „Bedecke deine kristallenen Augen und fühle die Töne, die deine Wirbelsäule hinunter schaudern!“ „Unglaublich cool“, denkt sich Hannah, als sie sich gleichzeitig daran erinnert, dass in Lumeria alle fremdsprachigen Texte beim Hören automatisch für den Zuhörer verständlich übersetzt werden. Auf diese Art und Weise hat sie den Song der Band „Of Monsters and Men“ noch nie gehört. Hannah hebt ihre Hand vor ihr Gesicht, um dieses seltsame Wasser besser untersuchen zu können, denn es fühlt sich gar nicht nass an. Erst jetzt erkennt sie, dass ihre Finger das Wasser gar nicht berühren. Zwischen ihrer Haut und der Flüssigkeit ist noch ein etwa daumendicker Abstand. Sie wedelt ihre Hand vor ihrem Gesicht langsam hin und her. Egal, wohin sie ihre Hand bewegt, sie wird immer von einer Luftschicht umgeben. Sie versucht sich im Wasserball zu drehen und blickt durch die Flüssigkeit in den großen Raum. Sie sieht die bunten Rechenkisten im Raum etwas größer als gerade eben. Vielleicht funktioniert das Wasser wie eine Art Vergrößerungsglas, überlegt sie sich, als sich die Wasserkugel plötzlich schnell bewegt. Hannah fühlt sich wie in einem Rennauto, in dem der Rennfahrer mächtig Gas gibt. Die Wasserblase rast mit Hannah durch das Zimmer auf eine Wand zu. Hannah stockt der Atem. Gleich prallt sie gegen die Glasfassade. Sie kneift ihr Auge zusammen. Plötzlich steht sie kopf. Sie scheint sich wie ein Schwimmer zu drehen, der am Beckenrand mit einer Kehrwende in die nächste Bahn startet. Sie fühlt sich wie in einer Achterbahn. Ihr Magen dreht sich. Es geht abwärts. Richtungswechsel. Jetzt rast sie in die entgegengesetzte Richtung. Als sie ihr Auge öffnet, sieht sie gerade noch, wie die bunten Computerkisten etwas kleiner werden, als würde ihr jemand eine Brille von der Nase herunterziehen. Plumps! Hannah spürt wieder festen Boden unter ihren Füßen. „Puhhh!“, entfährt es Hannah. „Wahnsinnssache, oder?“, hört sie Collins Stimme. „Wie heißen die Wasserdinger, Herr Raito? Und was tickt hier so verrückt?“ Hannah blinzelt und braucht einige Augenblicke, bis sie realisiert, dass sie neben Leo, ihrem Onkel und Collin steht. Die riesigen Transportwassertropfen sind verschwunden. Stattdessen wabert vor ihnen eine andere Wasserkugel in der Luft. Die Kugel ist nicht ganz so groß wie das kleine Auto ihrer Mama, schätzt Hannah. In der Kugel befindet sich eine Art schwarze Pyramide, die sich entgegengesetzt zur Kugel dreht. Nein, die Pyramide ist doch nicht ganz schwarz. Ihre Seitenflächen wechseln je nach Position alle möglichen Farben. Das Wasser funkelt und schimmert und reflektiert die Farben der Pyramide. Der gesamte Raum scheint dadurch zu glitzern. „Wir nennen sie Wunderwasserwaben“, antwortet Raito. „Leo, du wolltest Uhren sehen, oder? Such dir eine aus!“ Raito zeigt mit dem Finger in die Höhe. Über ihren Köpfen schweben Dutzende , wahrscheinlich Hunderte kleiner kunterbunter Wasserblasen. „Collin, kannst du sie ticken hören?“, fragt Raito. Collin nickt und blickt beeindruckt von einer Kugel zur anderen. Jede Blase zeigt ein anderes Bild. Hannah erkennt einen Sonnenaufgang. Sie sieht ihren Mathelehrer, wie er Formeln an die Tafel schreibt. In einer Kugel sieht sie den Husky Blacky herumtollen. In der Kugel daneben sieht sie die Katze White, die sich in Hannahs Arm kuschelt. In der Kugel vor ihr, erkennt sie ihre Mutter im Bett liegen. Sie schläft. Die Blase darüber zeigt ihre Mutter und ihren Vater, wie sie sich küssen. In einer anderen Kugel sieht sie sich selbst, wie sie an ihrem Tisch sitzt und in ihr Gutetatenbuch schreibt. „Ich sehe meine Eltern, wie sie schlafen. Da vorne spiele ich Schlagzeug. Und in dieser Kugel blase ich die Kerzen meines Geburtstagskuchens aus. Wo sind die Zeiger. Wo sind die Zahlen? Ich check es nicht!“, ruft Leo. „Collin, was siehst du?“, fragt Raito. „Ähm. Ich sehe mich mit Leo mit unseren Longboards durch Großburgklein fliegen. In einer anderen Kugel sehe ich mich Gitarre spielen. In der Kugel da drüben liege ich im Bett und schlafe. Und in dieser Kugel hier sehe ich mich, wie ich mein Schulzeugnis bekomme und endlich das Erziehungsheim verlassen darf. Herr Raito, warum ticken alle Blasen unterschiedlich schnell?“ Hannah und Leo blicken sich an. Sie hören überhaupt kein Ticken. „Sehr erstaunlich, dass du auch das hörst, Collin. Die unterschiedlichen Wunderwasserwaben zeigen alle Uhrzeiten, die für den jeweiligen Betrachter relevant, also wichtig und gerade von Bedeutung sind. Sie ticken nicht alle gleich schnell, denn jede Zeit hat ihren ganz eigenen Willen. Manche Dinge vergehen schneller als andere. Es gibt Momente, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen. Und es gibt Tage, die vergehen wie im Flug. Zeit zum Spielen zum Beispiel tickt viel schneller als die Zeit zum Lernen. Die Zeit, auf etwas zu warten tickt viel langsamer als die Zeit, in der man etwas feiert“, antwortet Raito. Collin nickt, als würde er das verstehen, was Raito gerade erklärt hat. Leo schaut etwas skeptisch. Hannah nimmt ihre Ollopa2 in die Hand, visiert mit ihrem Auge am Sucher die Wasserkugeluhren über ihr an und drückt auf den gelben Auslöser. BLITZ!„Keine schlechte Idee, Hannah!“, sagt Raito. „Schlüssellochmodus. Was verrät dir deine Ollopa2 zu den Wasserwaben?“ Hannah blickt auf das Kameradisplay und liest laut vor:Bezeichnung: Wunderwasseruhr in Wunderwasserwaben

Funktion: Wichtige Zeiten zeigen

„Heißt das, ich habe jetzt endlich Geburtstag? Ich meine, ich hab es schließlich in dieser Kugel da drüben gesehen!“, sagt Leo und zeigt auf eine Wasserwabe. „Du hast Geburtstag? Das wusste ich nicht! Herzlichen Glückwunsch!“, sagt Raito, reicht Leo die Hand und verbeugt sich vor ihm. „Mal sehen, wie wir deinen Geburtstag gebührend feiern können.“ Leo grinst und blickt zufrieden zu Collin und Hannah. „Alles Gute, Leo“, sagen beide und umarmen ihn. „Entschuldige bitte, dass ich dich nachts aufgeweckt habe“, flüstert Hannah ihm zu. „Hey, Raito hat gesagt, dass wir hier auch feiern werden. Alles gut!“, antwortet Leo. „Deinen Kuchen gibt’s später, okay? Ich würde euch gerne zuerst noch diese drei Diamanten hier zeigen“, unterbricht Raito die Geburtstagsfreude und zeigt wieder auf die große Wasserblase mit der Pyramide in der Mitte des Raumes. Jetzt bemerkt Hannah auch drei kleinere Wasserkugeln, die sich anscheinend sehr langsam um die große Kugel mit der Pyramide bewegen. In jeder Blase schwebt ein faustgroßer Diamant. Ein blauer, ein gelber und ein roter. „Herr Raito, hast du das alles ollopafiert? Hast du das alles hergezaubert? Das magische Wasser. Die schwebenden Kugeln.“ Raito dreht sich zu Collin. „Nicht gezaubert, sondern erfunden und entwickelt, aber nicht alleine. Dabei haben mir noch andere Kollegen meiner Firma geholfen. Jetzt seht aber mal her. Ich hatte nie bemerkt, dass die drei Farbdiamanten neben der großen Pyramide beschädigt sind. Schaut mal genau hin. Die schwarzen kleinen Flecken. Ich glaube, durch den Bitzeinschlag damals wurden kleine Teile der Diamanten verbrannt. Und ich glaube auch, dass das der Grund ist, warum hier alles außer Kontrolle geraten ist“, erzählt Raito. „Und dieser große schwarze Diamant in der Mitte? Ist der komplett verbrannt?“, fragt Hannah. „Nein. Der ist von Natur aus so schwarz. Den habe ich genau untersucht und keine Beschädigungen feststellen können. Ich versichere euch, es sind die Brandflecken, die für die Halblichter verantwortlich sind. Es sind diese blinden Flecken auf den Diamanten, die die Funktion unseres ganzen Rechenzentrum beinträchtigen. Wenn wir drei neue Farbdiamanten hätten, könnten wir vielleicht Lumeria wieder in einen geordneten Zustand versetzen. Dann könnten meine Firma und ich doch noch den Freizeitpark eröffnen.“ Hannah überlegt und schluckt. Sie hat einen Kloß im Hals, als sie sich überlegt, wie der Zustand vor dem verheerenden Gewitter gewesen sein muss. „Vor dem Unwetter gab es doch nur die Lichter, die du und deine Kollegen hier programmiert hatten, oder? Aber was passiert dann mit den Halblichtern, Onkel Raito?“, fragt Hannah. „Verschwinden die dann alle?“, ruft Leo dazwischen. „Das geht nicht. Ich will unbedingt Blacky wiedersehen“, ergänzt er aufgeregt. „Beruhigt euch bitte“, antwortet Raito. „Ich liebe die Halblichter auch, aber sie hätten nie hier sein dürfen. Hannah, überlege dir doch nur, wie viel Schmerz dir das Wiedersehen mit Noah bereitet hat. Dein eigener Papa hat dich nicht erkannt. Ihr dürft nicht vergessen, dass es nur Hologramme sind. Sie bestehen nur aus Licht. Wenn sie nicht mehr hier sind, werden auch die Lichter wieder normal sein und wir können den Freizeitpark eröffnen. Dann kann jeder Lumeria besuchen und die berühmten Hologramme treffen. Wenn wir das nicht machen, wird niemals jemand hierherkommen können. Das wäre unverantwortlich“, behauptet Raito. „Warum unverantwortlich? Nur weil andere Wesen nicht so schön sind, wie die perfekten Helden aus den Filmen und Videospielen, die deine Firma und du hier haben wollt? Nur weil die Halblichter ihre eigene Meinung haben und nicht das machen, was du ihnen einprogrammiert hast? Ich finde es unverantwortlich, wenn du diese Fantasiewesen umbringen würdest! Auch wenn mein Papa mich hier nicht kennt, kann ich ihm so zumindest ein bisschen näher sein. Lass die Halblichter doch wenigstens in Lumeria leben, wenn sie sonst schon nirgends leben können!“, protestiert Hannah. „Hannah bitte beruhige dich! Ich bringe doch niemanden um. Das sind nur erfundene Wesen aus Licht.“ Ihr Onkel ist einige Schritte zurückgegangen und setzt sich auf eine rote Computerkiste. „Hannah, glaube mir! Es geht nicht anders. Kommt mit! Ich muss euch noch etwas zeigen!“

 


Die Insel außer Rand und Band


Raito hebt seine Ollopa2 an sein Auge und fokussiert die große Wasserkugel in der Mitte des Raumes. Hannah erkennt nicht, was in der Kugel zu sehen ist. Aber wenn sie diese eigenartigen Uhren richtig verstanden hat, zeigen sie immer nur die Dinge an, die für den jeweiligen Betrachter jetzt im Augenblick wichtig sind. Aber warum sah sie dann ihren Mathelehrer, schweifen Hannahs Gedanken kurz ab. Ach ja, sie wollte morgens nach dem Aufstehen gleich Mathe üben, weil sie vermutet, dass sie nach dem freien Wochenende eine Probe schreiben werden und den ganzen restlichen Tag bei Leo wäre, da er ja Geburtstag hat. Hannah schaut wieder zur Wasserkugel und dann zu ihrem Onkel. Der drückt den blauen Auslöser auf seiner Kamera. BLITZ!


Die schwarze Pyramide im Inneren der Blase beginnt jetzt noch mehr zu glitzern. Sie beginnt langsam rot zu werden, immer mehr zu leuchten und färbt das Wasser. Die Strahlen tauchen den ganzen Raum in rotes Licht. Es wird immer heller und röter. Hannah, Leo und Collin heben ihre Hände vor ihren Augen und blinzeln. „Onkel, was passiert da?“, fragt Hannah. „Fasst euch an den Händen und haltet euch gegenseitig fest. Es wird gleich etwas ruckelig“, warnt Raito. Plötzlich scheint der Raum sich zu bewegen. Mit einem Ruck dreht sich das Zimmer nach oben. „Ahhh!“ Leo schreit, als er bemerkt, dass er, Hannah und Collin kopfüber von der Decke hängen. Die drei halten sich fest an den Händen und blicken zu Raito. Der sitzt immer noch auf der roten Computerkiste, nur kopfüber. Das gesamte Zimmer scheint sich auf den Kopf gestellt zu haben. Es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn erneut dreht sich der Raum so schnell wie ein Blitz in eine andere Richtung. Jetzt stehen die drei an der Wand. Ratsch! Der Raum hat sich erneut gedreht. Jetzt stehen sie wieder auf dem Boden. Ratsch! Sie hängen wieder kopfüber. Ratsch. Stehen seitwärts. „Onkel! Mir wird schlecht. Hör bitte auf damit!“ Hannahs Magen hatte sich noch nicht von der Wunderwasserwabenfahrt erholt. Jetzt wird sie mitsamt des Zimmers immer wieder von oben nach unten und zur Seite geschleudert. Sie bewegen ihre Füße keinen Schritt, doch verändert der Raum ständig seine komplette Position. Jetzt ist der Boden anscheinend das Fenster. Denn die drei stehen an der Wand, die transparent ist. „Ich komme mir vor, wie in einem Zauberwürfel!“, ruft Collin. „Junge, du bist clever! Genau, das ist das Prinzip, das wir uns damals bei der Erfindung ausgedacht hatten!“, antwortet Raito. „Wir haben es gleich. Noch drei Züge, dann haben wir die Seitenfläche des Würfels auf rot“, erklärt er. Hätten die drei das Rechenzentrum von außen gesehen, hätten sie Raitos Erklärung noch besser verstanden. Die Fassade des Gebäudes besteht aus verschiedenen Farbquadraten. Mit jedem Ruck des Zimmers, dreht sich das gesamte Gebäude, als ob eine Geisterhand versucht, die Farbquadrate zu sortieren. Jedes Zimmer hat eine bunte Fensterfront, die von außen gesehen, ein Farbquadrat ergibt. Ratsch! Alle Zimmer mit roten Fenstern sind so gewandert, dass sie sich jetzt alle auf derselben Fläche befinden. Jetzt hat das Gebäude auf einer Seite eine komplett rote Wand. Der Raum, in dem sich Hannah und ihre Freunde befinden, ist jetzt rot wie Erdbeermus. Alles im Zimmer scheint knallrot zu strahlen. BLITZ!


„Au! Pass doch auf!“ Leo hält sich die Schulter. Irgendetwas hat ihn gerade gerammt. Leo dreht sich um, um zu erkennen, wer ihn gerade fast zu Fall gebracht hat. Aber er sieht nur noch ein großes schwarzes Wesen von hinten, der in einer Menge voller Kreaturen und anderen Wesen verschwindet. Leo weiß nicht, wohin er blicken soll. Er kommt sich vor wie in einem Wimmelbuch, das lebendig geworden ist. Er fühlt sich wie in einer lauten Zirkusmanege. Unter seinen Füßen befindet sich feiner Sand. Er erkennt Palmen. Sie befinden sich an einem komplett überfüllten Strand. Um ihn herum tummeln sich die verschiedensten Wesen. „Was ist denn hier los?“, ruft Hannah und blickt zu ihrem Onkel. „Was ist denn das? Wo sind wir?“, fragt Collin. „Das kann doch nicht sein, oder?“, sagt Hannah und dreht sich langsam im Kreis. Um sie herum herrscht viel Betrieb. Lichter und Halblichter laufen kreuz und quer an ihr vorbei. Auch Hannah weiß gar nicht, wo sie zuerst hinsehen soll. Zum gestiefelten Kater, der einer Grinsekatze hinterhertapst? Oder zu Frau Holle, die einem Schneemann namens Olaf mit Kopf unter seinem Arm Flugküsse zuwirft? Oder zu Sindbad, der sich lautstark mit einer Dschinn streitet, die wiederum über einer weinenden Wunderlampe schwebt. Da ist dieser fiese dreinblickende Räuber, der eine wunderschöne Fee im Schwitzkasten hält. Daneben ringelt sich eine Klapperschlange, die versucht, eine weiße Maus, die auf ihr sitzt, von sich zu schütteln. Doch die Maus hält sich fest und küsst den Rücken der Schlange. Ein strahlend weißes Einhorn schmiegt sich an einen schwarzen Stier, der sich angewidert wegdreht. Ein einäugiger Tyrannosaurus Rex schnuppert verliebt an einem Zitronenfalter, der verängstigt versucht, dem riesigen Dinosaurier davonzuflattern. Und dort ist der Weihnachtsmann, der dem Christkind einen dicken Schmatz auf die Nase drückt. „Maja, Maja! Warte doch. Ich glaube, ich hab’ mich total in dich verknallt“, ertönt über ihnen eine quietschige Stimme. Im selben Augenblick sausen zwei Comic-Bienen über sie hinweg. Als Hannah in den Himmel blickt, sieht sie rosarote Wölkchen. „Boa, ist das verrückt. Da ist Doraemon. Der versucht tatsächlich, Hello Kitty zu küssen!“, ruft Collin und zeigt zu einer blauen Comic-Katze mit roter Nase und ohne Ohren, die versucht eine weiße Katze, die eine pinkfarbene Schleife am Kopf trägt und keinen Mund hat, zu küssen. „Wahnsinn! Das sind diese Hologramme, von denen du mir dauernd erzählt hast, Leo? Oder?“, fragt Collin. „Äh, ich glaube schon“, antwortet Leo etwas verunsichert. Es sind so viele Lichter und Halblichter hier, dass es ihm etwas mulmig wird. „Onkel, warum sind die alle so aufgeregt? Wo sind wir?“, fragt Hannah erneut. „Rückt bitte alle zusammen! Hier ist alles durcheinander!“, antwortet Raito. Er hebt seine Ollopa2 vor sein Auge und drückt den roten Auslöser. BLITZ!

Die vier stehen plötzlich mit ihren Füßen auf spitzen Kiessteinen. Der gerade noch rosafarbene Himmel ist jetzt dunkelblau und hängt voller schwerer grauer Wolken. Frischer Wind weht durch Hannahs blonde Haare. Sie streift sich einige Strähnen aus ihrem Gesicht und blickt sich um. Als sie das Meer und die hohen Wellen am Kiesstrand erkennt, ist es schon zu spät. Wasserspritzer treffen sie. Auch Leo und Collin können sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen und werden nass. „Onkel! Was soll das?“, ruft Hannah. Da merkt sie, wie ihr Onkel in die andere Richtung blickt. Dort laufen verschieden Tiere umher. Hannah erkennt einige blaue Löwen, die im Meer planschen. Unheimlich viele mongolische Wüstenrennmäuse und Erdmännchen wuseln umher und bespritzen sich gegenseitig mit Wasser. Dazwischen scharren grün-orange-gefleckte Ferkel im Kiesstrand. Einige von den Babyschweinchen schwimmen im Meer. Eines steht auf einem Surfbrett und versucht einer kleinen Welle stand zu halten. Allen Tieren fehlen unterschiedliche Körperteile und alle haben nur ein Auge. „Das sind dann Halblichter, oder?“, fragt Collin. „Aber seit wann mögen denn Löwen salziges Meerwasser, und Erdmännchen gibt es doch nur in der Wüste, oder?“ Collin grübelt und betrachtet voller Verwunderung das Schauspiel am Kiesstrand. „Hannah! Ich werd verrückt! Ist das da drüben Ralf?“ Während Hannah, Collin und Raito noch immer zu den Tieren am Strand blicken, hat Leo seine Augen direkt aufs Meer gerichtet. Dort schwimmt ein ganz seltsames Wesen. Oder ist es ein Tier aus Metall? „Ist das ein schwimmender Bagger?“, fragt Collin. Das Schiff hat hinten einen gelben, großen Baggerarm. In der vorderen Hälfte des roten Schiffes ist eine Art Kanone angebracht, die gleichzeitig die Nase des Ungeheuers zu sein scheint. Darüber ist deutlich ein Auge zu erkennen, das gerade zu ihnen blinzelt. „Das ist mein Rennbaggerbonbonpanzerboot“, ruft Leo. Im selben Moment ertönt ein lauter Knall und das Boot schießt Bonbons durch ein blaues Schießrohr in Leos Richtung. Leo fängt eins der Geschosse. „Wow. Karamellbonbons!“, sagt Leo, zwirbelt das Bonbonpapier auf und steckt sich den Inhalt in den Mund. „Hannah, du weißt, was das bedeutet, oder?“, fragt Leo schmatzend. Collin und Raito blicken etwas verwirrt zu ihm. Hannah grinst. „Das bedeutet, dass unsere gezeichneten Halblichter in Lumeria tatsächlich existieren“, murmelt sie. Als Hannah wieder aufs Meer zu Leos erfundenem Halblicht blickt, dreht sich das einäugige bonbonspuckende Ungetüm um und taucht ab. „Stellt euch bitte nebeneinander. Ich muss uns noch einmal ollopafieren“, sagt Raito plötzlich und blickt schon durch seine Kamera auf sich selbst und die Kinder. BLITZ!



Plötzlich schimmert um sie herum alles gelb. Dieses Teleskop kommt Leo bekannt vor. Hier war er doch schon einmal. „Onkel Raito, was machen wir jetzt auf deinem Balkon?“, fragt Hannah. „Was soll das alles?“ Während Hannah und Leo zu Raito blicken und auf eine Antwort warten, bewundert Collin den Ausblick in die weite, gelb schimmernde Wüste. Er dreht sich um und erkennt, dass sie sich auf einer Art Aussichtsplattform an einem Berghang befinden. Neben ihnen erhebt sich eine steile Wand, die bis zum Gipfel des Gebirges reicht. Ihm stockt plötzlich der Atem. Direkt über ihm am Felsen versuchen etliche Pinguine und ein Elefant, der Taschen und Knöpfe am Bauch und statt Ohren Sonnenschirmen hat, nach oben zu klettern. Collin kann den Blick nicht von diesen Tieren lassen. Vor allem der Elefant mit Kängurubeinen fesselt seinen Blick. Mit seinem Rüssel saugt er sich am harten Felsen fest und zieht sich langsam nach oben. „Äh, das wird ja immer verrückter. Sagt mal, sind die Stoßzähne bei diesem Elefanten aus Zuckerstangen? Wow!“, sagt Collin. Erst jetzt bemerken auch Hannah und Leo, dass über ihnen ein großer, himmelblauer Elefant am Berg hängt. „Hannah, ist das nicht der Elefant, den du erfunden hast?“, fragt Leo leise. „Ja. Das ist ja Wahnsinn! Belu, mein Taschenelefant ist auch hier! Ich wusste gar nicht, dass er sogar klettern kann!“, antwortet Hannah. In ihrem Kinderzimmer hatte sie einen Fantasieelefanten auf Papier gezeichnet. Nie hätte Hannah geglaubt, dass sie genau diese Zeichnung irgendwann als echten Elefanten in der Realität sehen würde. Die Sonnenschirme sehen genau so aus, wie sie Hannah gemalt hatte. Selbst die karierten Knöpfe der Taschen an den Seiten des Elefanten sind so, wie sie Hannah in ihren Gedanken erfunden hat. Jetzt kraxelt diese lebendig gewordene Malerei wie ein Bergsteiger an einer steilen Bergwand empor. Unglaublich, denkt sich Hannah. Sie freut sich, ihr ganz persönliches Halblicht hier in Lumeria zu sehen. Doch ihr Onkel blickt grimmig erst zu den Pinguinen und zum Elefanten und dann in den Himmel. Er sieht, wie die Wolken langsam ihre Farben wechseln. Das Goldgelb am Himmel wird langsam zu einem Orange. „Es wird gleich Nacht. Folgt mir in meine Wohnhöhle. Da ist es wärmer und ich kann euch alles erklären. Hier draußen herrscht überall Chaos und ich brauche dringend eure Hilfe!“

 


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