Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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4.4 Die unbeantwortbare Frage nach der Schuld: Fritz Langs

M

 (1931)



„Im Nachhinein wissen wir, dass 1931 das eigentliche Jahr war, in dem die Demokratie verloren ging“, hat Anton KaesKaes, Anton in seiner „Spurensuche“ zu Fritz Langs

M

 festgestellt (Kaes 2010, 7f.). Am 1. Januar 1931 zieht die NSDAP-Reichsleitung in das sogenannte Braune Haus in München ein; am 11. Oktober wird die rechtsextreme Harzburger Front gegründet; am 16. Dezember folgt die Gründung der gegen dieses Bündnis gerichteten linken Eisernen Front. Bereits diese wenigen Daten illustrieren einen Prozess, in dem sich die von Hannah ArendtArendt, Hannah so benannte „Banalität des Bösen“ (Arendt 2015) immer deutlicher institutionell und politisch bemerkbar machte.



In diesem gesellschaftlichen Klima entstand der nach Einschätzung internationaler Filmexperten

beste deutschsprachige Film aller Zeiten

 (auf Platz 6 aller jemals gedrehten Filme weltweit, vgl. Top 100 films of all time 2019) mit dem wohl kürzesten Filmtitel aller Zeiten (der längere Titel

M – Eine Stadt sucht einen Mörder

 etablierte sich erst später). Er beruht auf authentischen Fällen. Lang war passionierter Zeitungsleser und wurde so auf eine zunehmende Zahl von Gewaltverbrechen an Kindern aufmerksam. Vor allem war es die Berichterstattung über die Verfolgung des ‚Vampirs von Düsseldorf‘, des Serienmörders Peter KürtenKürten, Peter, der 1930 verhaftet und unter großem Medienecho zum Tode verurteilt wurde, die Lang und seine Co-Drehbuchautorin, seine Noch-Ehefrau Thea von HarbouHarbou, Thea von, in dem Film mit verarbeiteten.



In Berlin (der Name der Stadt wird nicht genannt, aber es gibt genügend Hinweise) wird bereits seit acht Monaten (M 2003, 0:36:46) ein Kindermörder gesucht, Plakate versprechen eine Belohnung von 10.000 Mark (z.B. M 2003, 0:04:36f.). Die Bevölkerung wird aufgefordert, Kinder nicht allein auf die Straße zu lassen. Durch Presseartikel und Fahndungsplakate entsteht eine aufgeheizte, fast hysterische Stimmung, in der

alle verdächtig

 sind und selbst Bekannte einander grundlos verdächtigen, sogar gegeneinander gewalttätig werden (M 2003, 0:11:14ff.). Weil die Polizei überall Razzien durchführen lässt, um nicht untätig zu erscheinen (M 2003, 0:21:20ff.), beschließen Vertreter der Verbrecherorganisationen, selbst nach dem Mörder zu suchen, um wieder in Ruhe den eigenen ‚Geschäften‘ nachgehen zu können (M 2003, 0:39:14ff.).



Der Mörder Hans Beckert (Peter LorreLorre, Peter) spricht die kleine Elsie Beckman auf der Straße an (M 2003, 0:04:56ff.). Das Kind ist auf dem Rückweg von der Schule, seine offenbar alleinerziehende und hart arbeitende Mutter wartet auf es zuhause (M 2003, 0:03:29ff.). Beckert kauft dem Mädchen bei einem Bettler einen Luftballon (M 2003, 0:05:52ff.). Die Leiche des Mädchens wird gefunden; die Tat selbst, offenbar mit einem Messer begangen, wird nicht gezeigt, stattdessen rollt der Ball des Mädchens ins Bild und sein Luftballon fliegt davon (M 2003, 0:08:06ff.). Der Mörder schickt ein Bekennerschreiben an eine Zeitung, die es veröffentlicht (M 2003, 0:09:01ff.). Das Schreiben wird von der Polizei, die sich Erkenntnisse über den Täter erhofft, auf alle denkbaren Spuren hin untersucht (M 2003, 0:14:36ff.).



Angeführt von dem ‚Schränker‘ (kein Geringerer als Gustaf GründgensGründgens, Gustaf), einem Geldschrankknacker und Polizistenmörder, suchen die Verbrecher zeitgleich mit der Polizei nach dem Mörder. Über die Organisation der Bettler erfahren die Verbrecher von dem Kauf des Luftballons (M 2003, 0:40:54ff.). Es ist schließlich der blinde Luftballonverkäufer, der den Mörder am wiederholten Pfeifen seiner Melodie erkennt und so die Verbrecher auf seine Spur setzt (M 2003, 0:54:48ff.). Beckert hat wieder ein kleines Mädchen angesprochen, das er nun zurücklassen muss. Einer der zunächst unauffälligen Verfolger hat es geschafft, Beckert auf dem Rücken mit einem „M“ aus Kreide zu markieren (M 2003, 0:57:50ff.). Als Beckert die Markierung entdeckt, flieht er auf den Speicher eines Bürogebäudes (M 2003, 1:02:40ff.) und wird dort, nachdem die Suche erhebliche Zerstörungen bis hin zu einem Deckendurchbruch verursacht hat, von den Verbrechern gefunden und mitgenommen (M 2003, 1:17:08ff.). Der Blick des wie ein Tier in einem Verschlag in die Enge getriebenen Beckert zeigt größtmögliche Angst und Panik (M 2003, 1:16:38).



Der leitende Ermittler, Kriminalkommissar Karl Lohmann (Otto WernickeWernicke, Otto), ist mittlerweile auch auf Beckerts Spur gekommen. Er hat Beamte die Wohnungen von klinischen Fällen mit dem Täterprofil durchsuchen lassen (M 2003, 0:39:42ff.). In der Wohnung des Mörders werden wichtige Indizien für die Täterschaft gefunden (M 2003, 0:49:28ff.; 0:54:08ff.; 0:58:56ff.). Die Verbrecher haben Beckert in eine stillgelegte Schnapsfabrik gebracht (M 2003, 1:30:40ff.) und machen ihm, vor einer Versammlung von weiteren Verbrechern, einen Schauprozess (M 2003, 1:31:46ff.). Der Schränker, der ‚Vorsitzende‘ der Versammlung, formuliert es sarkastisch so: „Dir soll Dein Recht werden. Hier sitzen lauter Sachverständige in Rechtsfragen“ (M 2003, 1:34:51ff.). Der Schränker hat auch kein Problem damit, auf die Frage des ‚Angeklagten‘, ob die Verbrecher ihn „umbringen“ wollen, die scheinbare Gerichtsverhandlung als Farce zu entlarven: „Wir wollen Dich unschädlich machen, das wollen wir. Und ganz sicher unschädlich bist Du nur, wenn Du tot bist“ (M 2003, 1:34:54ff.).



Beckert wird wie ein Tier in die Enge getrieben und er drückt seine Hilflosigkeit gegenüber seinen eigenen Taten aus. Der grandiose Monolog Peter LorreLorre, Peters zeigt deutlich, dass Beckert psychisch krank und nicht verantwortlich für seine Taten ist (M 2003, 1:36:53ff.). Von der Versammlung wird er

enthumanisiert

: „Das ist ja kein Mensch“, lautet ein Zwischenruf (M 2003, 1:44:02f.). Andererseits werden seine Taten auch nicht verharmlost. So wird gerade am Anfang, durch das erst freudige und dann besorgte Warten der Mutter Elsies, auf das Furchtbare der Tat zuallererst vorausgedeutet.



Über einen im Bürogebäude unabsichtlich zurückgelassenen, dort gefangenen Verbrecher kommt die Polizei dem Tribunal auf die Spur (M 2003, 1:18:46ff.). Lohmann und seine Kollegen können gerade noch verhindern, dass Beckert gelyncht wird (M 2003, 1:44:20ff.). Am Ende des Films wird das Urteil gegen den Kindermörder verkündet, es ist aber nicht zu hören. Nach der Inquit-Formel „Im Namen des Volkes“ erfolgt ein Schnitt und die trauernden Frauen sind zu sehen, von denen die mittlere sagt: „Davon werden unsere Kinder auch nicht wieder lebendig. Man muss eben noch besser auf die Kinder achtgeben“ (M 2003, 1:45:05ff.). Mit dem letzten Satz schlägt der Film einen Bogen zurück zum Anfang – die Bedrohung ist nur in diesem Fall gebannt.



Der Film entwickelt einen unverwechselbaren Stil. Die Möglichkeiten des frühen Tonfilms nutzt Lang auf eine ganz besondere Weise – er verzichtet auf die übliche Musik zugunsten der (innerfiktional vom Täter, tatsächlich von Lang selbst) gepfiffenen Melodie des Bergkönigs aus Edvard GriegGrieg, Edvards

Peer GyntPeer Gynt

 und der

Geräuschkulisse

 einer Großstadt. Dazu zählt auch die Leierkastenmusik der Bettler, die immer dann aufhört, wenn ein Bettler sich die Ohren zuhält (M 2003, 0:46:11ff.). Um einen etwas schiefen Vergleich zu wagen: Was Walter RuttmannRuttmann, Walter 1927 in seinem episodenhaften Stummfilm

Berlin – Die Sinfonie der GroßstadtBerlin – Die Sinfonie der Großstadt

 mit suggestiven Bildern erreichte, das erzeugt Lang mit seiner Geräuschkulisse, und das ganz nebenbei, denn vor allem geht es ja um die Jagd nach einem Täter. Auch wird auf originelle Weise die

Arbeit der Polizei

 dargestellt: Der Polizeipräsident rechtfertigt sich in einem Telefonat mit dem Minister für den bisher fehlenden Fahndungserfolg mit einer Darstellung der Fahndung, seine Stimme ist dann nur noch aus dem Off zu hören und im Bild ist die Vielfältigkeit der Polizeiarbeit zu sehen (M 2003, 0:16:15ff.).



Die Kameraeinstellungen sind extrem beeindruckend, nicht zuletzt, weil sie die Frage nach der Schuld auf der

symbolischen Ebene

 verhandeln. Dies kann durchaus plakativ geschehen: Gleich am Anfang schlägt die Uhr der Mutter Elsies, die ihr Kind verlieren wird, zwölf (M 2003, 0:03:29ff.). Als die Mutter aus dem Off nach ihrem Kind ruft, ist der leere Teller Elsies auf dem gedeckten Mittagstisch zu sehen (M 2003, 0:08:00). Der offenbar unter einer Persönlichkeitsspaltung leidende Täter wird zuerst als ein Schatten auf einem Fahndungsplakat gezeigt, der auf die kleine Elsie heruntersieht (M 2003, 0:04:52ff.).



Der Film arbeitet auch mit symbolisch wirkenden Überblendungen. So wird der Täter gezeigt, wie er sich im Spiegel ansieht, als gerade ein Psychologe auf der Basis seines Bekennerschreibens ein Gutachten diktiert, in dem ihm „Schauspielerei“ bescheinigt wird (M 2003, 0:15:33ff.). Wenn er ihm dabei außerdem attestiert, dass sich in der Schrift der „Wahnsinn“ des Täters spiegele, während Lorre dabei seine Mundwinkel mit den Fingern nach unten zieht und große Augen macht, dann ist dies einer der ebenfalls häufig vorzufindenden, ironisch-verfremdenden, das Bemühen um die Erzeugung von

Distanz

 unterstützenden Momente, mit denen die Zuschauer*innen dazu gebracht werden sollen, sich eigene Gedanken über das Geschehen zu machen.



Der Mörder spiegelt sich außerdem in Schaufenstern, so wird seine Doppelnatur filmisch eingefangen. Eines dieser Schaufenster gehört einem Messer-Geschäft und der Blick des Mannes spiegelt (im Spiegel der Scheibe und in der Reflexion der Messer) seine

innere Zerrissenheit

. Zunächst sieht er wie ein normaler Passant aus, der einen Apfel isst und flüchtig die Auslage betrachtet. Doch nach und nach ändern sich Gesichtsausdruck und Verhalten beim immer genaueren Anblick der Messer, von der Kamera eingefangen in der Symbolik gebrochener Spiegelungen (M 2003, 0:49:50ff.). Dabei wird das Gesicht von einem gespiegelten Messer-Viereck gerahmt (M 2003, 0:50:15). Die Symbolik ist vieldeutig: Das Viereck kann ein Fadenkreuz sein, in das der Täter immer mehr gerät, es kann aber auch für die innere Gefangenschaft in der Gewaltspirale stehen und als metafiktionaler Verweis auf das Künstlich-Künstlerische des Films ‚gelesen‘ werden. Auch ein Kind, das Beckert sieht und das ihm dann entkommt, weil es auf seine Mutter trifft, erscheint zuerst in der Spiegelung dieses Messer-Vierecks (M 2003, 0:50:20ff.).

 



Dies ist nur ein Beispiel für die komplexe visuelle Symbolik des Films. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Schwarz-Weiß-Dichotomisierungen in der Gesellschaft ist besonders bedeutsam, dass der Film mit den angesprochenen Strategien sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene die Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ konsequent

durchkreuzt

. Dies betrifft sowohl die kleine Mädchen mordende Hauptfigur – „Peter LorreLorre, Peter zeichnet den Täter als Opfer“ (Töteberg 2005, 395) – als auch ihre Verfolger: „Gleiche Gesten und die gleiche Kameraposition unterstreichen die Identität zwischen Verbrechersyndikat und Staatsorgan: Ordnungsmächte sind sie beide“ (Töteberg 2005, 394). Der Film ist somit nicht nur, aber auch ein

Kommentar zur Zeit

: „‘M‘ zeigt dem Publikum eine Welt, in der viele ökonomische Tauschgeschäfte nahe der Kriminalität angesiedelt sind und umgekehrt dann selbst die schlimmsten Verbrechen (wie ein Mord) die ökonomische Logik funktionalisieren“ (Hall 2010, 138). Diese Analogie wird vom Film bis ins Detail ausgestaltet: „Ironischerweise ist es ausgerechnet die paternalistische Geste eines Polizisten, die Elsie den Händen ihres Mörders ausliefert“ (Hall 2010, 143).



Wie beispielsweise auch in Erich KästnerKästner, Erichs aus dem selben Jahr 1931 stammenden Roman

FabianFabian

, der mit einer vergleichbaren Szene eröffnet, werden Ereignisse durch ihren

Konsumcharakter

ethisch vollkommen beliebig: „Der zweite Steckbrief, diesmal mit der Beschreibung von Elsies Tod, klebt zwischen Plakaten für Boxkämpfe, Kabarettvorstellungen und sogar für einen zeitgenössischen Heimatfilm“ (Hall 2010, 144). Auch durch seine Symbolik spielt der Film auf den zeitgeschichtlichen Kontext an, etwa wenn der Mörder Edvard Griegs „Bergkönig“-Melodie pfeift – dies ist die einzige Musik, die im Film zu hören ist. Urs Büttner hat nachgewiesen, „ dass das ‚Peer GyntPeer Gynt‘-Bild in der Weimarer Republik stark von der Übertragung Dietrich EckartEckart, Dietrichs geprägt war, die nationalsozialistisches Gedankengut vermitteln will“ (Büttner 2010, 43). Insofern müsse dieser intermediale Bezug „als eine subversive Kritik am nordischen Heldenbild der Nazi-Ideologie interpretiert werden“ (ebd.).



Wie Maria TatarTatar, Maria nachgewiesen hat, wird aber nicht nur im deutschsprachigen Film die Praxis problematisiert, Täter buchstäblich zu Monstern werden zu lassen, um sie als Projektionsfläche für die eigenen Ängste nutzen zu können. Dies gilt etwa auch für



James WhaleWhale, Jamess ‚FrankensteinFrankenstein‘ von 1931, aus demselben Jahr wie Fritz Langs ‚M‘. Ohne dies zu beabsichtigen, tötet das unschuldige Monster ein ebenso unschuldiges Mädchen, indem es dieses mehr spielerisch als mörderisch ins Wasser schleudert und ertränkt. Es ist wenig verwunderlich, dass diese Szene der Zensur zum Opfer fiel und erst in jüngster Zeit wieder dem restaurierten Film beigefügt wurde. (Tatar 2010, 115)



Schließlich ist Langs Film hochgradig

metafiktional

. Er stellt sein eigenes filmisches Gemachtsein aus und nutzt es, um den Konstruktionscharakter der gezeigten verbrecherischen Versuchsanordnung umso mehr zu betonen (vgl. Harst 2010, 55). Der Film beginnt nicht zufällig mit einem Abzählreim, in dem ein Kind andere Kinder auszählt, die vom „schwarzen Mann“ mit seinem „Hackebeilchen“ geholt werden (M 2003, 0:01:09ff.). Das Spiel der Kinder korrespondiert mit dem filmischen Licht-Spiel:



Wie im Spiel aus dem Ring der Kinder der Schuldige produziert wird, so führt der Film die Produktion eines Schuldigen nach den ihm immanenten medialen Gesetzmäßigkeiten vor. Damit wird die Frage nach Verbrechen und Schuld nicht ausgeräumt, sondern mit größerer Komplexität neu gestellt, da sie nicht mehr der Tat, sondern den von ihr erzählenden Strukturen verbunden ist. (Harst 2010, 61f.)



Auch die Komik vieler Szenen betont den Spiel-Charakter und erinnert dabei an das Theaterkonzept Bertolt BrechtBrecht, Bertolts. So spielt beispielsweise der mit Brecht privat und beruflich eng verbundene Theo LingenLingen, Theo, der später einer der bekanntesten Komödien-Darsteller des deutschen Sprachraums werden sollte, eine der größeren Verbrecher-Rollen. Wie alles andere hat auch die Zusammenkunft der Vertreter der „Ring-Organisationen“, der Verbrecher-Zünfte, gerade in ihrer Zeichnung als Kleinbürger, die auf Pünktlichkeit Wert legen und sich mit dem Schränker die Rückkehr „geordnete Verhältnisse“ wünschen und sich über ihr „Renommee“ Sorgen machen, komisch-ironische Untertöne (M 2003, 0:29:15ff.). Es gibt viele weitere

hintergründige Pointen

, wie das in der Unterkunft der Bettler aufgehängte Schild „Betteln und Hausieren verboten“ und der den Börsenhandel parodierende Handel der Bettler mit Lebensmitteln wie Broten und Würsten (M 2003, 0:42:13ff.).



Die Produktion des Films spiegelt die Produktion der Verbrechen und umgekehrt, wobei es vor allem um das Verbrechen der Verbrecher geht, den Triebtäter vor ein Tribunal zu stellen – die Mordtaten sind nur der Auslöser und entsprechend Leerstellen, sie zeichnen sich durch eine

Präsenz in der Absenz

 aus. Die Frage nach der Schuld und nach einer für alle Beteiligten angemessenen Auffassung von Gerechtigkeit wird durch die Suche nach dem Täter, seine Verhaftung und Bestrafung nicht nur nicht beantwortet, sondern überhaupt erst gestellt.



Der Höhepunkt der bitterbös-ironischen Konzeption ist das Urteil des kalkulierten und seine Emotionen beherrschenden, aber „wegen Totschlags in drei Fällen“ gesuchten (M 2003, 1:41:11ff.) Verbrecheranführers Schränker über den Triebtäter: „Dieser Mensch muss ausgelöscht werden , dieser Mensch muss ausgerottet werden, dieser Mensch muss weg“ (M 2003, 1:40:46ff.). Allerdings darf der ‚Verteidiger‘ noch erwidern, und er wird dafür von der Versammlung ausgelacht und angefeindet: „Einen Menschen zu töten, der für seine Taten nicht verantwortlich zu machen ist, dazu hat niemand das Recht, auch nicht der Staat. Und Sie schon gar nicht“ (M 2003, 1:42:28ff.). Anschließend wird der Ruf nach „Totschlagen“ immer lauter, immer mehr Figuren mit zu Grimassen verzerrten Gesichtern drängen nach vorne – und nur das Eingreifen der Polizei kann die Selbstjustiz der Menge verhindern (M 2003, 1:44:20ff.).



Bitterböse Ironie der Geschichte: Die suggestive symbolische Kraft des Films wirkt weit über seine direkten Kontextbezüge hinaus. So wie der Täter mit einem „M“ markiert wird, so werden später zahlreiche Menschen, die allerdings nichts Böses getan haben, markiert und unschuldig ermordet. Das Verhältnis von Tätern und Opfern, von Mördern und Verfolgten wird sich auf radikale Weise weiter umkehren.





4.5 Die schwierige Abgrenzung von Kriminalerzählung, Detektiverzählung und Thriller: Nele Neuhaus’

Böser Wolf

 (2012)



An einem abschließenden, im Untertitel mit „Kriminalroman“ bezeichneten Beispiel aus der Literatur soll noch einmal exemplarisch das Problem der Unterteilung des Genres und der Klassifizierung von Krimis verdeutlicht werden. Abgesehen davon, dass es die idealtypischen Beispiele, die dem Genre zugeschrieben worden sind, so gar nicht gibt, hat das ohnehin schon immer

hybride Genre

 zu unterschiedlichsten Synthesen gefunden, und das noch einmal mehr in der Muster und Modelle collagierenden Postmoderne. Dazu kommt, dass in der Rezeption die Grenzen zwischen Trivial- und Höhenkammliteratur verschwimmen.



Zu den besonders populären und in der Literaturkritik zumindest beachteten Krimi-Autor*innen der Gegenwart zählt Nele Neuhaus (geb. 1967 und mit dem Autor dieser Zeilen nicht verwandt; ihr Geburtsname ist Cornelia LöwenbergLöwenberg, Cornelia). Seit 2005 veröffentlicht sie Kriminalromane (zunächst im Selbstverlag; dazu kommen seit 2007 auch Kinderbücher), ihre bekanntesten Figuren sind das Ermittlerduo Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff. Seit 2013 ermitteln die beiden Figuren auch im ZDF im sogenannten „Taunuskrimi“, die Serie basiert auf den Romanen von Neuhaus.

Böser Wolf

 erschien Ende 2012 und war sechs Wochen auf Platz 1 der

Spiegel

-Bestsellerliste. Die bekannte Internet-Plattform

Lovelybooks

 gibt ihm 4,7 von 5 Sternen aus 727 Bewertungen (Stand vom 17. März 2020). Die Verfilmung unter der Regie von Marcus O. Rosenmüller wurde 2016 in zwei Teilen gezeigt. Hier soll es aber nur um den Roman gehen.



In ihrer „Danksagung“ am Ende des Buches weist Neuhaus auf den Schreibanlass hin – ihr Engagement für ein Mädchenhaus, die Kenntnis und die Lektüre von authentischen Berichten: „Mir wurde bewusst, wie aktuell das Thema Kindesmissbrauch und wie groß die Not und die Angst der missbrauchten Mädchen ist“ (Neuhaus 2013, 474). Dass sie in einer langen Tradition der Beschäftigung mit dem Thema in Literatur und Film steht, von denen Fritz LangLang, Fritzs Film

MM

 und Friedrich DürrenmattDürrenmatt, Friedrichs Roman

Das VersprechenDas Versprechen

 zu den prominentesten gehören, wird nicht erwähnt und auch im Roman findet sich kein intertextueller Verweis darauf.



Der Roman selbst ist vor allem auf

Handlungsspannung

 ausgerichtet. Durch die Verwendung von Schemata, Stereotypen und Klischees in der Figurenzeichnung wie in der Handlungskonstruktion und durch das Ziel, möglichst starke Emotionen bei den Leser*innen hervorzurufen, bleibt er, wie zu zeigen sein wird, in seiner Behandlung des Themas inkonsistent. Den Schluss könnte man durchaus als zynisch interpretieren: Einer der Haupttäter – ein Vergewaltiger, Folterer und Mörder eines Mädchens, Organisator eines Kinderschänderrings – entkommt nach Schweden und die letzten Worte des ‚Epilogs‘ lauten, nachdem er ein Mädchen von fünf oder sechs Jahren (also im bevorzugten Alter der Kinderschänder) am Sturz auf einer Rolltreppe gehindert hat: „,Ist doch nichts passiert‘, lächelte Frey, strich dem Kind übers Haar und ging weiter. Was für ein süßes kleines Mädchen, auch wenn es jetzt weinte. Kinder gaben dem Leben erst einen Sinn“ (Neuhaus 2013, 472f.).



Dass Frey den Sinn kleiner Mädchen darin sieht, ihm und anderen als

Missbrauchsopfer

 zu dienen, führt zu einer perfiden Doppeldeutigkeit, die aber weniger dieser schablonenhaft konstruierten Figur als vielmehr dem auf Effekt berechneten Roman anzulasten ist. Auch der komische Akzent am Schluss des letzten Kapitels (also vor dem „Epilog“) ist Teil des Wechselbads extremer Gefühle, das der Roman inszeniert und in dem Komik ansonsten so gut wie nicht vorkommt. Das entführte und aus der Gefangenschaft Freys befreite Mädchen Lilly sagt zu ihrem Großvater und ihrer ‚Stiefgroßmutter‘ Pia, dass sie ihren in Australien lebenden Eltern nichts erzählen wird. Pia und Christoph denken, so wie vermutlich die Leser*innen, an die traumatischen Erlebnisse des Kindes in den letzten Stunden. Der

comic relief

 folgt als letzter Satz dieses letzten Romankapitels (vor dem Epilog): „‚Dass ich Kaffee trinken darf natürlich‘, erwiderte Lilly und grinste“ (Neuhaus 2013, 471).



Der Roman erzählt die komplexe Handlung um einen Kinderschänderring aus der Perspektive unterschiedlicher Figuren. Allerdings handelt es sich nicht um personale Erzähler und somit multiperspektivisches Erzählen, wie für den Roman der Postmoderne durchaus üblich, sondern um einen auktorialen Erzähler, der in der Lage ist, sich in die Gedanken- und Erlebniswelt der Figuren hineinzuversetzen, selbst dann, wenn sie kurz danach sterben (Neuhaus 2013, 267f. u. 288). Für diese

Omnipräsenz

 muss es in der Trivialliteratur bekanntlich keine Erklärung geben, denn der Sinn der Erzählanlage liegt in der Funktion, Spannung zu erzeugen. Die Leser*innen werden selbst zu Detektiv*innen, indem sie die Puzzleteile zusammensetzen müssen und im Verlauf der Handlung lernen, richtige von falschen Fährten zu unterscheiden. Dabei ist vermutlich nicht beabsichtigt, die Leser*innen auf dem bis kurz vor Schluss defizitären Erkenntnisstand der Ermittlerfiguren zu lassen. Allerdings bleibt unklar, ob die Detailfülle eher der Erzeugung weiterer Spannung dienen oder an die kombinatorischen Fähigkeiten der Leser*innen appellieren soll (oder beides). Das Ermittlerduo ist unbestechlich (auch wenn es zwischendurch an Bodensteins Integrität Zweifel gibt; vgl. Neuhaus 2013, 345) und versucht stets, moralisch einwandfrei zu handeln.

 



Die Ermittlerin Pia ist immer wieder ihrem Chef Bodenstein (sie wird im Roman meistens mit ihrem Vornamen, er mit seinem Nachnamen bezeichnet) in ihren Erkenntnissen voraus. Allerdings handelt sie, im Unterschied zu ihm, oft affektgesteuert und es wird immer wieder ihr (gutaussehendes) Äußeres beschrieben: „Noch immer trug sie das Sommerkleidchen und die Slingpumps “ (Neuhaus 2013, 448). Männerfiguren wird zugestanden, dies auf traditionelle Weise würdigen zu dürfen: „Jeder Kollege, der ihr auf dem Weg nach oben begegnet war, hatte sie anerkennend gemustert, einer hatte ihr sogar spaßeshalber nachgepfiffen“ (Neuhaus 2013, 382). Zu fragen ist daher, ob nicht in dem Roman ein

traditionelles Bild

 von ‚Weiblichkeit‘ lediglich etwas modernisiert worden ist. So wird Pia am Ende der Ermittlungen von ihrem Kollegen Kröger, der auch Lilly gerettet hat (obwohl sie dies unbedingt selbst tun wollte), nach Hause geschickt, als gerade einer der wichtigsten Mittäter sich stellen will. Dies geschieht im Befehlston: „,Du fährst jetzt nach Hause.‘ Kröger schob sie ins Auto. ‚Darum kümmere ich mich. Wir sehen uns am Montag‘“ (Neuhaus 2013, 470). Die Fürsorge angesichts ihrer Erschöpfung weist auf Schwäche und Passivität der Frauenfigur. Schon kurz vorher hatte er ihr bei der Sorge um Lilly attestiert: „Jede Frau hat einen Mutterinstinkt“ (Neuhaus 2013, 468). Und der Schluss, die idyllische Szene mit Pia, ihrem Partner und Lilly, lässt das typische Bild der Kleinfamilie aufscheinen, wenn auch in neuer Kombinatorik des Patchworks.



Nicht weniger problematisch ist die Figurenzeichnung der Moderatorin Hanna Herzmann, die den Kinderschänderring auffliegen lassen will und die, weil sie sich ihrem guten Freund Wolfgang Matern (der den Wolf im Namen trägt, sich aber eher wie ein Schaf verhält) anvertraut, vergewaltigt und beinahe getötet wird. Matern ist Sohn des Medienmoguls Hartmut Matern, der ebenfalls zu den führenden Köpfen des Kinderschänderrings gehört und schließlich von Michaela – der totgeglaubten Tochter des Familienpatriarchen Dr. Josef Finkbeiner, an dem sie sich vor allem rächen will – erschossen wird (Neuhaus 2013, 420). Die als männerverschleißende und selbstverliebte Egomanin geschilderte Hanna, die auch ihre eigene Tochter immer vernachlässigt hat (Neuhaus 2013, 35 u.a.), entdeckt spät nicht nur mütterliche Gefühle, sie verliebt sich auch in Kilian Rothemund, einen wegen Kindesmissbrauchs fälschlich zu drei Jahren Haft verurteilten ehemaligen Anwalt, der schon lange kein Problem damit hat, auf seinen früheren großen Wohlstand zu verzichten (Neuhaus 2013, 87).



Dass Hanna selbst vergewaltigt wird, wirkt wie eine Strafe für ihr Verhalten gegenüber Missbrauchsopfern, die sie häufig interviewt und damit ihre Quote gesteigert hat: „Sie hatte Mitgefühl und Verständnis geheuchelt, aber insgeheim hatte sie diese Frauen verachtet und gedacht: selbst schuld, wenn euch das passiert. Wer so aufreizend herumläuft wie eine Nutte auf dem Straßenstrich oder geduckt wie ein ängstlicher Hase, der muss damit rechnen, überfallen und vergewaltigt zu werden“ (Neuhaus 2013, 233). Die

Buße

 als Teil eines hochproblematischen Konzepts poetischer Gerechtigkeit macht den Weg frei für ein stereotypes Liebespaar-Happy End: „Kilian war da. Ihm war es egal, wie sie aussah. Selbst wenn sie ihre makellose Schönheit nie mehr hundertprozentig zurückerlangte, so würde er zu ihr stehen“ (Neuhaus 2013, 453).



Die

Ausrichtung auf Spannung und Effekt

 sorgt für eine Mischung aus, auf die Vergangenheit bezogener, Detektivarbeit und auf die Zukunft gerichteter, weitere Untaten verhindernder Polizeiarbeit. Dabei gibt es viele neue Opfer – darunter eine ermordete Frau, eine vergewaltigte Frau und zum Schluss ein Akt der Selbstjustiz mit mehreren Opfern. Pia Kirchhoff ist als Gast der Schwiegertochter Emma bei dem Fest für Familienpatriarch Dr. Josef Finkbeiner zufällig zugegen, als die totgeglaubte Tochter Finkbeiners, Michaela, auf ihren Vater und auf zwei andere Täter schießt. Finkbeiner, der seinen 80. Geburtstag feiert, ist Gründer des nunmehr 40 Jahre alten Hilfswerks für ledige Mütter „

Sonnenkinder e. V.

“ (Neuhaus 2013, 413) und Oberhaupt der Kinderschänder-‚Familie‘. Pia kann nicht nur die Tat nicht verhindern, sie durchschaut auch nach der Tat immer noch nicht die Zusammenhänge und lässt den schlimmsten Täter unbehelligt – Oberstaatsanwalt Markus Frey, der später Lilly entführen wird. Dass ihr vom Roman zugestanden wird, ihr ‚treudoofes‘ (Neuhaus 2013, 442) Verhalten einzusehen und kurz zu bereuen, ändert nichts an ihrem weiterhin selbstbewussten und zielstrebigen Auftreten: „Ihre Angst hatte sich in kalten Zorn verwandelt“ (Neuhaus 2013, 448). Allerdings kann es sich durchaus, wie bereits beschrieben, durch Fürsorglichkeit ‚starker‘ Männer wieder in (dann aber als positiv begriffene) Schwäche verwandeln.



Der Roman beginnt mit einem „Prolog“, in dem ein namenloser Mann in seinem Wohnwagen auf ein Kind wartet, das er wie folgt schildert: „Wie wunderschön sie war, wie zart und zierlich! Ein kleiner, süßer Engel“ (Neuhaus 2013, 6). Der Mann ist allerdings nicht, wie suggeriert wird, ein Mitglied der Kinderschänderbande, sondern Ex-Anwalt Dr. Kilian Rothemund, der auf seine Tochter Chiara wartet, die er eigentlich nicht sehen darf (Neuhaus 2013, 370). Rothemund wollte seinerzeit schon den Kinderschänderring hochgehen lassen und wurde selbst Opfer, auch weil er nicht wusste, dass sein Freund Oberstaatsanwalt Frey schon damals Teil der kriminellen Organisation war (Neuhaus 2017, 410). Hier wird also am Anfang eine

falsche Fährte

 gelegt (der das Ermittlerduo über lange Zeit folgen wird), ebenso mit dem Fund einer Leiche. Jugendliche haben zu viel getrunken und entdecken zufällig ein im Main liegendes totes Mädchen. Es handelt sich dabei nicht um eines der feiernden Mädchen (Neuhaus 2013, 11), sondern um das Missbrauchsopfer Oksana, das von Markus Frey getötet und von einem anderen Adoptivsohn Finkbeiners, Helmut Grasser, in den Fluss geworfen wurde (Neuhaus 2013, 439 u. 457). Auf falsche Fährten lockt der Roman seine Ermittlerfiguren und die Leser*innen immer wieder, auch wenn durch das Aufdecken der Hintergründe der Taten die Verbindungen immer deutlicher und manche der früheren Vermutungen immer unwahrscheinlicher werden.



Dass Pias Freundin Emma bei ihrem Mann Florian, dem Sohn des Patriarchen Josef Finkbeiner, eine leere Kondompackung findet und ihn verdächtigt, die gemeinsame Tochter Louisa missbraucht zu haben, obwohl Florian ‚nur‘ einmal mit einer Prostituierten geschlafen hat und dies bereut, woraufhin Emma ihm gern verzeiht (vgl. Neuhaus 2013, 400), macht die Handlung und ihre Figuren nicht glaubwürdiger. Um es mit einer Meisterin des Detektivromans, Dorothy L. SayersSayers, Dorothy L., zu sagen, die hier wiederum AristotelesAristoteles zitiert: „Viele freilich verknüpfen gut und lösen schlecht auf“ (Sayers 1998, 22).



Die scheinbar verwirrenden Perspektiven und Informationen dienen nicht zuletzt dem Zweck, das Unwahrscheinliche der Handlung durch die

verblüffende Auflösung

 der Zusammenhänge vergessen zu machen. So ist Michaela, die Zwillingsschwester Florians, durch ihren Vater Josef Finkbeiner jahrelang missbraucht worden (wie später auch Louisa). Sie hat sich als Drogensüchtige prostituiert und ist nur durch den Chef einer Rockerbande gerettet worden, der sich in sie verliebt, ihren scheinbaren Tod inszeniert und sich dann mit ihr zur Ruhe gesetzt und zwei Kinder bekommen hat. Der allwissende Erzähler charakterisiert den von Kopf bis Zeh tätowierten Ex-Rockerchef Bernd Prinzler – ein sprechender, aber wohl unironisch gemeinter Name – unter anderem so: „Dieser beinharte Hüne, der nicht Tod und Teufel und schon gar nicht die Polizei fürchtete, machte sich große Sorgen . Er würde es nie zugeben, aber unter Muskelbergen und tätowierter Haut schlug ein weiches Herz“ (Neuhaus 2013, 408). Unfreiwillig ironisch ist es auch, dass ausgerechnet der Ex-Rocker über die Häupter der Kinderschänderbande so urteilt: „,Echte Saubermänner, die Spitzen der Gesellschaft.‘ Er schnaubte verächtlich. ‚Aber in echt sind das alles miese, abartige Schweine, missbrauchen Kinder. Sogar ihre eigenen!�

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