Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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Der Krimi ist ein altes Genre, das hochgradig intertextuell ist, indem es „stets intensiv – implizit und explizit – seine Vorgänger“ zitiert (Hamann 2016, 15), und das jeweils aktuell ist, weil es auf die „medialen und technischen Innovationen“ seiner Zeit reagiert (Hamann 2016, 17), ebenso auf die sozialen Fragen und politischen Probleme.

Die Geschichte des Krimi-Genres beginnt daher mit der Pitaval-Literatur, die fortgeschrieben wird, aber dokumentarischen Charakter hat oder zumindest beansprucht. Hinzu kommt als konstitutives Merkmal eines jeden Genres der Literatur im engeren Sinn die Fiktionalität oder die Fiktionalisierung einer Handlung, in deren Zentrum Verbrechen stehen und Figuren agieren, die (zumindest gilt dies für die Hauptfiguren) individualisiert und psychologisiert werden.

Wie alle Genres verändert sich auch dieses durch die Zeit, nicht zuletzt, wenn um 1900 der Zweifel am Weltbild der Aufklärung immer größer wird. Bereits in der frühesten Phase des Films findet ein Medienwechsel statt und der Krimi gehört sehr schnell auch im neu entstehenden Leitmedium zu den populärsten Genres.

3.2 Vom Buch zum Film

Die geschichtliche Entwicklung des Kriminalfilms (vgl. bereits Neuhaus 2018) ist nicht losgelöst zu betrachten von der des Films allgemein, eingebettet in die jeweiligen sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Kontexte. Der Film entsteht technisch aus der Fotografie und anderen optischen Medien (etwa der Laterna magica), er wird beeinflusst von der Literatur, dem Theater und den anderen Künsten. 1895 führten die Brüder LumièreBrüder Lumière mit ihrem ‚Cinématographe‘ in Paris oder auch die Brüder SkladanowskyBrüder Skladanowsky in Berlin kurze Filme vor. Bis 1912 entwickelte sich das junge Medium des Kinofilms zu einem eigenen Wirtschaftszweig, die Jahre 1913-27 gelten als Stummfilmzeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Fernsehen als Ergänzung und Konkurrenz hinzu (Monaco 2005, 232). Die ersten Vorführungen hatten eher dokumentarischen Charakter, im Laufe der Zeit stieg der Anteil an fiktionalen Filmen aber stetig an und dominierte schließlich das Kino (Paech 1997, 25).

Der Spielfilm spannt einen großen Bogen und wird daher mit dem Roman verglichen, viele Spielfilme sind außerdem Verfilmungen literarischer Texte. Dazu kommen zahlreiche weitere Berührungspunkte (Erzähltechniken, Symbole…), so dass sich die „Literaturgeschichte als Vorgeschichte des Films“ verstehen lässt (Paech 1997, 45). Zugleich gibt es signifikante Unterschiede. Filme sind einerseits komplex, indem sie verschiedene Codes kombinieren (Bild, Ton, Musik, gesprochene Sprache, Kameraperspektive, Schnitt, Mimik, Gestik…) und hohe personelle wie finanzielle Anforderungen stellen; andererseits ist das Sehen etwas frühkindlich und unbewusst Gelerntes und nicht vergleichbar mit der später erst mit einem gewissen Aufwand zu erlernenden Kulturtechnik des Lesens. Die „Lust am Schauen“ (Mulvey 2001, 391) wirft weitere Fragen auf, etwa nach der Verfestigung von Stereotypen durch Visualisierung wie bei den Vorstellungen von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘. Gelungene künstlerische Filme bedienen aber nicht Klischees oder Stereotype, sondern zeichnen sich durch eine komplexe, ästhetische und innovative (Bild-)Sprache aus (Neuhaus 2008a).

Der Kriminalfilm stellt, wenn es um Merkmale des Genres geht, die Forschung vor die gleichen Fragen wie die Kriminalliteratur, die überwiegend aus Kriminalromanen besteht. Vergleichbar zum Kriminalroman in der Literatur gehört auch der fiktionale Kriminalspielfilm, historisch und gegenwärtig, zu den populärsten Filmgenres, er gilt manchen als das quantitativ bedeutsamste (Hickethier 2005, 11). Durch die neuen Serien-Formate dürfte sich dies relativiert haben. Dabei wird der weitaus größte Teil der Krimi-Produktionen in Literatur und Film zur Unterhaltungsware gezählt (Seeßlen 1998, 32). Der Grund ist, dass das in der Regel wichtigste Kriterium die Erzeugung von Handlungsspannung ist; ein Kriterium, das neben dem Fokus auf Unterhaltung im Kontext literarischer Wertung als wichtiges Verdachtsmoment für Trivialität gilt, ebenso wie das durch den Gegensatz von Täter und Opfer provozierte Gut-Böse-Schema. Dass Kriminalfilme als Unterhaltungsfilme rubriziert werden, wiegt historisch betrachtet deshalb so schwer, weil spätestens seit dem Nationalsozialismus deutlich geworden ist, dass der „herrschende Massenbedürfnisse“ (Kracauer 1984, 11) befriedigende, auf Unterhaltung zielende Kinofilm an der Stabilisierung der (autoritären) gesellschaftlichen Ordnung mitwirkt, indem er auf scheinbar ‚natürliche‘ Muster zurückgreift (z.B. der als hässlich und auch sonst als ‚anders‘ markierte Täter) und so einen den etablierten Diskurs verstärkenden Charakter hat. Doch auch Gegendiskurse können sich verfestigen und zu Klischees erstarren (z.B. der korrupte Polizist oder der unschuldig Verfolgte).

Wie in der Kriminalliteratur geht es im Kriminalfilm um die Missachtung gesellschaftlicher Normen und die daraus resultierenden Konsequenzen, üblicherweise nach dem Schema Normverletzung und Wiederherstellung der Ordnung (Hickethier 2005, 11). Allerdings sind es gerade die kanonisierten Texte und Filme der Gattung und des Genres, die keine „Bedrohung durch das schlechthin Fremde“ (Linder / Ort 1999, 4) inszenieren, sondern eine Lösung vermissen lassen, so dass die Normverletzung, der sie auslösende Konflikt oder die Problematik der Norm selbst fortdauern. Es gehört zu den Besonderheiten bereits kanonisierter oder neuerer und avancierter Kriminalfilme, komplexer strukturiert zu sein und gegen gängige Muster zu verstoßen, durch formale Experimente und durch das Unterlaufen klarer Schuldzuweisungen. Der Mechanismus von Spannung und Entspannung, der Befriedigung der „Faszination des Schrecklichen“ und der ‚bösen Lust‘ (Anz 1998, 115 u. 125) wird gebrochen, etwa durch Ironie, Parodie bzw. die Verwendung selbstreflexiver, auch metafiktionaler Elemente.

Dennoch bleibt als Grundlage die Erzeugung von Nervenkitzel (engl. ‚thrill‘), mit Michael BalintBalint, Michael verstanden als „Angstlust“, als „eine Art ‚Katastrophentraining‘“ und als „lustvolles Spiel mit dem Tod“. Angst wird in mehrfacher Weise produktiv. Sie ermöglicht es, sich den Figuren, die leiden und sterben müssen, überlegen zu fühlen. Es können über die Identifikation mit dem Täter Aggressionen abgebaut und gleichzeitig durch die Bestrafung des Täters und den Erfolg des Detektivs internalisierte, als positiv begriffene Werte und Normen bestätigt werden. „Die Lust an der Angst ist eine Lust an der eigenen Fähigkeit, sie abzuwehren und zu bewältigen“ (Anz 1998, 129-133).

Beim Kriminalfilm gelten analoge Unterscheidungen zur Kriminalliteratur, so finden sich etwa die Kategorien Detektivfilm, Polizeifilm, Gangsterfilm (mit der Variante „Serienkillerfilm“), Gerichtsfilm, Gefängnisfilm, Thriller (mit der Sonderform „Politthriller“), Spionagefilm und film noir, wobei sich in allen Subgenres auch Komödien finden (Hickethier 2005, 17-26). Es kann beispielsweise entweder der Detektiv und die Detektion im Mittelpunkt stehen oder aus der „Perspektive des Opfers der Intrige“ (Koebner / Wulff 2013, 10) die Handlung geschildert werden. Die meisten fiktionalen Texte und Filme mischen die genannten Muster, idealtypische Beispiele für die genannten Subgenres finden sich – wie in der Literatur – eher selten.

Zu den besonders häufig genutzten Möglichkeiten von Kriminalfilmen gehört, aus der Perspektive einer ‚poetischen Gerechtigkeit‘ auf soziale Ungleichheiten aufmerksam zu machen und über die Figurencharakterisierung auch Empathie für auf die aus solchen Ungleichheiten resultierenden oder auf deren Beseitigung zielenden Verhaltensweisen zu wecken (Nussbaum 1995, 87 u. 115). Dabei stehen oft verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit in einem produktiven Spannungsverhältnis. Auf diese Weise werden, wie in der philosophischen und philologischen Theoriebildung, juristische oder moralische Normen als Basis des (Ver-)Urteilens und Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als Zuschreibungen kenntlich (Eagleton 2012, 164).

Angesichts der Komplexität der heutigen Gesellschaft, die eigentlich nur noch über die audiovisuellen Massenmedien und die sogenannten Neuen Medien in einer spezifischen Medienrealität vermittelbar ist (Luhmann 2004), werden etablierte Kategorien doppelt (und im Wortsinn) fragwürdig. Das Kommunizieren ‚guter‘ Überzeugungen bedingt nicht unbedingt ‚gutes‘ Handeln und ‚gutes‘ Handeln kann ‚böse‘ Folgen haben.

Das Krimi-Genre hat alle Medien erobert und die meisten bereits, sobald sie entstanden. Ein Beispiel für die beispiellose Erfolgsgeschichte ist ‚der berühmteste Comic-Detektiv aller Zeiten‘, Dick Tracy, der 1931 in einer Sonntagsbeilage des Detroit Mirror das Licht der Welt erblickte (Seeßlen 2011, 91). Zu den Comic-Ermittlern zählt auch die Hauptfigur in Les aventures de TintinLes aventures de Tintin, auf Deutsch: Tim und Struppi, die weltberühmte Serie von Comics des belgischen Zeichners HergéHergé, in einigen ihrer Abenteuer. Im deutschsprachigen Raum sehr erfolgreich wurde Manfred SchmidtSchmidt, Manfreds Figur Nick Knatterton, die in parodistischer Weise an Sherlock Holmes angelehnt war. Der Name spielt auf die zuvor erfolgreich in Heftromanen ermittelnden Detektivfiguren Nick Carter und Nat Pinkerton an. Zwischen 1950 und 1959 erschien Nick Knatterton als Comicserie in der Illustrierten Quick. 1959 und 1979 kam es zu Medienwechseln zuerst in den ‚Realfilm‘ und dann in den Trickfilm. Im Bereich von Kinderliteratur und Hörspiel besonders bekannt ist nach wie vor die von Robert ArthurArthur, Robert und anderen geschaffene Serie The Three InvestigatorsThe Three Investigators (Die drei ???). Von 1968 bis heute soll die Zahl der verkauften Tonträger allein in Deutschland über 45 Millionen betragen, dazu kommen über 16,5 Millionen verkaufte Bücher.

 

Die Geschichte des Kriminalfilms ist so alt wie die Geschichte des Films. Bereits frühe Filme thematisieren Verbrechen, etwa The Great Train RobberyThe Great Train Robbery, ein zwölfminütiger US-amerikanischer Film von 1903, er gilt auch als der erste Western und erste Actionfilm der Filmgeschichte. Sogar noch etwas älter ist ein einminütiger Film, der bereits im Titel unschwer als Detektivfilm zu erkennen ist: Sherlock Holmes BaffledSherlock Holmes Baffled von Arthur MarvinMarvin, Arthur (1900). Holmes ist eine der ersten Starfiguren der Filmgeschichte. In Deutschland entstehen 1910 „zwei Filme, in denen Sherlock Holmes Arsène Lupin, den zweiten der großen Gentleman-Ganoven der populären Literatur (erfunden von dem französischen Autor Maurice Leblanc), zum Gegner hatte“ (Seeßlen 1998, 56). Eine Holmes ähnliche Figur zieht wenig später mit dem Meisterdetektiv Stuart Webbs in den deutschen Kriminalfilm ein (Kracauer 1984, 25). Die geheimnisvolle Villa ist der erste Film der Produzenten Joe MayMay, Joe und Ernst ReicherReicher, Ernst aus einer Serie von 1913 bis 1929; bei den frühen Produktionen führte Joe May auch Regie. Wie Sir Arthur Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Sherlock Holmes, der in verschiedenen Ländern zur Filmfigur wurde, ist Webbs ein Bote des Glaubens an den Sieg der Logik und des Guten: „Der Detektiv, der auf eigene Faust und kraft seines Verstands das Spinngewebe irrationaler Mächte zerreißt und Anständigkeit über dunkle Triebe siegen läßt, ist der prädestinierte Held einer zivilisierten Welt, die an das Glück von Aufklärung und individueller Freiheit glaubt“ (Kracauer 1984, 26).

Nach dem Ersten Weltkrieg ist das Vertrauen in aufklärerische Positionen nachhaltig erschüttert. Es entstehen Filme wie Das Cabinet des Dr. CaligariDas Cabinet des Dr. Caligari (1920, Regie führte Robert WieneWiene, Robert). Die auf realen Ereignissen beruhende Mordhandlung wird durch einen unzuverlässigen Erzähler gerahmt, so dass „die Phänomene auf der Leinwand als Phänomene der Seele“ (Kracauer 1984, 77) erscheinen. Die Rahmung, das Irrationale und zugleich auf faszinierende Weise Autoritäre Caligaris, die mit Mitteln des Expressionismus erfolgte Inszenierung seines zwar lokalen, aber terroristischen und ‚wahnsinnigen‘ Regimes lassen die titelgebende Figur zu einer „Vorahnung Hitlers“ werden (Kracauer 1984, 79). Ein nicht weniger berühmtes Beispiel ist die Figur des Dr. Mabuse (Kracauer 1984, 89), wie sie Fritz LangLang, Fritz als Regisseur und seine Frau Thea von HarbouHarbou, Thea von als Drehbuchautorin in Szene setzen, in den Filmen Dr. Mabuse, der SpielerDr. Mabuse, der Spieler (1922) und Das Testament des Dr. MabuseDas Testament des Dr. Mabuse (1933). Der größenwahnsinnige Verbrecher, sein Stellvertreter und ihre kriminelle Organisation sind im zweiten Film als deutliche Anspielungen auf die NS-Bewegung und ihre Führer konzipiert.

Fritz Lang und Thea von Harbou haben die Filmgeschichte geprägt, auch mit dem Science-Fiction-Klassiker MetropolisMetropolis (1927) und mit SpioneSpione (1928), dem genrebildenden frühen Beispiel des Spionagefilms. Ein Bankdirektor hat eine kriminelle Organisation geschaffen, die mit Staatsgeheimnissen handelt. Der Agent „No. 326“ (Willy FritschFritsch, Willy) und die zunächst auf ihn angesetzte Sonja Barranikowa legen Direktor Haghi (Rudolf Klein-RoggeKlein-Rogge, Rudolf), der zudem als Informant des Geheimdienstes gezielt falsche Informationen gestreut hat, schließlich das Handwerk. Der Film etabliert viele Motive, die später beispielsweise in Alfred HitchcockHitchcock, Alfreds Spionage-Thriller Die 39 StufenDie 39 Stufen (1935) oder in den James-BondJames Bond-Verfilmungen Verwendung finden.

Im Nationalsozialismus wurden Literatur und Massenmedien gleichgeschaltet und es gab klare Zuschreibungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘, die ideologisch-rassistisch motiviert waren. Die meisten klugen, innovativen Filmemacher und Schauspieler kehrten dem Dritten Reich den Rücken, viele gingen, wie Fritz LangLang, Fritz, nach Hollywood. Nach dem Krieg setzte eine Aufarbeitung der historischen Entwicklung ein, die auch den Kriminalfilm betraf. 1959 drehte Wolfgang StaudteStaudte, Wolfgang Rosen für den StaatsanwaltRosen für den Staatsanwalt, eine Abrechnung mit der Nachkriegsgesellschaft, die von allem nichts gewusst haben wollte, am Beispiel eines Richters, der in der NS-Justiz eine hohe Position bekleidet hatte und nach 1945 weiter seiner Tätigkeit nachgehen darf. Eine Kriminalhandlung motiviert die Erzählung: Kurz vor Kriegsende wird der Gefreite Rudi Kleinschmidt (ein sprechender Name; Walter GillerGiller, Walter spielt die Rolle) vom Kriegsgerichtsrat Dr. Wilhelm Schramm (Martin HeldHeld, Martin) wegen des angeblichen Diebstahls von Schokolade zum Tode verurteilt; nur ein Zufall rettet sein Leben. Nach dem Krieg treffen sich die beiden wieder. Schramm hat seine Mittäterschaft verschwiegen und ist Oberstaatsanwalt geworden, an seinen autoritären und rassistischen Ansichten hat sich nichts geändert. Der von der Hand in den Mund lebende Kleinschmidt stiehlt schließlich noch einmal Schokolade, er wird vor denselben Richter geführt und der beantragt, weil er sich an die frühere Verhandlung erinnert, versehentlich wieder die Todesstrafe. Der entlarvte Richter begibt sich auf die Flucht, Kleinschmidt beginnt vermutlich ein neues Leben mit seiner Freundin. Trotz des harmonisierenden Happy Ends stellt der Film, am Beispiel der paradigmatischen Autoritäts-Figur eines Richters, die tabuisierte Frage nach der Mitschuld der scheinbar so respektablen und integrierten Nachkriegs-Deutschen am Nationalsozialismus.

Auch Produktionen der Nachkriegszeit verarbeiten allgemeine Probleme von Kriminalität, um auf den zeitgenössischen Diskurs zu wirken. Kein Geringerer als Friedrich DürrenmattDürrenmatt, Friedrich entwickelte den Stoff für Es geschah am hellichten TagEs geschah am hellichten Tag (1958, Regie Ladislao VajdaVajda, Ladislao), ein aufklärender Auftragsfilm, der Kindesmissbrauch und Kindstötung auf die Agenda der Nachkriegsgesellschaft setzte. Im internationalen Spielfilm wird die Tradition fortgesetzt und radikalisiert, die psychischen Abgründe von Figuren zu visualisieren. Der gebürtige Engländer Alfred HitchcockHitchcock, Alfred, stark beeinflusst vom deutschen Vorkriegsfilm und der Psychoanalyse, experimentiert erfolgreich mit der Inszenierung menschlicher Abgründe, besonders eindrucksvoll in PsychoPsycho (1960): Der junge Motel-Betreiber Norman Bates erleidet, nachdem er seine Mutter umgebracht hat, auf die er ödipal fixiert war, eine Persönlichkeitsspaltung und tötet fortan, als seine Mutter verkleidet, junge Frauen, die auf der Durchreise sind. Im selben Jahr kommt Peeping TomPeeping Tom von Michael PowellPowell, Michael in die Kinos und wird zum Skandal. Der deutsch-österreichische Star Karlheinz BöhmBöhm, Karlheinz (berühmt wegen seiner Rolle als österreichischer Kaiser in den Filmen Sissi von 1955, Sissi – Die junge Kaiserin von 1956 und Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin von 1957, Regie führte stets Ernst MarischkaMarischka, Ernst) spielt den ebenso schüchtern wie sympathisch auftretenden Mark, der junge Frauen mit dem angespitzten Stativ seiner Kamera tötet und dabei filmt. Die Perspektiven beider Kameras verschmelzen, die Zuschauer*innen sehen durch das ‚Auge‘ von Marks Handkamera und werden wenn nicht selbst zu Täter*innen, auf jeden Fall aber zu Voyeur*innen (hierfür ist ‚peeping Tom‘ der englischsprachige Ausdruck). Mark wiederholt und variiert ein Trauma, als Kind ist er von seinem Vater gequält und dabei gefilmt worden. Zu solchen psychologischen Ein-Sichten war das damalige Kinopublikum aber noch nicht bereit. Die Karriere Karlheinz Böhms wie der anderen am Film Beteiligten litt unter dem Skandal, der Film wurde erst sehr viel später von der Filmkritik und der Forschung zum Meisterwerk erklärt.

Bereits in den 1930er Jahren entstanden Serien, die nicht nur ungeheuer populär wurden, sondern auch sehr einflussreich waren, wenn es um die Weiterentwicklung des Genres geht. Zu den Vorläufern von James BondJames Bond gehören Charlie Chan und Mr. Moto. Charlie Chan basiert auf einer Romanserie von Earl Derr BiggersBiggers, Earl Derr, allerdings gingen – wie später bei James Bond – den Produzenten bald die Romane aus. 1926 entstand ein erster Film „als Serial in zehn Kapiteln“ (Seeßlen 2011, 77), von 1931-42 spielten in 27 Filmen zunächst Warner OlandOland, Warner und ab 1938 Sidney TolerToler, Sidney die Hauptrolle des chinesischen Detektivs, der auf Hawaii lebt. Weitere Darsteller folgten im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, unter ihnen 1980 in Charlie Chan and the Curse of the Dragon QueenCharlie Chan and the Curse of the Dragon Queen auch Peter UstinovUstinov, Peter. Chan ist Familienvater und einzelne seiner Söhne ermitteln immer wieder mit ihm zusammen. Die Filme changieren von Verbrechen zu Spionage, im Laufe der Jahre erstrecken sich die Schauplätze über die ganze Welt und der Humor spielt eine immer wichtigere Rolle. „Charlie Chans Gegner hatten indes die Tendenz, immer allmächtiger, grotesker und geheimnisvoller zu werden“ (Seeßlen 2011, 84) – noch eine Parallele zu den späteren Bond-Filmen. In Gastrollen waren prominente Schauspieler*innen wie Rita HayworthHayworth, Rita oder Boris KarloffKarloff, Boris zu sehen (Seeßlen 2011, 81). Auch die Figur Mr. Moto stammt aus Romanen, ihr Autor hieß John Phillips MarquandMarquand, John Phillips. Bekannter ist der Hauptdarsteller: „Peter LorreLorre, Peter spielte nicht Mr. Moto, er lieh ihm seine Persönlichkeit“ (Seeßlen 2011, 86). Von 1937-39 kamen acht Filme in die Kinos.

Insbesondere die US-amerikanische Filmindustrie produzierte nach dem Zweiten Weltkrieg eine solche – und immer größer werdende – Vielzahl von Detektivserien, dass es aussichtslos wäre, auch nur die wichtigsten hier aufzulisten. Einige besonders bekannte und beliebte Serien sollen kurz (teils noch einmal) Erwähnung finden, und zwar als Beispiele für die sehr unterschiedlichen Typen von Ermittlern. In The Streets of San FranciscoThe Streets of San Francisco sind es von 1972-77 zwei Polizisten, neben Karl Malden debütierte der zum Star avancierende Michael DouglasDouglas, Michael (Sohn von Starschauspieler Kirk DouglasDouglas, Kirk). Die Lebens-Rolle von Peter FalkFalk, Peter war von 1968-2003 ColumboColumbo, ein schrulliger, zerstreut und ungepflegt wirkender Inspektor mit Trenchcoat. In The Rockford FilesThe Rockford Files stellte von 1974-80 James GarnerGarner, James einen Privatdetektiv dar, der in einem Campinganhänger lebt und sich durch die vielen kleinen Misserfolge nicht von seinem Weg und seiner prinzipiellen guten Laune abbringen lässt. Komik und Humor spielten auch eine wichtige Rolle in Magnum, p.iMagnum, p.i. von 1980-88 mit Tom SelleckSelleck, Tom, den Steven SpielbergSpielberg, Steven gern für seinen (ersten) Indiana Jones-Film Raiders of the Lost ArkRaiders of the Lost Ark von 1981 verpflichtet hätte. Weil Selleck seinen Vertrag erfüllen und weiter Magnum spielen musste, bekam Harrison FordFord, Harrison die Rolle des Spielfilm-Helden – eines Archäologieprofessors, der in der Nazizeit einzigartige verschollene Kunstgegenstände sucht und dabei Verbrechen aufklärt. Auch Gerichtsmediziner sind immer wieder als Ermittlerfiguren in Serien zu sehen, beispielsweise Jack KlugmanKlugman, Jack in Quincy, M. E.Quincy, M. E. von 1976-83.

Auch im deutschsprachigen Raum gab und gibt es zahlreiche Detektiv- und Krimiserien unterschiedlichster Formate. Hier nur eine kleine Blütenlese: StahlnetzStahlnetz hieß eine von 1958-68 ausgestrahlte Reihe im NDR mit 22 Folgen mit Motiven aus wahren Begebenheiten. 1969-76 lief in 97 Folgen Der KommissarDer Kommissar mit Erik OdeOde, Erik in der Titelrolle, geschrieben von dem ungekrönten Krimidrehbuch-Serienkönig Herbert ReineckerReinecker, Herbert. Er schrieb außerdem alle Drehbücher für die international sehr erfolgreiche Serie DerrickDerrick mit Horst TappertTappert, Horst in der Titelrolle, gesendet von 1974-98 in 281 Episoden. Die TatortTatort-Reihe startete 1970 und läuft bis heute, mit je nach Sendeanstalt der ARD, des ORF und des SF unterschiedlichen Ermittlerteams.

In Zeiten von Netflix und Amazon prime hat sich die Zahl der Serienproduktionen vervielfacht. Auch künstlerisch ist versucht worden, neue Maßstäbe zu setzen, etwa mit True DetectiveTrue Detective oder mit FargoFargo, die ersten Staffeln beider Serien erschienen 2014. Schon im Titel zitiert Fargo von Noah HawleyHawley, Noah den gleichnamigen Film der Starregisseure Ethan und Joel CoenCoen, Ethan und Joel von 1996. Die berühmten Coen-Brüder sind die Produzenten der Serie. In beiden Serien, die in jeder Staffel jeweils eine neue Geschichte erzählen, handelt es sich bei den Ermittlern um Polizisten.

 

Dazu kommen sehr erfolgreiche Mini-Serien, etwa die Verfilmungen der Kriminalromane mit der vom schwedischen Schriftsteller Henning MankellMankell, Henning erschaffenen Figur Kurt Wallander. Wallander ermittelt als Kriminalkommissar im schwedischen Ystad, die Romanserie wurde 1994-2007 vom schwedischen Fernsehen und von 2008-15 von der BBC verfilmt, für die zwölf Folgen der britischen Produktion zeichnete Kenneth BranaghBranagh, Kenneth verantwortlich, der auch die Hauptrolle spielte. Der von seiner Frau verlassene Wallander ist der Typus des einsamen Wolfs, des trotz persönlicher und gesundheitlicher Probleme aufrechten Kämpfers gegen das Verbrechen in einer unüberschaubar gewordenen Welt. Halt gibt dem auf seine Arbeit fixierten Kommissar die Beziehung zu seiner Tochter, allerdings nur in begrenztem Umfang, da diese immer wieder auch Partei für die Mutter ergreift.

Die deutschsprachigen Produktionen sind vor allem Kriminalfilme, die sich an das traditionelle Muster des Whodunit halten. Ein legendäres Beispiel ist die Verfilmung des Francis-DurbridgeDurbridge, Francis-Krimis Das HalstuchDas Halstuch in sechs Teilen, vom WDR produziert und 1962 in der ARD gezeigt. Hans QuestQuest, Hans führte Regie, Heinz DracheDrache, Heinz spielte den Ermittler, Dieter BorscheBorsche, Dieter den Mörder. Auch Horst TappertTappert, Horst, der bereits erwähnte Derrick-Darsteller, ist dabei. Die Verfilmung setzt erfolgreich auf größtmögliche Handlungsspannung, so dass die Miniserie als legendärer ‚Straßenfeger‘ mit einer der höchsten Einschaltquoten aller Zeiten gilt. Die Grenzen zwischen Kinofilm und TV-Krimi sind nicht immer leicht zu ziehen: Die TV-Produktionen entwickeln sich aus der Spielfilm-Tradition, die Kinofilme werden nach einiger Zeit auch im TV (wiederholt) gesendet und zu manchen TV-Produktionen gibt es Kinofilme. Ein Beispiel sind die im Kino gesendeten Filme Zahn um ZahnZahn um Zahn (1985) und ZabouZabou (1987) mit dem Tatort-Kommissar Horst Schimanski (gespielt von Götz GeorgeGeorge, Götz; Regie führte Hajo GiesGies, Hajo).

Aus der unüberschaubaren Zahl von Kriminalfilmen für Kino oder Fernsehen Beispiele auszuwählen ist ebenso müßig wie notwendig, will man Genretraditionen aufzeigen und das Spektrum ausloten. Zu den herausragenden, das Genre erweiternden Produktionen gehört Blow upBlow up von Michelangelo AntonioniAntonioni, Michelangelo aus dem Jahr 1966, mit Vanessa Redgrave und anderen Stars der Zeit. Der Fotograf Thomas (David HemmingsHemmings, David) glaubt auf Aufnahmen einen Mord zu entdecken, tatsächlich findet er eine Leiche im Park. Allerdings wird bei ihm eingebrochen, die Aufnahmen und Negative werden gestohlen und auch die Leiche ist nicht mehr zu finden. Am Ende bleibt das Rätsel bestehen, ob er wirklich einen Mord fotografiert hat. Der metafiktionale und symbolische Charakter des Films wäre eine eigene Untersuchung wert. Lediglich erwähnt werden kann ein anderer offen konzipierter, mit Thriller-Elementen spielender Kult-Film: Mulholland DriveMulholland Drive von David LynchLynch, David aus dem Jahr 2001. Solche Filme nutzen die Genre-Traditionen und verfremden sie in einer für das eigene, künstlerische Konzept passenden Weise.

Ins britische wie ins US-amerikanische Kino kommen auch Kriminalfilme, die zugleich Krimiparodien sind. Bedeutende frühe Beispiele sind Arsenic and Old LaceArsenic and Old Lace (Arsen und Spitzenhäubchen) von 1941, der aber erst 1944 gezeigt wurde (Regie: Frank CapraCapra, Frank, u.a. mit Cary GrantGrant, Cary und Peter LorreLorre, Peter), oder LadykillersLadykillers aus dem Jahr 1955 (mit Alec GuinnessGuinness, Alec unter der Regie von Alexander MackendrickMackendrick, Alexander). Auch das deutschsprachige Kino setzt, wenn es um Krimihandlungen geht, oft und immer mehr auf Humor. An der Grenze von Krimi und Komödie sind die Filme Helmuth AshleyAshley, Helmuths angesiedelt, die nach Motiven der Geschichten Gilbert Keith ChestertonChesterton, Gilbert Keiths den als Detektiv auftretenden Pater Brown in den Mittelpunkt rücken. Die Spielfilme Das schwarze SchafDas schwarze Schaf (1960) und Er kanns nicht lassenEr kann’s nicht lassen (1962) mit Heinz RühmannRühmann, Heinz gehören zu den Dauerbrennern im deutschen Fernsehen. Radikaler verfahren die 32 Edgar-WallaceWallace, Edgar-Verfilmungen der Rialto-Film aus den Jahren 1959-72, die Horst WendlandtWendlandt, Horst produzierte; bei 14 Filmen führte Alfred VohrerVohrer, Alfred Regie. In 13 Filmen spielte Joachim FuchsbergerFuchsberger, Joachim den Ermittler, viele bekannte Schauspieler*innen der Zeit sind in unterschiedlichsten Rollen vertreten. In 16 Filmen spielte Klaus KinskiKinski, Klaus einen Bösewicht. Die Wallace-Verfilmungen sind (anders als die Romanvorlagen) zugleich Kriminalfilme und Kriminalkomödien. Der eigene Stil entsteht durch selbst-parodistische Elemente, die durchaus fiktionsdurchbrechend sein können, etwa wenn Figuren das Geschehen kommentieren oder sich sogar an das Publikum wenden.

Wie mit Zuschauererwartungen gespielt wird, lässt sich beispielsweise an Das indische TuchDas indische Tuch (1963, Regie Alfred VohrerVohrer, Alfred) kurz zeigen. Der Film basiert auf dem bekannten Muster des ‚locked room mystery‘. Mit Heinz DracheDrache, Heinz als Anwalt und Ermittler, Elisabeth FlickenschildtFlickenschildt, Elisabeth und vielen anderen bekannten Schauspieler*innen der Zeit ist er exzellent besetzt. Anders als gedacht entpuppt sich nicht der drogenabhängige Peter Ross (Klaus KinskiKinski, Klaus) als der gesuchte Serienmörder, der auf einem von der Außenwelt abgeschnittenen Schloss nach und nach eine ganze Adelsfamilie auslöscht, sondern der sympathische junge Lord Edward (Hans ClarinClarin, Hans). Zum Schluss wird testamentarisch verfügt, dass das Erbe der Familie an Edgar WallaceWallace, Edgar fällt, und die leeren Stühle um den Familientisch verbeugen sich.

Die Edgar-Wallace-Verfilmungen wirkten selbst genrebildend, als Parodien der bereits (selbst-)parodistischen Filme waren Der WixxerDer Wixxer (2005, Regie Tobi BaumannBaumann, Tobi) und Neues vom WixxerNeues vom Wixxer (2007, Regie Cyrill BossBoss, Cyrill und Philipp StennertStennert, Philipp) an den Kinokassen erfolgreich. Oliver KalkofeKalkofe, Oliver, Bastian PastewkaPastewka, Bastian und Oliver WelkeWelke, Oliver schrieben die Drehbücher, Kalkofe und Pastewka spielten Hauptrollen, auch der aus den früheren Wallace-Filmen bekannte Joachim FuchsbergerFuchsberger, Joachim war im zweiten Film vertreten. Der Titel spielt parodistisch auf Der HexerDer Hexer an, in der Alfred-VohrerVohrer, Alfred-Verfilmung von 1964 war Fuchsberger der Ermittler.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Grenze von Kriminalfilm und Kriminalkomödie fließend, etwa in Die Herren mit der weißen WesteDie Herren mit der weißen Weste (1970, Regie führte Wolfgang StaudteStaudte, Wolfgang) mit Martin HeldHeld, Martin als pensioniertem Richter, der es nach langer Zeit und mit illegalen Mitteln vermag, den Anführer einer Bande von Kriminellen, gespielt von Mario Adorf, hinter Gitter zu bringen. Das Drehbuch von Horst WendlandtWendlandt, Horst und Paul HenggeHengge, Paul erinnert an den Roman Der Richter und sein HenkerDer Richter und sein Henker (1952, wenige Jahre später vom Süddeutschen Rundfunk für das Fernsehen adaptiert). Bereits DürrenmattDürrenmatt, Friedrich zeigt, dass dem Übeltäter mit rechtmäßigen Mitteln nicht beizukommen ist. Auch wenn es bei Staudte nicht um Mord, sondern um Diebstahl geht und es eine Popularisierung und Wendung ins Humoristische gibt, wird deutlich, dass sich auch die Grenzen zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ nicht mehr so eindeutig ziehen lassen wie vorher.