Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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2.6 Zuschreibungen von Gut und Böse

Bei der Frage danach, was aus welchen Gründen als ‚gut‘ oder ‚böse‘ einzustufen ist, handelt es sich um einen komplexen Diskurs, der hier nicht genauer nachgezeichnet werden kann (Schäfer 2014). Einige Hinweise müssen genügen. Was zugrunde gelegt werden soll, lässt sich vorab in fünf Punkten zusammenfassen:

Das ‚Böse‘ oder das ‚Gute‘ gibt es nicht, beides sind zeit- und kulturabhängige Diskursprodukte.

2 Es gibt dennoch jeweils einen zeit- und kulturabhängigen Konsens darüber, was als ‚das Böse‘ oder ‚das Gute‘ einzustufen ist.

3 ‚Gut‘ und ‚Böse‘ bedingt sich wechselseitig. Dies ist bereits im Christentum Grundlage des Glaubens und wird beispielsweise im Gedanken der Theodizee (etwa bei Gottfried Wilhelm Leibniz) näher ausgeführt. Dass es ein ‚Gutes‘ gibt, setzt die Existenz des ‚Bösen‘ voraus.

4 Seit der Aufklärung setzt sich die Auffassung durch, dass sich der Mensch (mehr oder weniger) frei für ‚das Gute‘ oder ‚das Böse‘ entscheiden kann. Immanuel Kants kategorischer Imperativ fußt auf dieser Annahme. Wenn man so handelt, dass das eigene Handeln zur Maxime des Handelns aller werden könnte, dann lebt man in der besten aller Welten – vorausgesetzt, der Mensch hat und folgt (s)einem Willen zum ‚Guten‘.

5 Der Minimalkonsens aufgeklärter Gesellschaften ist in den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) zusammengefasst, einer rechtlich nicht bindenden Resolution der Vereinten Nationen, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verkündet wurde.

Die Resolution stammt nicht zufällig von 1948. Nach dem 2. Weltkrieg bekommt ‚das Böse‘ eine andere Qualität und es hat ein Gesicht – Adolf HitlerHitler, Adolf und den Nationalsozialismus. Der Holocaust gilt zurecht als ‚das Böse‘, handelt es sich doch um einen millionenfachen, industriell organisierten Massenmord und um das bisher schlimmste Verbrechen der Menschheit.

Der Diskurs über Auschwitz als die Tat ‚des Bösen‘ hat sich indes weiter verselbständigt, etwa in der Auseinandersetzung über Hannah Arendts Begriff der „Banalität des Bösen“ (Arendt 2015). Bisher ist der Diskurs stark polarisierend. Der des Antisemitismus beschuldigte Martin WalserWalser, Martin (Lorenz 2005) beispielsweise hat immer wieder, wie etwa Dieter BorchmeyerBorchmeyer, Dieter am Beispiel von Walsers Essays Unser AuschwitzUnser Auschwitz von 1965 und Auschwitz und kein EndeAuschwitz und kein Ende von 1979 gezeigt hat, auf einer durch den Holocaust in die Welt gekommenen und niemals endenden Schuld bestanden:

Der provozierende Titel Unser Auschwitz ist eine Parallelbildung zu Thomas Manns Bruder Hitler und insistiert darauf, daß jeder von uns an Auschwitz seinen Anteil hat. [ ] Und die Rede Auschwitz und kein Ende beginnt mit dem denkwürdigen Satz: „Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen.“ Auch hier zählt Walser sich und „uns“ der „Volksgemeinschaft der Täter“ zu, wehrt er sich gegen den Wahn, „uns durch Strafverfolgung [ ] entlasten zu können“, den Versuch, die „Schuld“ an Auschwitz „auf eine Handvoll Schergen“ zu delegieren. [ ] Nicht zu vergessen ist die Tatsache, daß Walser es war, der 1989 in der Sächsischen Landesbibliothek von Dresden auf die Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer stieß und deren Publikation nachdrücklich beförderte. (Borchmeyer 2003, 46f.)

Auch in der berüchtigten Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 hat Martin WalserWalser, Martin unmissverständlich festgehalten: „Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen“ (Walser 1999, 11). Und weiter: „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum […]“ (Walser 1999, 11f.). Walser hat sich nicht gegen das Gedenken an den Holocaust wenden wollen, ganz im Gegenteil: Er hat sich für ein lebendiges und frisches Gedenken eingesetzt, das er allerdings von einem ritualisierten und dadurch ein Stück weit entlastenden Gedenken absetzt. In diesem Zusammenhang fällt auch der polemisch gebrauchte Begriff der „Moralkeule“: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch solche Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität Lippengebet“ (Walser 1999, 13). Die Rezeption der als tendenziell antisemitisch (miss-)verstandenen Rede ist komplex (Neuhaus 2004) und zeigt, dass Walser vor allem durch die Drastik seiner Worte ein Tabu gebrochen hat. An diesem Beispiel ist gut zu erkennen, dass nicht nur die Frage, was als ‚gut‘ und ‚böse‘ gilt, diskursabhängig ist, sondern auch die Wortwahl, in der darüber gesprochen wird.

Wenn man sich die Zeit vor 1933 vorzustellen versucht und den Holocaust nicht als notwendige, sondern als mögliche Folge der Entwicklungen bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten sieht, dann muss zunächst die Fluidität des Bösen in den Blick genommen werden. Dass die Grenzen zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ fließend sind, hat bereits Fritz LangLang, Fritz in einem seiner Kommentare zu MM herausgestellt: „The only conclusion I can draw from this is that we human beings know how frail the barriers are in us between good and evil and once we understand another human being, however horrible he may be, we say, ‚There but for the grace of God go I‘“ (zit. nach Bareiter / Büttner 2010, 187). Langs Kommentar zeigt auch, dass Immanuel Kants idealistische Vorstellung vom freien Willen des vernünftig sich seines Verstandes bedienenden Menschen, der sich für das ‚Gute‘ als das sittlich und moralisch Richtige und nicht für das ‚Böse‘ zu entscheiden vermag, zu kurz greift.

Dennoch hat, das demonstriert das Weltgeschehen ebenso wie das Genre des Krimis, KantKant, Immanuels kategorischer Imperativ nichts von seiner Brisanz verloren, so dass er hier noch einmal zitiert wird: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1974, 51). In dem Fall gäbe es, so die Annahme, einen bestmöglichen Ausgleich zwischen den Interessen der Individuen, selbstbestimmt zu handeln. Allerdings stellt uns der kategorische Imperativ vor vier Probleme:

1 Nicht alle Menschen sind gleich, sie haben unterschiedliche Ziele und Interessen.

2 Wenn die Tat eines Verbrechers zum allgemeinen Gesetz würde, dann würde Chaos herrschen.

3 Wenn die Gesetze so formuliert wären und befolgt würden, dass die Interessen aller Menschen bestmöglich berücksichtigt wären, dann müsste die gesetzgebende Instanz nicht nur gottähnliche Fähigkeiten haben, sondern möglicherweise noch größere (insofern man die bestehenden Zustände einem unwilligen Gott anlasten wollte), denn wer sollte alle Interessen aller Menschen kennen und in der Lage sein, einen solchen Ausgleich herbeizuführen?

4 Der von KantKant, Immanuel angenommene Hang des Menschen zum Guten ist doch sehr zweifelhaft, auch und gerade, wenn man die Triebhaftigkeit des Menschen berücksichtigt. Kant hat das Problem selbst gesehen und versucht zu lösen, aber die Annahme, es sei beim Menschen prinzipiell von „einem frei handelnden Wesen“ auszugehen (Schäfer 2014, 212) und ‚böses‘ Handeln „entspringt aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zu Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein“ (Schäfer 2014, 215), greift leider zu kurz.

Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich hatte für einen solchen Idealismus nur Spott übrig:

Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie ‚Subjekt‘ nöthig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, dass wir populärer reden, die Seele) ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Verdienst auszulegen. (Schäfer 2014, 281)

Doch auch dies ist ‚nur‘ eine Annahme, eine Setzung, eine mögliche Sicht auf ‚das Böse‘. Die „Entdeckung der Zeichensprache des Triebs“ als „wesentliche[s] Element des Bösen“ (Alt 2010, 22) legt dagegen zweierlei nahe: Erstens, dass nicht leicht zu steuernde, egoistische Motivationen und die mit ihnen zusammenhängenden Emotionen eine große Rolle bei ‚bösen‘ Handlungen spielen; und zweitens, dass die Frage der Beurteilung dessen, was ‚böse‘ ist, von der Übersetzung in einen Code (in eine „Zeichensprache“) nicht zu trennen ist.

‚Das Böse‘ kann eigentlich nur, will man sich darüber diskursiv auseinandersetzen, als Code beschrieben, es kann nur auf der Basis seiner Codierung überhaupt als solches erkannt und eingestuft werden. Literatur und Film können insofern als „textuell vermittelte Ästhetik des Bösen“ (Alt 2010, 30) ‚das Böse‘ als dynamischen Prozess sichtbar machen und, wenn es sich um Fiktionen handelt, zugleich auch seine Kontingenz hervorheben.

2.7 Zuschreibungen des Wertes: Unterhaltung, Kunsthandwerk und Kunst

Zunächst einmal kann mit den Soziologen Niklas LuhmannLuhmann, Niklas und Pierre BourdieuBourdieu, Pierre, die jeweils eine Theorie der Kunst und Literatur in der Gesellschaft vorgelegt haben, festgestellt werden, dass Literatur etwas radikal anderes ist als Alltagskommunikation:

Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die ganze Komplexität einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muß, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfaßbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher und als Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten. (Bourdieu 2001, 53)

 

Luhmann unterscheidet zwischen „Information“ und „Mitteilung“ (Luhmann 1997, 39). Ein literarischer Text vermittelt keine Informationen, er stellt eine komplexe Mitteilung dar, die sich auch nur so ausdrücken lässt:

Die ‚Aussage‘ eines Gedichts [oder eines anderen literarischen Texts] läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann. Der Sinn wird über Konnotationen, nicht über Denotationen vermittelt, über […] die ornamentale Struktur der sich wechselseitig einschränkenden Verweisungen, die in der Form von Worten auftreten, aber nicht über den Satzsinn […]. (Luhmann 1997, 45f.)

Auch einfache Texte können eine komplexe Aussage haben, aber nicht alle einfachen Texte sind komplex codiert. Bei jenen, die keine großen Anforderungen an das Reflexionspotenzial der Leser*innen stellen, spricht man von Trivial- oder Unterhaltungsliteratur. Angesehene Texte wählen anspruchsvolle Formen der Codierung, die auch Traditionen verpflichtet sind, die zu kennen vorausgesetzt wird. Dies gilt ebenso für die aus der Antike überlieferte und modifizierte Rhetorik und Stilistik wie für intertextuelle Spuren (zur Zeichenhaftigkeit und zum Begriff der Spur vgl. Kessler 2012). Auch Krimis verwenden Zitate oder Stoffe und Motive, die auf frühere Texte verweisen und so – wenn man solche Signale zu erkennen weiß – einen spezifisch literarischen Diskurs eröffnen, indem sie sich in Traditionen einschreiben, sie kritisch fortschreiben und modifizieren.

Gängige Krimis sind einfach konstruiert, sie arbeiten mit Klischees und Stereotypen, um ihre Leser*innen zu unterhalten und auf diese Weise am Markt erfolgreich zu sein. Daran ist nichts Verwerfliches: „Wer lieber King als Kafka liest, die amerikanische Gegenwartsliteratur der deutschen vorzieht oder den Krimi im Fernsehen dem im Buch, der soll sich davon nicht abhalten lassen“ (Anz 1998, 8). Dennoch gehört Unterhaltungsware gerade deshalb eben nicht zum Literatur- und Kunstbetrieb, auch wenn dieser die Aufgabe hat, keine pauschalen Ausgrenzungen vorzunehmen – sofern er sich nicht selbst auf die Stabilisierung von Machtbeziehungen und dadurch erlangte Distinktionsgewinne beschränken will.

Krimis verfallen oft dem Verdikt der Trivialität, weil Spannung zum Genrekern gehört. Doch ist Spannung etwas, das viele Gesichter haben und – auch beim Krimi – nicht unbedingt oder nur als Handlungs- oder Rätselspannung auf die Handlung bezogen sein muss. Allgemein formuliert: „Spannung beruht [ ] auf partiellem Mangel an Information und auf dem Wunsch, ihn aufzuheben“ (Anz 1998, 163). Darüber hinaus stimuliert Literatur „die Erfahrung eines Mangels“ und schafft so ein „Begehren [ ], den Mangel zu beseitigen“ (Anz 1998, 168). ‚Gute‘ Literatur und Filme zeichnet es aber aus, die Spannung auch über das (un-)glückliche Ende hinaus aufrecht zu erhalten, damit die Leser*innen über das Gelesene oder Gesehene weiter nachdenken. Um es mit dem Ende von Bertolt BrechtBrecht, Bertolts Der gute Mensch von SezuanDer gute Mensch von Sezuan von 1943 zu sagen:

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen

Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […]

Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?

Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? […]

Sie selber dächten auf der Stelle nach

Auf welche Weis dem guten Menschen man

Zu einem guten Ende helfen kann.

Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!

Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß! (Brecht 1997, 2, 294f.)

Für die Frage der Einordnung entscheidend ist, ob man an dem potenziellen Kunstwerk den Versuch erkennen kann, etwas Neues anzubieten: „Auch mißglückte Kunstwerke sind Kunstwerke – nur eben mißglückte“ (Luhmann 1997, 316). Davon ist die „Massenproduktion“ bzw. der „Kitsch“ zu unterscheiden (Luhmann 1997, 300). Schließlich gibt es, um Kunst, die von der Neuheit lebt, überhaupt als solche zu erkennen, „[…] einen Kunstbetrieb. Das Kunstsystem stellt Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen – etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw.“ (Luhmann 1997, 249).

Was gar nicht besprochen wurde und keinen Beifall von Akteur*innen im Literatur- und Kunstbetrieb erhält, zählt daher möglicherweise – es gilt immer das Prinzip einer ständigen Revision des literarischen Kanons (Neuhaus 2002) – zur Trivial- oder Unterhaltungsliteratur. In jedem Fall gilt, dass es bei der Beschäftigung mit Literatur jenseits der reinen Unterhaltungsfunktion immer darum gehen sollte, „ästhetisches Vergnügen durch Reflexion darüber zu verstärken“ (Anz 1998, 10).

Weshalb ist die reflexionsstimulierende Funktion von Literatur und auch von Filmen oder Serien so wichtig? Für Luhmann erbringen Kunst und Literatur einen besonderen und besonders wichtigen Beitrag für die Gesellschaft: „Mehr und vor allem deutlicher als in anderen Funktionssystemen kann in der Kunst vorgeführt werden, daß die moderne Gesellschaft und, von ihr aus gesehen, die Welt nur noch polykontextural beschrieben werden kann“ (Luhmann 1997, 494). Daraus folgt: „Eine Zukunft kann es, auch für Kunst, nur geben, wenn für Differenz optiert wird […]“ (Luhmann 1997, 495). Luhmann schließt also mit einem emphatischen, in seinem Gesellschaftsbezug durchaus politisch zu nennenden Plädoyer für Kunst und Literatur. Und dies gilt genauso für Krimis, ganz gleich, wie sie (massen-)medial realisiert werden.

Fragen zum Kapitel:

Weshalb gibt es viele verschiedene Genredefinitionen?

Was wäre Bestandteil einer Minimaldefinition des Krimis?

Weshalb lohnt es sich, auf die konzeptionellen Hintergründe und auf die Realisierungen in Literatur, Film und Serie mehr zu achten?

Welche Bedeutung hat Spannung?

Welche Bedeutung haben der Rätsel- und der Spielcharakter?

Was ist für ein kritisches Verständnis jedes Genres unabdingbar?

Wann entstehen die heute verwendeten Gattungsbegriffe?

Weshalb entsteht der Krimi im 18. Jahrhundert?

Wie wirken Aufklärung und Moderne auf die Entstehung des Genres?

Wie sieht das übliche Figurenpersonal aus?

Weshalb ist das Panoptikum ein Bild der Ordnung moderner Gesellschaften?

Wie setzt sich der Krimi mit der auf Selbstkontrolle gestellten modernen Disziplinargesellschaft auseinander?

Was sind gängige Typen des Detektivs?

Wie reagiert der Krimi auf die Komplexität (post-)moderner Gesellschaften?

Was bezeichnen die Begriffe Bio-Macht und Bio-Politik?

Inwiefern ist zwischen Gerechtigkeit und poetischer Gerechtigkeit zu unterscheiden?

Welche Rolle spielen Emotionen bei der Lektüre von Krimis?

Welche Rolle spielen symbolische Codierungen?

Wie können Krimis die Spiel-Räume fiktionaler Literatur nutzen?

Weshalb gibt es das ‚Böse‘ oder das ‚Gute‘ nicht?

Weshalb kann die Inszenierung von Verbrechen als Code beschrieben werden?

Welche Anforderungen an das Reflexionspotenzial stellen triviale Beispiele des Genres im Unterschied zu anspruchsvollen Beispielen?

3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss
3.1 ‚Ursprungserzählung‘ und Genretraditionen

Bereits die Frage, wann die Genregeschichte des Krimis beginnt, ist ein Problem – gerade weil es kein Problem zu sein scheint. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft formuliert die Ursprungserzählung des Krimis wie folgt: „Der Kriminalroman ist eine Weiterentwicklung der kurzen Kriminalgeschichte, wie sie sich im Anschluss an E. A. Poes ‚The Murders in the Rue MorgueThe Murders in the Rue Morgue‘ bei Autoren wie Conan DoyleConan Doyle, Arthur und ChestertonChesterton, Gilbert Keith zu einer thematisch festgelegten Erzählform ausgebildet hat“ (Wörtche 2007, 343). Und die verdienstvolle, grundlegende Zusammenstellung wichtiger Literatur über den Kriminalroman durch Jochen VogtVogt, Jochen eröffnet mit Klaus Günter JustJust, Klaus Günters Aufsatz „Edgar Allan Poe und die Folgen“ (Vogt 1971, 1, 9-32).

Clemens PeckPeck, Clemens und Florian SedlmeierSedlmeier, Florian konstatieren zurecht, aber leider ebenfalls zustimmend, dass es sich bei dieser Ursprungserzählung um einen „Gemeinplatz“ handelt:

Es ist ein literaturhistorischer Gemeinplatz, Edgar Allan Poes Trilogie kanonischer Kriminalerzählungen als Ausgangspunkt für eine Gattungsgeschichte und eine Gattungspoetik der Kriminalliteratur oder zumindest der Detektivgeschichte zu reklamieren. Als Gründungsurkunde der detective fiction gilt dabei vor allem Poes erste Erzählung ‚The Murders in the Rue Morgue‘ (1841) […]. (Peck / Sedlmeier 2015, 7)

Ihnen ist uneingeschränkt beizupflichten (auch wenn sie es so vielleicht nicht gemeint haben), dass die Tradierung von „Wissen und Klassifikation von Delinquenz“ (Peck / Sedlmeier 2015, 17) durch das, was offenbar schon früh als Wissen über Krimis ausgegeben wurde und wird, stark beeinflusst worden ist. Selbst englischsprachige Einführungen gehen davon aus, dass das Genre nur gut 150 Jahre alt ist (vgl. z.B. Scaggs 2005, 1), und schreiben die Ursprungserzählung mit Sätzen wie diesem fest und fort: „PoePoe, Edgar Allan was the founding father whose genius suggested the themes to be followed by other writers“ (Symons 1992, 38). Wie zu zeigen sein wird, ist aber die ‚Kriminalgeschichte‘ (gemeint ist vermutlich ‚Kriminalerzählung‘?) älter als der Kriminalroman, man denke an Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre oder E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi, die als weitere wichtige Muster des Genres noch näher vorgestellt werden. Die Kriminalliteratur der Moderne beginnt eigentlich, wie Sandra BeckBeck, Sandra festgestellt hat, mit der sogenannten „Pitaval-Tradition“, die allerdings ausgrenzend „als eigenständige Variante kriminalliterarischen Erzählens“ aufgefasst wird und „durch die Causes célèbres et intéressantes avec le jugemens qui les ont décidéesCauses célèbres et intéressantes avec le jugemens qui les ont décidées (1734-54; 20 Bde.) des französischen Advokaten François Gayot de PitavaPitaval, François Gayot del begründet“ wurde (Beck 2014, 36).

Abb. 3.1:

Mit dem sogenannten Pitaval fing alles an.

Neben anderen Autor*innen (vgl. Beck 2014) bauen auch SchillerSchiller, Friedrich und HoffmannHoffmann, E.T.A. auf dieser Tradition auf. Erstaunlich ist, dass diese beiden wohl nicht zu ignorierenden Autoren im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (in Übereinstimmung mit der Generallinie der Forschung) zwar angeführt, aber der „älteren Verbrechensdichtung“ zugerechnet und in ihrer wegweisenden Modernität nicht erkannt werden (vgl. Wörtche 2007, 343). Schillers Erzählung ist der erste auch heute noch bekannte Text, der nach der Motivation von Verbrechern fragt, ihre Taten mit den sozialen Verhältnissen in Verbindung bringt und die Frage nach der Möglichkeit von Resozialisierung aufwirft. Damit weist diese Erzählung bereits auf die Krimis des 20. Jahrhunderts voraus – man denke an Fritz LangLang, Fritzs berühmten Film MM. – wie HoffmannHoffmann, E.T.A.s Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi. Die Titelfigur bei Hoffmann ist eine ältere Dame, der späteren Miss Marple Agatha ChristieChristie, Agathas nicht unähnlich, die weniger durch Kombinationsgabe als – wie noch später Wolf HaasHaas, Wolf’ Detektiv Simon Brenner – durch eine Mischung aus Hartnäckigkeit und Zufall eine Serie an Diebstählen und Morden aufklärt.

Noch älter als SchillerSchiller, Friedrichs Erzählung ist in jedem Fall die sogenannte Pitaval-Literatur aus dem 18. Jahrhundert, die auf die genannte Sammlung von dokumentierten Strafrechtsfällen des französischen Juristen François Gayot de PitavalPitaval, François Gayot de (1673–1743) zurückgeht. Julius Eduard HitzigHitzig, Julius Eduard und Wilhelm HäringHäring, Wilhelm (unter dem Pseudonym Willibald Alexis bekannt), die ebenfalls Schriftsteller waren, haben 1842 den ersten Teil eines ‚neuen Pitaval‘ herausgegeben und (unter Berufung auf den ‚Parlamentsadvokaten Richter‘) dabei festgestellt,

 

[…] daß zwar jedermann Gayot de Pitavals Rechtsfälle gelesen, aber sich auch jedermann über seine Methode beschwert hätte, daß die Tatsachen ohne Ordnung durcheinander geworfen wären, von einem Wuste Betrachtungen, die nicht zur Sache gehörten, verschlungen und man sich oft in die Notwendigkeit gesetzt sähe, den wahren Verlauf der Sachen zu erraten sowie daß die rechtlichen Gründe mit einer unleidlichen Schwatzhaftigkeit vorgetragen würden. (Hitzig/Häring 1986, 11)

Wenn also die Schriften, die als Initiation und erste wichtige Quelle (vgl. bereits Hitzig/Häring 1986, 12) der modernen Kriminalliteratur gelten können, erstens dokumentarischen Charakter haben und zweitens so gestaltet sind, „daß nur ein Jurist, und auch dieser nur mit Anstrengung, sich durcharbeitet“ (ebd.), dann lassen sie sich wohl nicht zu dem Korpuskern eines Krimi-Genres zählen.

Auch davor gab es bereits immer wieder Texte, die Verbrechen zum Gegenstand ihrer Handlung hatten: „Schon SophoklesSophokles wandte im Ödipus die in der modernen Kriminalliteratur so beliebte analytische Technik an“ (Frenzel 1984, 895). Auf die Traditionen der Schilderung von Verbrechen im Drama und in der erzählenden Lyrik (etwa im Bänkelsang) wurde bereits hingewiesen. Um 1800 gibt es die ersten Texte, die im engeren Sinn zur Kriminalliteratur gezählt werden: „Als ersten ‚Kriminalroman‘ bezeichnen […] viele Autoren den Roman ‚Things as they are, or: The Adventures of Caleb WilliamsThings as they are, or: The Adventures of Caleb Williams‘ von William GodwinGodwin, William aus dem Jahr 1794“ (Seeßlen 2011, 8). SchillerSchiller, Friedrichs Erzählung Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre, auf die genauer eingegangen werden soll, ist früher erschienen.

Relevanter als die Frage, welches die erste Kriminalerzählung war, wird es sein, die Bedingungen der Entstehung des neuen Genres in den Blick zu nehmen und dabei sowohl nach den entstehenden Mustern als auch nach den Besonderheiten von exemplarisch ausgewählten, grundlegenden Texten zu fragen. Dazu kommt, dass es auch im Krimi Genre-Traditionen gibt, die fortgeschrieben werden, und solche, die neu gestiftet werden. Zweifellos sind Edgar Allan PoePoe, Edgar Allan und Sir Arthur Conan Doyle prägend für die weitere Entwicklung einer populären Auffassung von dem, was den Krimi ausmacht – „die Auflösung eines (Mord-)Rätsels“ auf der Ebene der histoire und die „Ver- und Enträtselung“ auf der Ebene des discours als die beiden Medaillen einer Seite (Wörtche 2007, 343). Krimis erzeugen Handlungsspannung, ob sie nun auf die Aufklärung eines Verbrechens gerichtet ist, das in der Vergangenheit liegt, oder auf ein Verbrechen zusteuert, das für die Zukunft zu erwarten ist – und natürlich ebenfalls aufgeklärt werden sollte.

Der Krimi – so wird das Genre heute verstanden – ist ein Kind der Aufklärung und vielleicht wird ihm deshalb auch unterstellt, dass er eine einfache Struktur hat: „Die literarischen Verfahren sind dabei zunächst die des linearen Erzählens nach den Maßgaben des Realismus des 19. Jhds.“ (ebd.). Abgesehen von dem Grammatikfehler, hier Plural statt Singular zu verwenden: Dies suggeriert eine Einfachheit, die nur auf triviale Muster der Gattung zutrifft und die von komplexeren Texten durch andere ‚literarische Verfahren‘ unterlaufen wird, etwa in Annette von Droste-HülshoffDroste-Hülshoff, Annette vons Die JudenbucheDie Judenbuche (1842), nach deren Lektüre Zweifel daran bestehen, wer der Mörder des Juden Aaron war und wie der Protagonist ums Leben gekommen ist (vgl. Neuhaus 2017a, 169-175). Auch der Begriff des „Realismus“ wird hier in einer sehr unspezifischen Weise verwendet und die Beschränkung auf das 19. Jahrhundert ist ebenso unzutreffend.

Weiter ist festzustellen, dass gängige Erzählungen über die Entwicklung des Genres übereinstimmend etwa so lauten, dass es vom 19. zum 20. Jahrhundert einen Wechsel von einem Setting in einer eher ländlichen Idylle hin zu einem in (Groß-)Städten angesiedelten, brutaleren, realistischeren Verbrechensgeschehen ebenso gegeben hat wie einen stärkeren ‚sozialen Realismus‘ als Reaktion auf die historischen Entwicklungen vor allem der beiden Weltkriege. Dazu kommt eine immer stärkere Sensibilisierung für eine ethnische, kulturelle, auf Genderfragen bezogene ‚Reformulierung‘ des Genres (vgl. Scaggs 2005, 4).

Nun gibt es genügend Gegenbeispiele. Ist nicht bereits PoePoe, Edgar Allans kanonische Erzählung in der weltläufigen Großstadt Paris angesiedelt und schildert sie nicht Akte äußerster Brutalität mit größtmöglicher Nüchternheit? Auch ist mit einer solchen Verkürzung, wie sie sich oftmals in der Forschung findet, nicht ausreichend der Wandel von der Moderne zur Postmoderne berücksichtigt. Christof HamannHamann, Christof hat darauf hingewiesen, dass beispielsweise Umberto Eco in seinem weltberühmten Kriminalroman Der Name der RoseDer Name der Rose (1980) nicht nur das Genre ironisch-subversiv unterläuft, sondern es auch extensiv zitiert – und damit auf Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Sherlock Holmes und auf dessen Vorläufer deutlich vor dem 19. Jahrhundert hinweist:

Kenner der französischen Literaturgeschichte wissen, dass Eco mit dieser Geschichte selbst eine Spur legt, die zum Roman Zadig ou La destinée (1747) von Voltaire führt: Zadig gelingt es darin, eine Hündin und ein Pferd allein durch das Entziffern ihrer Spuren bis ins Detail zu beschreiben. Daraufhin des Diebstahls angeklagt, überzeugt er das Gericht von seiner Unschuld, indem er – wie William – seine Beobachtungen und seine Schlussfolgerungen darlegt. (Hamann 2016, 10)

Christof Hamann hat auch auf andere Traditionen des Krimis aufmerksam gemacht, etwa die Newgate Novel mit so frühen prominenten Vertretern wie Daniel DefoeDefoe, Daniel (Hamann 2016, 13).

Hier liegt die Crux der Geschichte des Krimis und vor allem der Versuche seiner wissenschaftlichen Aufarbeitung. Zahlreiche Forschungen tradieren entweder unkritisch frühe Festlegungen oder sie kommen zu merkwürdigen partikularen Beobachtungen, für die hier nur ein Beispiel genannt werden soll. Caspar Battegay meint am Beispiel von Friedrich DürrenmattDürrenmatt, Friedrichs Der VerdachtDer Verdacht (1958) feststellen zu müssen: „Nach Auschwitz lässt sich kein Kriminalroman mehr schreiben“ (Battegay 2015, 174). Nun ist schon das AdornoAdorno, Theodor W.-Diktum von den Gedichten, die man nach Auschwitz nicht mehr schreiben könne, einseitig und falsch tradiert worden (vgl. Kiedaisch 1995). Auch Dürrenmatts Romane, in denen stets eine Detektivfigur einen Verbrecher zur Rechenschaft ziehen möchte, sind Kriminalromane. Sie subvertieren das Genre, indem sie seine Begrenzungen mit thematisieren, dies wird am Beispiel von Dürrenmatts Das VersprechenDas Versprechen (1953) und seiner Verfilmung Es geschah am hellichten TagEs geschah am hellichten Tag (1958) noch zu zeigen sein.

Bereits die frühen Beispiele des Krimis unterlaufen das sich etablierende Genre und selbst die als kanonisch angesehenen Texte spielen mit dem Muster, das sie zugleich etablieren. Dies ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, sondern stets ein Kennzeichen ‚guter‘ Literatur:

Another way of putting this point is that good literature is disturbing in a way that history and social science writing frequently are not. Because it summons powerful emotions, it disconcerts and puzzles. It inspires distrust of conventional pieties and exacts a frequently painful confrontation with one’s own thoughts and intentions. (Nussbaum 1995, 5)

Die Festlegung von Genremerkmalen kann deshalb nur mit einer notwendigen Unschärfe geschehen: „Ein erklärendes Gesetz aufzustellen wäre in etwa gleichbedeutend mit dem Anhalten oder Festschreiben des Zeichenprozesses“ (Kessler 2012, 218). Literatur, die nicht nur unterhalten will (und solche wäre lediglich als Gegenstand literatursoziologischer oder literaturpsychologischer Studien interessant), ist immer innovativ und reflexiv.