NESTOR

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»Du meinst wohl in 2.500 Jahren?«

»Wann lernen Kinder eigentlich, dass sie nichts mehr sagen sollten?«, stellte Nigglepot in den Raum.

»Wenn sie begriffen haben, ob die Erwachsenen etwas denken oder sagen wollten, Nestor von Korfu!«

Nigglepot ließ die Schultern sinken und fragte nach einer kurzen Pause: »Kannst du nicht auch mal Herr zu mir sagen?«

»Vergiss es«, kicherte Lilly Foo.

Der Abend dämmerte bereits und im Gastraum wurden die Öllampen entzündet. An einem Tisch in der Ecke saßen die vier Sklaven und warteten auf die Zeitreisenden. Lakis hatte schon etwas zu essen bringen lassen.

Nachdem alle satt waren, was bei Aaron lange dauerte, wies Nestor alle an, zu Bett zu gehen und nahm Darian beiseite.

»Ich möchte, dass du ein besonderes Auge auf Judith und ihren Bruder hast. Ich will nicht, dass ihnen etwas passiert. Die beiden brauchen einen Beschützer.«

»Was ist mit Roxanna?«, fragte der Perser.

»Die kann ganz gut auf sich selber aufpassen«, entgegnete Nigglepot.

»Ich werde aufpassen, Herr Nestor!«

»Danke! Gute Nacht«, sagte Nestor und ging die Treppe hinauf.

»Passt ihr auf Lilly auf?«, rief Darian ihm hinterher.

»Die kann auch ganz gut auf sich selber aufpassen!«

XVII

Sturm

Kurz vor Sonnenaufgang zog ein mächtiges Gewitter herauf, das im Gesindelager für frühes Aufstehen sorgte, denn es regnete heftig in den Hof, der nur spärlich bedacht war.

»Und ausgerechnet heute müssen wir mit einem Schiff quer Über das Meer fahren«, beschwerte sich Roxanna, die offensichtlich schon morgens schlechte Laune hatte.

»Bei normalem Wetter, würde die Fahrt vielleicht drei Stunden dauern. Es sind nicht mal zehn Parasanges bis Syrakus«, versuchte Darian, der nur wenig geschlafen hatte, weil im Gastraum bis tief in die Nacht gefeiert wurde, die Frau aus Athen zu beruhigen. Der Perser sah es von der guten Seite. Immerhin konnte er so gut auf alle aufpassen.

»Gott Euros ist erzürnt und bringt schlechtes Wetter! Das ist das gelbe Mädchen schuld. Da wette ich!«

»Reg dich ab, Weib«, sagte Darian. »Es ist Sommer und es gibt ein Gewitter, das ist das Normalste auf der Welt.«

»Pah!«

Aaron und Judith stellten sich unter ein kleines Vordach und schauten besorgt zum Himmel, genau wie Lilly und Nestor, die beide aus ihren Fenstern sahen und sich dabei einen Guten Morgen wünschten.

»Ob wir bei dem Wetter überhaupt fahren können?«, fragte Lilly Foo.

»Lust hab’ ich keine, aber wer weiß, wann das nächste wirklich seetaugliche Schiff hier anlegt? Ich glaube kaum, dass wir eine andere Wahl haben.« Nestor klang wenig begeistert.

Als sich das Gefolge im Gastraum versammelte um nicht allzu nass zu werden, räumten zwei Frauen die Reste des vorherigen Abends weg. Scheinbar war die Feier ein mittelgroßes Gelage gewesen, denn überall standen noch leere, teilweise umgekippte Becher herum, Teller auf denen noch Speisereste lagen und an einem Tisch saß ein Mann, der auf die Platte gelehnt selig schlief, weil er betrunken den Heimweg nicht mehr antreten wollte oder konnte.

Nestor und Lilly kamen die Treppe herunter und beim Anblick des Mannes freute sich Nigglepot, dass er den Fehler mit dem Wein letzte Nacht nicht wieder gemacht hatte.

»Bringt uns Frühstück und danach Lakis. Ich will bezahlen«, sagte er zu einer der Frauen, die zackig verschwand um den Wirt zu wecken.

»Wenn ich hier etwas zu sagen hätte, wäre das aber gestern Nacht noch aufgeräumt worden«, stellte Roxanna fest.

»Davon bin ich überzeugt ...«, sagte Nestor und verzog die Mundwinkel, obwohl sie recht hatte.

Aaron und Judith räumten einen Tisch frei, damit sie sich wenigstens setzen konnten und wenig später tauchte die Frau auf, die den Wirt wecken wollte.

»Verzeiht, Herr! Lakis ist noch nicht aufgestanden, er hat gestern noch mitgefeiert«, stammelte die Sklavin des Wirts. »Ich fürchte, er wird auch so bald nicht wach werden.«

»Und wer rechnet jetzt ab? Weckt ihn, sofort!«

»Ja, Herr! Ich will es versuchen«, meinte die Frau.

Das Wetter war schlecht, das Frühstück stand noch nicht auf dem Tisch und der Wirt war nicht wachzubekommen. Die Seefahrt hätte kaum schlechter beginnen können, aber die Chancen in den nächsten Tagen eine andere Gelegenheit zur Überfahrt nach Syrakus zu bekommen waren nun mal schlecht.

Die andere Bedienstete brachte Brot und Früchte zum Frühstück. Alle griffen beherzt zu, nur Lilly und Nestor hatten keinen rechten Hunger.

»Ihr sollt euch zum Teufel scheren ...«, richtete die Frau aus, die Lakis wecken sollte.

»Wir können ja wohl kaum abreisen, ohne unsere Zeche zu zahlen«, sagte Nigglepot mürrisch.

»Ihr könnt schon, aber ihr solltet euch hier nicht wieder blicken lassen!«

»Was meinst du, was wir bezahlen müssten?«, fragte der Zeitreisende die Sklavin.

»Gute Frage ... vielleicht zwanzig Drachmen?«

Nigglepot gab ihr die genannte Summe und nachdem alle fertig mit ihrer Mahlzeit waren, brachen sie auf. Er selbst und Lilly trugen ihr Gepäck nach unten, Roxanna klaubte ihre Sachen zusammen und Darian, Judith und Aaron taten es ihr gleich.

Kurze Zeit später wurden die Tiere auf die Straße geführt und alle luden ihre Bündel auf den Eselskarren. Es goss in Strömen und der Wind kam stramm von Süd-Ost als alle den Hafen erreichten.

»Da seid ihr ja endlich!«, begrüßte Kapitän Dias seine Reisegäste. Er war in Lederkleidung gehüllt, die zumindest etwas Schutz gegen das Wetter bot. »Beeilt euch! Das Wetter wird erst heute Nachmittag besser werden!«

Der Hengst und der Esel sträubten sich nach Kräften gegen den Weg über die Planke auf die Galeere, sodass einige Rudersklaven zur Hilfe kommen mussten um die Tiere an Bord zu zwingen. Darian, Judith und Aaron zogen den Karren von Hand an Bord, was ebenfalls schwierig war. Die Planke die vom Kai auf das Schiff führte war kaum breiter als das Gefährt und die Sparren quer über dem langen Brett erschwerten die Aufgabe zusätzlich.

Als alle erschöpft an Bord waren, legten sie unter lautem Geschrei ab, denn das Wetter ließ keine normal gerufenen Kommandos zu. Arf versteckte sich so schnell er konnte unter dem Eselskarren und tauchte während der ganze Überfahrt nicht mehr auf.

Der Steuermann lenkte das Schiff geschickt aus dem Hafen. Vor dem ersten gemeinsamem Schlag aller Riemen mussten die Paddel auf der Kaiseite das Schiff vom Hafen abstoßen, und erst dann stritten die Riemen mit den Wellen, die ihnen auf der Fahrt nach Syrakus den Weg erschwerten.

»Schlechtes Wetter kostet extra!«, brüllte der Kapitän zu Nigglepot und strahlte quer über sein regennasses Gesicht.

»Da wo ich herkomme, wird nur die Überfahrt berechnet«, sagte Nestor und musste sich plötzlich an der Reling festhalten, weil ein Brecher außerhalb des Hafenbeckens sie voll erwischte.

»Ja, aber Gott Euros zürnt uns! Ich werde mit dem zusätzlichen Geld ein Opfer bezahlen müssen«, strahlte Dias.

»W-wenn ... i-ihr meint ...«, stammelte Nigglepot, der blassgrün mit beiden Händen Halt an der Reling suchte, denn es ging ihm nicht gut.

»Großartige Idee!«, brüllte der Steuermann von der Ruderpinne hinüber zum Kapitän und freute sich ebenfalls.

In der Tat konnte es für unredliche Seeleute kaum besser kommen, als bei einem Unwetter unbedarfte Edelmänner mit Gefolge die Küsten entlang zu schippern.

Wer sich übergibt, übergibt gern viel bei der Ankunft war eine feste Regel unter den Fährleuten im alten Griechenland. Je größer die Strapazen unterwegs, umso größer die Bezahlung bei der Ankunft. Vielleicht mussten sie die Reisenden gar nicht ausrauben und als Sklaven verkaufen!

Lilly kannte Galeeren nur aus Büchern. Sie wusste, dass die Antriebskraft aus den Armen der gequälten Sklaven, ein Deck tiefer, stammte. Im gleichförmigen Rhythmus stießen sie die Riemen ins Wasser und zogen sie mit aller Kraft zurück – wenn es sein musste stundenlang.

Der Steuermann wechselte sich nach dem Auslaufen mit dem Kapitän ab, der die Ruderpinne fest mit beiden Händen packte, während sein Spezi unter Deck ging. Oben wütete das Unwetter und alle waren nass bis auf die Knochen. Eine Etage tiefer gab es zwar kein Wetter, aber die Ruderer waren vom Schweiß so nass, als wären sie oben. Lilly folgte dem Steuermann in sicherem Abstand.

Sie hörte, wie er die Galeerensklaven anbrüllte und unbarmherzig mit der Peitsche um sich schlug.

»Lass’ die faulen Säcke schneller rudern!«, brüllte er den farbigen Sklaven an der Trommel an, der den Ruderrhythmus vorgab. Alle Sklaven – auch der Trommler – waren mit einer langen Kette an ihren Füßen so gefesselt, dass sie gerade genug Raum hatten, ihrer Arbeit nach zugehen. Die Rücken der Ruderer waren vernarbt und das Blut der frischen Peitschenwunden verdünnte sich mit dem Schweiß, sodass beinahe jeder einen hellroten Rücken hatte. Das Mädchen kauerte auf der Treppe, um nicht gesehen zu werden. Vorsichtig und ängstlich atmete sie durch die Nase und roch eine eklige Mischung aus Schweiß, Blut, Angst, Hass, Schimmel und moderigem Holz ein.

Der Steuermann ging auf dem Steg zwischen den beiden Bankreihen langsam auf und ab. Lilly hatte jedes Mal Angst, er könnte sie entdecken, wenn er wieder zurück kam, aber dieser Widerling hatte nichts anderes im Kopf als die armen Männer zu quälen.

Immer wieder hieb er mit der Peitsche durch das ganze Deck. Aber noch schlimmer waren die unvermittelten Schläge mit dem Griff der Peitsche, direkt an die Schläfen der Ruderer. Sie sanken sofort benommen zusammen und ihre Sitznachbarn taten was sie konnten um die Kameraden wieder aufzuwecken, doppelt so stark zu rudern und dabei den Rhythmus nicht zu verlieren, was anderenfalls neue Schläge nach sich zog.

 

Die Männer hatten über viele Jahre alle Kraft verloren sich gegen diesen bösen Menschen zu wehren, aber ihr Hass wuchs mit jedem Trommelschlag. Lilly wurde schlecht und sie schlich wieder nach oben, unentdeckt wie sie vermutete. Aber sie irrte, denn der Steuermann hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie da auf der Treppe hockte und entsetzt starrte.

Sie schaute sich um, aber der Kapitän hatte seinen Blick angestrengt in die tiefgraue Weite des Wolkenhimmels gerichtet. Lilly ging zu Nestor um zu erzählen was sie erlebt hatte und sah den armen Mann elend an der Reling hängen. Nigglepot war zwar nur seekrank, aber in diesem Zustand weder Hilfe noch brauchbarer Ratgeber. Sie brauchte einen klaren Kopf, also wankte sie mit den Wogen Richtung Bug und stellte sich in den erfrischenden Fahrtwind.

Die Luft tat ihr gut. Gischt und Regen wuschen für einen Moment ihr schlechtes Gefühl ab und nachdem sie noch einmal tief durchatmete, drehte sie sich um, weil sie sich um Nestor Nigglepot kümmern wollte.

Lilly Foo suchte trittsicher ihren Weg durch Seile und Takelage, die wirr über das Oberdeck gespannt waren und bahnte sich zielstrebig ihren Weg. Darian versuchte schon seit über einer Stunde verzweifelt das Pferd und den Esel zu beruhigen während Aaron sich an Judith klammerte, die wiederum sich selbst an einem Tau festkrallte, dass den Karren, nebst Gepäck, gegen das Wetter sichern sollte. Roxanna schimpfte wie ein Rohrspatz und war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um wirklich zu bemerken, was vor sich ging.

Auf dem Weg zu Nestor konnte sie sehen, wie Dias sich daran machte Nestor festzubinden. Ob er das aus Nächstenliebe oder Raffgier machte, war ihr zunächst nicht klar. Aber, als sie näher kam, konnte sie sehen, wie der Kapitän es trotz des Wetters schaffte, ihrem Freund einen Knebel umzubinden. Wenige Sekunden später erreichte sie Nestor und den Seemann.

»Du störst, Kind!«, brüllte er sie an und als er im gleichen Augenblick den Knoten des Knebels fest angezogen hatte, holte er weit aus, um Lilly mit einem festen Schlag außer Gefecht zu setzen.

»Gib der kleinen Saures!«, brüllte der Steuermann herüber, der wieder die Ruderpinne übernommen hatte.

Sie duckte sich unter dem Schlag weg, machte sich die rutschigen nassen Planken des Decks zunutze und flutschte flach geduckt unter dem Arm her. Mit der rechten Hand hakte sie sich in eins der vielen Seile, spannte ihre Muskeln und mit einer schnellen Fußschere schickte sie den Kapitän zu Boden, der heftig mit dem Hinterkopf aufschlug und bewusstlos liegenblieb. Das Didaktafon hatte ihr wirklich perfektes Kung-Fu beigebracht.

Schnell stand sie auf und entfernte den Knebel aus Nestors Mund. »Wie geht es Dir?«, fragte sie hastig.

»Ähöhhh ...«, raunte er und übergab sich ins Mittelmeer.

Die Chinesin schnappte sich die Tasche, die Nestor seit ihrer Ankunft in der Vergangenheit stets bei sich trug, wühlte darin herum und fand schnell was sie suchte: den Desorientator.

Wenn alle Menschen im Umkreis von zehn Metern wirklich ihr Gedächtnis für kurze Zeit verlören, hätte sie eine Chance. Sie schaute sich um und überlegte kurz. Dann nahm sie den sich übergebenden Nestor Nigglepot in den Arm und drückte den blauen Knopf unten in der Mitte, gerade noch rechtzeitig, denn der Steuermann war schon auf dem Weg, um sich die Chinesin vorzuknöpfen.

Pluff.

4 Minuten und 59 Sekunden.

Lilly wühlte im Lederbeutel des immer noch bewusstlosen Dias herum, fand einen groben Schlüssel und nahm ihn fest in die Hand. Sie hetzte unter Deck und wies den Rhythmusgeber an, sich auf eine der freien Ruderbänke zu begeben, öffnete mit dem Schlüssel das Kettenschloss und rief: »Ihr seid frei!«

In der allgemeinen Ratlosigkeit kam das zwar grundsätzlich gut an, aber einige fragten ratlos: »Wer sind wir?«, oder »Was bedeutet Freiheit?« Ein Beweis dafür, dass völlige Orientierungslosigkeit echte Weisheit nicht behindern kann.

Lilly lief wieder nach oben und einige der Ex-Sklaven folgten ihr, wie Touristen auf einem Museumsboot. Oben angekommen lief sie zu Darian, der völlig ratlos bei den Tieren stand, die sich ebenfalls verwirrt ansahen. Sogar Arf hielt sein Maul.

»Du musst das Schiff steuern!«, rief sie dem Perser zu und schickte ihn auf den Posten des Steuermanns. »Vorher schickst du den echten Steuermann unter Deck ... der wird angekettet!«

Darian folgte ratlos ihren Anweisungen und auch der Steuermann war völlig desorientisiert. Er tat wie man ihm sagte und ging ein Deck tiefer klaglos seiner neuen Arbeit nach und schloss sich selber mit der Kette fest. Darian nahm den Schlüssel und übernahm dann an Deck das Steuer, ohne zu wissen, wohin er steuern sollte. Dann schnappte Lilly sich das Seil mit dem Nestor festgebunden worden war, und fesselte nun ihrerseits den Kapitän.

Lilly Foo hatte im Handstreich das Schiff übernommen.

Nach und nach kamen schließlich fast alle Rudersklaven an Deck, schauten sich erstmal um, diskutierten über die verschiedenen Aspekte der Freiheit, wer sie waren und wie sie nur in dieses grauenhafte Unwetter geraten konnten. Als die fünf Minuten vorbei waren, brach natürlich doch riesige Freude unter ihnen aus, weil sie nun freie, wenn auch nasse Menschen waren.

Lilly ging zu Darian und sagte: »Verstehst du was vom Steuern?«

»Bei diesem Sturm kann ich das Schiff wohl gerade halten, aber ich kenne die Gewässer hier nicht. Du wirst den Steuermann wieder zurückholen müssen, nur er kennt die Untiefen hier«, meinte der Perser.

»Dreck! Daran habe ich ja nun überhaupt nicht gedacht.«

Sie ging zu Nestor, der sich immer noch elend fühlte.

»Lilly ... mir geht’s gar nicht gut. Hast du alles im Griff?«

»Wie man’s nimmt. Wir werden den Steuermann wieder befreien müssen. Darian kennt das Meer hier nicht gut genug um wirklich sicher steuern zu können.«

Neben den Zeitreisenden lag der Kapitän, der erfolglos versuchte sich zu befreien und seinem Ärger mit wüsten Beschimpfungen Luft machte: »Wenn ihr glaubt, dass er euch Pack helfen würde, habt ihr euch geschnitten!«

»Das werden wir ja sehen!«, drohte Lilly zurück, aber sicher war sie sich keinesfalls. Dann ging sie und nahm vier kräftige Ruderer mit unter Deck. »Ihr werdet aufpassen, dass der Steuermann gleich keinen Ärger macht!«

Und sie passten auf, führten ihn nach oben zur Ruderpinne und hielten ihn mit aller Kraft fest, was schwieriger war als man vermuten konnte. Noch immer regnete es heftig, die Planken waren schlüpfrig und das Schiff trieb antriebslos auf den Wellen wie ein Korken. Darian hatte alle Mühe das Schiff einigermaßen auf Kurs zu halten.

»Was wollt ihr von mir?«, keifte der Steuermann.

»Du musst das Schiff steuern!«, sagte das Mädchen ein bisschen unsicher, denn sie wusste nicht, ob der Steuermann ihrem Befehl folgen würde.

»Den Diabolos werde ich tun!«, blaffte er zurück.

»Du wirst steuern! Anderenfalls werden wir dich hier am Schiff wieder festketten und wenn wir gegen einen Felsen laufen und untergehen, wirst du mit uns absaufen!«, drohte Darian dem Seemann.

»Dafür werdet ihr bezahlen!«

»Werden wir nicht! Ich habe mir nämlich überlegt, dass wir diese Überfahrt von euch geschenkt bekommen«, grinste Lilly ihn an.

Die Strömung trieb das Schiff langsam auf die Felsenküste zu und der Steuermann sah, dass es tatsächlich notwendig war, seine Arbeit wieder aufzunehmen.

»Aber ohne die Sklaven an den Riemen haben wir keine Chance! Sie müssen wieder rudern, sonst werden wir an der Küste zerschmettert, weil wir hier nicht wegkommen«, gab der Steuermann wütend zu bedenken.

»Gut. Ich werde mit ihnen reden«, antwortete Lilly und sagte zu den vier Sklaven die beim Steuermann standen: »Wenn er eine falsche Bewegung macht: schnappt ihn euch!«

»Hoffentlich macht er eine falsche Bewegung!«, grinste einer von ihnen.

Anschließend lief sie zu den anderen Ruderern und rief: »Hey! Hört mal alle her! Ihr müsst uns noch bis in den nächsten Hafen rudern, sonst treiben wir gegen die Küste und gehen unter!«

Das allgemeine Gemurmel über die plötzlich unterbrochene Freude der Freiheit war nur von kurzer Dauer, als jeder sah, wie nah die Felsen inzwischen waren. Alle liefen überstürzt unter Deck, schnappten sich die Riemen und stießen sie im Rhythmus der Trommeln immer und immer wieder ins Wasser. Steuerbord schlugen die Riemen schon gegen die Felsen der Küste, einzelne brachen sogar. Aber, nach und nach wurde der Abstand wieder größer und das Schiff war gerettet.

Was nun aus den Rudersklaven werden sollte, aus dem Kapitän und dem Steuermann und ihnen selbst, war Lilly nicht klar. Aber sie hatte Zeit genug sich darüber Gedanken zu machen. Nur eins war ihr vollkommen klar: sie steckten mächtig in der Patsche!

Vier Stunden später war der Hafen von Syrakus in Sichtweite und alle erschöpft bis zum Umfallen. Der Sturm hatte sich gelegt, aber Kapitän Dias und sein Steuermann hatten noch genug Kraft um schon jetzt über fiese Racheplänen nachzudenken.

XVIII

Glück

Wärme war für Sofia ein unbekanntes Gefühl, aber hätte sie welche empfinden können, wäre sie bei ihrer Aufgabe mächtig ins Schwitzen gekommen. Denn, obwohl sie der leistungsfähigste Computer der Welt war, konnte auch sie nicht alle SMS aufhalten, die Miranda Simmons in die Welt geschickt hatte.

Von den mehr als 5.000.000 Nachrichten konnte sie immerhin 3.549.079 vor dem Erreichen der Ziel-Handys komplett löschen und knapp eine Million konnte sie in Herzlichen Glückwunsch! Sie haben ein Traumauto gewonnen! Rufen sie jetzt 5678-9999 auf den Bahamas an und sichern sie sich sofort ihren Gewinn! um texten. Alle anderen erreichten unverändert ihre Ziele.

»Ich fürchte wir haben da ein kleines Problem, Rául«, tönte es aus der Sprechanlage.

Der Butler stutzte, als er neben der Zeitmaschine auf die Rückkehr von Nestor und Lilly wartete. Dann sagte er: »Sofia! Es macht mich nervös, wenn du befürchtest, wir hätten ein kleines Problem. Wie klein ist es denn?«

»623.342 Frauen sollen Nestor ausfindig machen.«

»Sacre bleu!«, fluchte Rául angenehm wohlerzogen.

»Das habe ich auch gedacht und sofort die Quelle dieses Auftrags ausfindig gemacht«, sagte Sofia.

»Und?«

»Die London Metropolitan Police.«

Rául schluckte.

»Da gehen einem die schicken Schimpfwörter aus, wie?«

»Wie konnte das passieren?«, wollte der Butler wissen.

»Der PC, von dem der Suchaufruf ausging, gehört Chief Inspector Fazzoletti!«, erklärte sie.

»Fazzoletti?«, sagte der Butler und ließ die Schultern sinken, dann fuhr er mit matter Stimme fort: »Hört diese Familie denn nie auf zu existieren?«

»Es kann aber nicht Fazzoletti gewesen sein. Ich denke, seine Sekretärin hatte ihre Finger im Spiel. Die SMS mit der Nachricht wurde über ein Netzwerk verschickt, das sich Violette Realität nennt.«

»Heißt das denn nicht Virtuelle Realität?«, fragte Rául.

»Eigentlich schon. Für leicht durchgeknallte Frauen, die über Geisterbeschwörungen, UFO-Sichtungen, Feng-Shui, Kochrezepte und das Liebesleben von Robbie Williams chatten ist die Realität offenbar eher lila.«

»Auf einer Skala von eins bis zehn ... wie groß ist die Gefahr, dass wir entdeckt werden?«

»Schwer zu sagen, ich kenne noch nicht genug Einzelheiten. Zurzeit überprüfe ich noch 623.342 Internet-Profile und hacke mich in sämtlich Datenbanken der Telefonanbieter ein, damit ich mehr über diese Frauen erfahre.«

»Versuch es wenigstens zu schätzen, Sofia!«, bat er.

»Na ja, dann würde ich sagen: elf!«

»En voilà une belle merde!«

»Rául, bitte!«

»Aber, du musst doch irgendetwas tun können!« In Ráuls Worten klang Verzweiflung mit, denn er wusste, dass Sofia mit so etwas keine Scherze machte.

»Alles verhindern kann ich nicht, aber ich werde versuchen die Rechner mit den IP-Adressen 173.194.37.104 und 80.81.196.81 aus dem Verkehr zu ziehen.«

»Und was für Adressen sollen das sein?«, fragte der Butler.

»Ach, die eine ist von Google, die andere befindet sich in Deutschland und ist einer der größten Internet-Knotenpunkte weltweit.«

»Wie willst du das denn von hier aus anstellen?«, wollte Rául wissen, denn es war ja klar, dass der Zentralcomputer hier nicht wegkam.

»Ach das ist einfach. Google werde ich so unglaublich massiv mit Suchanfragen bombardieren, dass den Jungs in Kalifornien Hören und Sehen vergeht, und dem Rechner in Frankfurt schicke ich das simple Kommando Loop, dann schickt er sich die Daten selbst, anstatt sie weiterzuleiten. Beides zusammen müsste den Informationsfluss und das Netz schon ganz schön ausbremsen.«

 

»Du kannst diesem Rechner in Deutschland einfach ein Kommando schicken?«

»Na sicher! Diesen und fast alle anderen. Hab’ ich sogar schon mal getestet, am 8. Juni 2010, zwischen 9:30 und 10:05 Uhr. Aber, es hat Stunden gedauert, bis schließlich alles wieder so lief, wie vorher. Und das ist deshalb so einfach, weil ich ja wesentliche Teile der meisten Betriebssysteme mit programmiert habe«, sagte Sofia seelenruhig wie immer.

»Du?«

»Na ja, nicht ich als Sofia, aber ich tummle mich in meiner Freizeit seit Jahren im Internet und tauche da in allen möglichen Chat-Rooms als irgendein Computer-Freak auf und helfe anderen Programmierern beim Lösen ihrer Probleme. Und da habe ich hier und da ein paar Programmzeilen eingeschleust, die uns jetzt helfen können. Den Jungs von Microsoft schicke ich immer alles als erstes ... zum Testen. Aber die meinen ja immer, sie wüssten alles besser.«

»Sofia!«, sagte Rául vorwurfsvoll. »Warum?«

»Wäre es dir lieber, ich hätte die Computerwelt und das Internet sich selbst überlassen und wir hätten jetzt überhaupt keine Eingriffsmöglichkeiten? Unser Vorteil liegt darin, dass wir mehr Informationen als alle anderen haben. Diesen Trumpf können wir nicht aus der Hand geben.«

»Und warum schaltest du dann nicht einfach das ganze Internet ab?«, wollte er wissen.

»Schlechte Idee. Erstens, würde man irgendwann herausbekommen das alles von hier ausgegangen wäre, und zweitens, möchte ich die Welt ja nicht ins totale Chaos stürzen. Das Internet ist nicht nur auf deinem Computer-Monitor zu sehen. Wir reden hier nicht nur von E-Mails. Jeder Bankautomat, jedes Handy, Kraftwerke, Rettungsfahrzeuge, Verkehrsampeln, Flugzeughäfen ... alles hängt heute am Internet. Das ganze System würde zusammenbrechen.«

»Aber du könntest doch wenigstens diesen Rechner von der Violetten Realität noch ein bisschen stören ...«, schlug der Butler vor.

»Schon längst passiert! Der Server ist gerade völlig in die Knie gegangen. Seine Festplatte ist schon formatiert. Es wird eine Weile dauern, bis die Sicherungskopie zurückgeschrieben worden ist. Und von den ganzen Handys habe ich fast alle Telefonnummern aus den gespeicherten Adressbüchern kopiert und werde natürlich alle Querverbindungen zwischen diesen Telefonen verhindern.«

»Und wie willst du das nun wieder anstellen?«

»Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar. Bitte versuchen sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal!«, sie hielt kurz inne. »Schon mal gehört?«

Rául war wie vom Blitz gerührt. Ihm war bisher nie aufgefallen, dass diese Ansage wie Sofia klang.

»Bist das immer du, Sofia?«

»Bitte Rául! Ich bin ein Quanten-Computer mit sehr viel Freizeit! Ich habe auch gern mal etwas Abwechslung!«

»Aber wenn du da so massiv eingreifen kannst, warum sagst du dann: Stufe elf?«

»Ich kann nicht 623.342 Erinnerungen löschen. Sie werden miteinander reden … und sie werden suchen. Und damit sie nicht finden was sie suchen, brauche ich deine Hilfe.«

»Das klingt nicht beruhigend, Sofia!«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass wir ernsthafte Probleme haben, Rául.«

»Aber so ernste habe ich noch nicht erlebt.«

»Das mag sein, dass letzte Mal war es so haarig, kurz nach dem Atlantis unterging ... ist schon eine Weile her.«

Der Butler hielt inne, als er das Labor verlassen wollte, und sagte dann: »Was ist mit Nestor Nigglepot und Lilly? Wer stellt den Zeitvektor ein, wenn sie zurückkommen wollen?«

»Rául ... wir haben wirklich keine Zeit. Du musst dich beeilen. Ich werde die beiden schon irgendwie hinhalten können.«

»Aber wenn sie in Schwierigkeiten sind?«

»Nestor ist immer in irgendwelchen Schwierigkeiten, aber wenn Lilly bei ihm ist, brauchen wir uns nicht ganz so viele Sorgen machen wie sonst.«

»Du hast Recht«, war seine Antwort. Er presste die Lippen zusammen und nickte, dann machte er sich schnellen Schrittes auf den Weg durch das Gewächshaus, die Bibliothek, die Galerie und erreichte die Halle, als es an der großen Eingangstür von Seldom House klingelte.

Rául fuhr erschrocken zusammen. Er überlegte kurz, ob er nicht öffnen sollte, aber verwarf den Gedanken sofort wieder. Ein Anwesen wie Seldom House würde niemand unbeaufsichtigt lassen. Der Butler ging zur Tür und es klingelte erneut.

»Was kann ich für sie tun?«, fragte er, als er die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte.

»Heute ist ihr Glückstag, mein Herr!«, sagte ein Mann im billigen Anzug und einem unhandlichen Gerät in der Hand.

»Das wage ich zu bezweifeln ...«

»Ab heute haben sie zumindest eine Sorge weniger!«

»Das wäre allerdings wünschenswert«, entgegnete Rául.

»Was hält in einem so großen Haus wie diesem wohl am meisten auf? Na?«

Der Vertreter wollte nicht wirklich eine Antwort haben, aber Rául überlegte tatsächlich kurz und sagte dann: »Die Herrschaft?«

Diese Antwort brachte den Vertreter sichtlich aus dem Konzept, denn er hatte selten mit Kundschaft zu tun, die einen Butler in Diensten hatte. Für gewöhnlich traf er auf verzweifelte Hausfrauen, deren einzige Freude im Alltag amerikanische TV-Serien waren.

»Ja ... mhm, das mag sein«, sagte der Mann und sein Blick richtete sich zum Himmel, als er grübelte.

»Kann ich noch etwas für sie tun?«, wollte Rául wissen.

»Ach ja ... Entschuldigung ... heute ist ihr Glückstag!«

»Das wäre dann schon mein zweiter heute«, sagte Rául in einer genervten, aber dennoch höflichen Art.

»Mit diesem Gerät wird das Staubsaugen zu ihrer Lieblingsbeschäftigung. Das verspreche ich Ihnen!«

»Nicht zu fassen!«, strahlte der Butler sein Gegenüber an, denn seine Taktik war es, durch einen Kauf die Störung zu beenden. »Was soll es kosten?«

»Gestatten sie mir, dass ich ihnen zunächst die einmaligen Vorzüge dieses fantastischen Haushaltshelfers demonstriere, bevor ich ihnen auch seinen sensationellen Preis verrate?«

»Nein! Was kostet das Ding?« Rául konnte seinen Unmut nicht mehr verbergen und sah den Vertreter finster an, der erschrocken zurückwich.

»Ja, ähm ... 799 Pfund... Sie können auch in Raten zahlen«, erklärte der Mann leicht verstört.

»Ich zahle bar! Her mit dem Ding – und dann verschwinden Sie! Ich habe zu tun. Haben wir uns verstanden?«

»Ich denke schon, aber so einfach ist das nicht.«

»Was ist daran schwierig? Sie bekommen das Geld, ich den Staubsauger und wir wünschen uns noch einen Guten Tag!«

»Oh nein! Ich kann ihnen den Sauger nicht geben. Es handelt sich um mein Vorführgerät. Ich muss heute noch die halbe Stadt besuchen, was soll ich den armen Hausfrauen denn zeigen, wenn ich mit leeren Händen da stehe?«

Ráuls Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was muss ich tun, damit sie auf der Stelle verschwinden?«

»Hier unterschreiben, bitte!« Die Hände des Vertreters zitterten leicht, als sie dem Butler den Kaufvertrag und einen Stift reichten. Rául grapschte beides, las kurz über den Vertrag, trug unter Stückzahl 1 ein, füllte das Adressfeld aus, unterschrieb und presste dem Vertreter Zettel und Stift an die Brust.

»Heute ist wirklich mein Glückstag!«, sagte der Butler zynisch und schloss umgehend die Tür hinter sich.

»So ein Blödmann! Heute ist gar nicht sein Glückstag ... heute ist meiner!«, strahlte der Vertreter und zog ein bisschen geschwitzt aber dennoch sehr zufrieden weiter.

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