NESTOR

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IX

Kofferpacken

Am nächsten Tag klingelte es und Rául ging zur Gegensprechanlage, die praktischerweise in jedem Raum von Seldom House installiert war. Es war der Bote mit den Kleidern für Nestor Nigglepot und Lilly.

Das Mädchen war natürlich sofort zur Stelle, um zu begutachten, was sie in der nächsten Zeit wohl anziehen würde. Sie war enttäuscht. Das Gewand, ein Peplos, bestand aus nicht mehr als einer langen Stoffbahn, die ein Stück höher war, als sie selbst. Diese Art Umhang war an den beiden Schmalseiten zusammengenäht, wurde oben ungefähr 50 cm umgeschlagen und an den Schultern mit zwei Klammern, so genannten Fibeln, befestigt, damit er nicht herunterrutschte. Ein Lederriemen als Gürtel raffte das Kleid. Das war’s.

»Ich vermute, du vermisst die Unterwäsche und die Schuhe, nicht wahr?« Rául verkniff sich ein Lachen.

»Du hast es gewusst, oder?«

»Natürlich, wenn es so etwas im achtzehnten Jahrhundert noch nicht gab, dann auch nicht im vierten Jahrhundert vor Christus.«

»Super ...«, sagte Lilly leicht genervt. »Ich geh mich dann mal umziehen.«

Rául brachte die Kleidung für Nestor Nigglepot in dessen Schlafgemach und betätigte die Sprechanlage erneut. Ein Sammelruf erklang im ganzen Haus. »Sir, Ihre neuen Kleider sind eingetroffen. Ich habe sie in ihr Zimmer gebracht.«

»Danke!«, kam es aus dem Gerät heraus, in das der Butler hineingesprochen hatte. Erstaunlicherweise dauerte es auch überhaupt nicht lange und Nestor erschien in kompletter Montur in der Empfangshalle.

»Wieso trägst du Sandalen und ich nicht, Nestor Nigglepot?«, fragte Lilly neidisch und aufgebracht. »Und warum hast du noch dieses Manteltuch darüber und ich nicht? Außerdem ...«, sie fühlte an dem Gewand des Hausherrn, einem Chiton, »... sind deine Kleider aus viel feinerem und weicherem Stoff als meine. Das ist ungerecht!«

Sie drehte sich zu Rául und wollte Unterstützung haben, die sie aber nicht bekam.

»Tja, ich fürchte man konnte schon früher an der Kleidung erkennen, wer das Sagen hatte und wer nicht!« Nestor zog lässig die Schultern hoch.

»Rául! Haben sie das gehört?«

»Ja, Lilly, aber er hat recht.« Und das hatte der Butler ebenfalls. Auch wenn es Lilly noch so wenig schmeckte, sie war die Sklavin und Nestor Nigglepot ihr Herr.

»Beruhig dich, Lilly! Du kennst ihn doch«, flüsterte Rául dem Mädchen zu.

»Ich versuche es«, raunte sie mit zusammengebissenen Zähnen zurück.

»Dann sollten wir jetzt zu Sofia gehen, ich denke sie hat noch ein paar abschließende Informationen für uns«, sagte Nigglepot und machte sich auf. Die beiden folgten ihm.

»Ihr seht schick aus!«, sagte Sofia, sofort nachdem alle den Raum des Zentralcomputers betreten hatten.

»Es kratzt überall!«, meckerte Lilly, die sonst viel ertrug.

»Ich bin mir sicher, chinesische Seide fühlt sich anders an«, sagte Sofia.

»Wie hoch ist die Chance, dass Lilly sich an das Kratzen gewöhnt?«, wollte Nestor wissen.

»Genau 34,7%«, antwortete der Zentralcomputer.

»Du siehst, es könnte schlimmer kommen«, sagte Nestor in seiner überheblichen Art.

»Ich habe die letzten Informationen für euch parat, damit möglichst wenig schief gehen kann.

»Dann lass’ mal hören, Sofia!«

»Du wirst dich als Reisender von der Insel Korfu ausgeben. Lilly Foo wird, wie schon gesagt, als deine Dienerin auftreten. Die Bürger Korfus und aus Syrakus sind Nachfahren von Kolonisten der Stadt Korinth. Du bist also quasi mit allen Syrakusern verwandt, Nestor.«

»Hoffentlich wollen die nicht alle ein Mitbringsel von mir«, witzelte Nigglepot.

»Du, Lilly, wirst vorgeben, Piraten hätten dich im östlichen Meer als Kleinkind deinen Eltern geraubt und dich später in Ägypten an einen Sklavenhändler verkauft. Nestor hat dich vor ein paar Jahren auf dem Sklavenmarkt in Rachotis gekauft, und seit dem bist du seine Dienerin. Ansonsten gibst du vor, nichts weiter über deine Herkunft zu wissen«, fuhr Sofia fort.

»Rachotis? Nie gehört«, sagte Lilly.

»Im Jahre 331 v. Chr. wird Alexander der Große dort die Stadt Alexandria gründen, oder besser gesagt, Rachotis in Alexandria umbenennen«, erläuterte der Zentralcomputer.

»Vergiss das besser wieder!«, sagte Rául, »Den kannte zu eurer Reisezeit noch keiner.«

»Alles klar!« Lilly war verblüfft, an was sie alles zu denken hatte.

»Die Zeitmaschine wird in einer Höhle, nahe der heutigen Stadt Catania, auf Sizilien versteckt, bis dorthin müsst ihr euch unbedingt und möglichst unauffällig durchschlagen. Von dort sind es bis Syrakus mit dem Schiff und günstigen Winden nur ein paar Stunden.«

»Schiff? Da wird mir schlecht! Muss das sein?« Nestor Nigglepot klang plötzlich gar nicht wie ein Draufgänger.

»Auf dem Landweg müsstet ihr mindestens zwei zusätzliche Reisetage einplanen. Überlegt es euch. Vermutlich gibt es dort auch reichlich Banditen.«

»Und was ist mit Piraten?«, wollte Lilly wissen.

»Gab es damals auch, aber der Seeweg ist kurz und sehr nah an der Küste. Weiter draußen könnte das allerdings ein echtes Problem werden.«

»Wir nehmen das Schiff, oder?« Lilly schaute selbstbewusst zu Nestor Nigglepot herüber, der genervt in seinem Sessel hin und her schwang.

»Ja, ja ...«, quälte er es aus sich heraus.

»Gut, weiter! Lilly, du musst aufpassen, dass du Nestor in der Öffentlichkeit nicht widersprichst, das steht Dienern nicht zu. Wenn euch ganz sicher niemand zuhört, könnt ihr frei sprechen, sonst müsst ihr eurer Gesellschaft wirklich hundertprozentig vertrauen können. Ich würde dennoch davon abraten!«

Dann wandte sich die blaue Lichtgestalt wieder dem Hausherrn zu, der den Reinigungsgrad seiner Fingernägel überprüfte.

»Nestor, ich würde dir empfehlen, gleich zu Beginn auf dem Sklavenmarkt in Catania noch mindestens vier weitere Diener zu kaufen. Ein Mann deines Standes hatte zur damaligen Zeit selten weniger als fünf Sklaven.«

»Das ist ja besser als Zuhause!« Wenn er wollte, konnte er auch richtig gemein sein. Alle schauten ihn finster an, sogar Rául.

»Hallo? Das war ein Witz ... ich werde ihnen später die Freiheit schenken!«

»Ach, Nestor«, sagte Sofia kopfschüttelnd und fuhr fort: »Versuch’ junge Menschen zu kaufen, die noch ein paar Jahre Zukunft haben. Ich habe Rául eine Einkaufsliste gegeben, damit ihr auch die notwendige Grundausstattung vor Ort kaufen könnt.«

»Sonst noch was?«, scheinbar verging Nestor langsam die Lust an dieser Besprechung.

»Natürlich!« Der Zentralcomputer machte ein Pause. »Eure Ausrüstung, die ihr von hier mitnehmen werdet, müssen wir auch noch besprechen.«

Rául legte verschiedene Gegenstände auf den Tisch, in dem Sofia stand.

»Lilly, du bekommst diesen schwarzen Ring dort. Er müsste dir passen. Nestor, für dich ist der blaue daneben. Beide Ringe stehen immer in Verbindung. Wenn ihr auf die Steine drückt und sie dabei dreht, habt ihr sofort eine Sprechverbindung miteinander. Es reicht, wenn einer von euch drückt, dann summt der andere Ring. Passt aber auf, dass die Dinger nicht allzu nass werden, sonst gehen die Ringe kaputt.«

Lilly nahm ihren Ring und stellte fest, dass er ihr gut am linken Zeigefinger passte. »Hübsch!«, sagte sie knapp.

Nestor nahm seinen, warf ihn kurz hoch und steckte ihn dann, ohne zu überlegen, an seinen rechten Ringfinger.

»Dieser Dolch dort ist auch für dich, Nestor. Er enthält eine betäubende Substanz, die deine Gegner ein paar Stunden außer Gefecht setzt, falls es zu einem Kampf käme, von dem ich nachdrücklich abraten möchte. Ihr reist in eine ausgesprochen ungerechte Zeit. Einmal falsch gucken bedeutete allzu oft, dass nächste Sonderangebot auf dem Sklavenmarkt zu werden!«

»Ich dachte wir besuchen die Zeit der großen Philosophen«, hakte Lilly nach.

»Stimmt ja auch, aber wenn alles in Ordnung ist gibt es eher weniger zu philosophieren«, erklärte Sofia.

Das leuchtete Lilly ein.

»Deinen Desorientator wirst du diesmal hier lassen müssen, mein lieber Nestor!«

»Kommt gar nicht in Frage!«

»Das kommt sehr wohl in Frage! Stell dir vor, du aktivierst ihn und Lilly wird auch desorientisiert. Das kann fatale Folgen haben. Außerdem gab es damals keine Schmuckstücke, die dem Ding auch nur entfernt ähnlich sahen.«

»Irgendwelche andere Spielsachen?« Nestor wollte die Angelegenheit offensichtlich überspielen.

»Ja, dieses blaue Medaillon ist für dich, Lilly. Damit kannst du eine direkte Verbindung mit mir aufnehmen. Aber anders als die Ringe muss es sogar nass werden, denn es funktioniert nur eingetaucht in Gewässern, die eine Verbindung mit dem Meer haben. Also keine Brunnen oder Seen ohne Abfluss. Hast du das verstanden?«

»Ich glaube schon ...«, Lilly hatte wirklich viel zu beachten.

»Sind wir jetzt fertig?«, Nestor hielt mit seiner Langeweile nicht mehr hinter dem Berg.

»Eine Sache noch«, antwortete Sofia.

»Und die wäre?«

»Benehmt euch!« Der Zentralcomputer sah insbesondere Nestor genauer an. »Viel Glück und passt auf euch auf!«

»Danke!«, sagte Lilly, hängte ihr Medaillon um, und erhob sich gemeinsam mit den anderen.

Alle drei verließen den Geheimtrakt des Anwesens, wünschten sich in der Empfangshalle gegenseitig eine Gute Nacht und gingen auf ihre Zimmer. Um 7:30 Uhr würde Rául das Frühstück servieren und direkt im Anschluss sollte es losgehen.

Alles war durchgeplant und Lilly gut vorbereitet. Dumm war allerdings, dass sie überhaupt nicht müde war. Ihr Herz schlug mit unglaublicher Kraft und ein innerer Druck wanderte ständig zwischen Hals und Magen hin und her. Wie alle Kinder vor einer spannenden Reise, war sie fürchterlich aufgeregt. Nachdem ihr eine Million Fragen unbeantwortet durch den Kopf gegangen waren, schlief sie endlich ein und beinahe noch zu lange, hätte Rául sie nicht geweckt.

 

Weil ihr vor Müdigkeit kalt war, hing sie sich einen Bademantel über ihren Peplos und saß stumm am Tisch im Bunten Salon und aß ihr Frühstück. Lilly fragte sich, wann sie wohl wieder hier sitzen würde.

»Ich habe die Münzen schon in die Zeitmaschine gestellt, Sir!«, sagte Rául zu Nestor Nigglepot, der lustlos in sein Fladenbrot biss. »Haben sie noch anderes Gepäck, das sie gerne mitnehmen möchten?«

»Nur eine kleine Tasche. Die nehme ich gleich selber mit.«

»Und du, Lilly?«

»Ich habe alles was ich brauche, mein Ring, mein Medaillon und meine Kleidung habe ich schon an. Aber ich hätte gerne noch eine letzte Tasse Tee, bevor es losgeht.«

»Die mache ich dir ... für sie auch, Sir?«

»Ausgesprochen gerne, Rául!«

Der Tee belebte die beiden Reisenden und schon nach wenigen Schlucken war Lillys Müdigkeit besiegt und die Kälte verflogen. Wenn es nach ihr ging, konnte es jetzt losgehen.

Nestor Nigglepot schien erheblich mehr Zeit zu haben. Er saß noch, wie üblich, unrasiert in seinem Morgenrock und hatte alle Zeit der Welt. Er blätterte ausgiebig in der Zeitung herum, aber ob er wirklich las, war nicht zu erkennen. Er schien sich eher die Zeit zu vertreiben.

»Wann geht es denn los?«, wollte die Chinesin wissen.

»Wenn ich fertig bin!«, war die lakonische Antwort von Nestor Nigglepot. Lilly war fest davon überzeugt, dass er sie nur ärgern wollte.

Er faltete betont langsam seine Lektüre zusammen, streckte sich ausgiebig und erhob sich langsam.

»Dann will ich mich mal frisch machen.«

Nestor verließ den Raum und kam erst eine halbe Stunde später wieder – rasiert, geföhnt und griechisch angezogen. Über der Schulter trug er einen unscheinbaren Beutel und an seinem Gürtel steckte links der Betäubungsdolch.

»Können wir?«, fragte Nigglepot unbeteiligt.

»Endlich!«, entfuhr es Lilly, die dachte er käme nie zurück.

Gemeinsam gingen sie in das Labor, in dem Lilly im Sommer angekommen war. Die Maschine summte wieder leise vor sich hin und leuchtete hellblau.

Nestor tippte an den Tasten herum und die Türe öffnete sich mit ihrem hübschen Wuuusch.

»So, ich denke wir haben alles, oder?« Nestor schaute sich noch einmal um und betrat dann die Zeitmaschine.

Lilly wollte gerade hinterher, als sie urplötzlich stehen blieb.

»Wie sollen wir wieder zurück kommen?«, fragte sie völlig verunsichert.

»Was ist los?«, fragte Nigglepot verwirrt.

»Na, in der Höhle wird es ja wohl vermutlich keine Steckdose geben, oder?«

»Stimmt, du hast recht!« Nestor zuckte erschrocken.

Lilly ließ enttäuscht die Schultern hängen.

»Aber Energiekristalle!« Er fummelte in seiner Tasche herum und zeigte dem Mädchen einen etwa Ei-großen, grünlichen Kristall, der ganz schwach leuchtete.

»Die besten und seltesten Batterien der Welt!«, er lachte und sagte: »Komm Lilly! Bis später, Rául!«

»Alles Gute, Sir. Viel Glück und viel Spaß, Lilly! Bis gleich!«

»Bis bald, Rául« sagte das Mädchen, und ärgerte sich über ihre Naivität. Natürlich hatte Nestor Nigglepot an das Energieproblem gedacht.

Die Tür der Maschine schloss sich. Nestor und Lilly wurden in dunkelblaues Licht getaucht, und die metallische Stimme zählte rückwärts: »Vier ... drei ... zwei ... eins ... null ... Zeitvektor geöffnet!«

Plimm!

X

388 v. Chr.

Als Lilly und Nestor die Maschine verließen, traten sie in eine dunkle, aber geräumige Höhle und es war kühl. Die beiden unterhielten sich flüsternd. Die Zeitmaschine strahlte genug blaues Licht aus, sodass sie sich gut orientieren konnten.

»Wieso hat Rául Bis gleich gesagt?«

»Wenn alles gut läuft, und wir wieder in unsere Heimatzeit zurückkehren, treten wir – zumindest für Rául – im allernächsten Moment wieder aus der Maschine heraus.«

»Ob ich das mit diesen Zeitphänomenen wohl irgendwann komplett begreifen werde, Nestor Nigglepot?«

»Ganz bestimmt! Du übst ja noch«, sagte Nestor. »Aber wir sollten uns von jetzt an nur noch auf Altgriechisch unterhalten«

»Ach ja! Du hast Recht, Nestor von Korfu!«

Und fortan sprachen die beiden sehr lebendig eine tote Sprache.

Ihre erste Aufgabe war es, die Höhle nach Spuren von Menschen oder wilden Tieren zu untersuchen, aber sie fanden keine. Sofia hatte das Versteck für die Zeitmaschine gut gewählt. Nestor schloss den Energiekristall an die Maschine an, tippte wieder an dem Pult herum. Die Maschine hörte auf zu Summen und leuchtete nur noch ganz schwach.

»Stand-by, spart Strom!«, sagte er zu Lilly und suchte dann den Ausgang, der ein bisschen versteckt hinter drei Felsvorsprüngen, aber auf gleicher Höhe lag. Sie trugen schweres Gepäck, denn die beiden mussten die ganzen Münzen in robusten Lederbeuteln schleppen. Außerdem hatte der Butler ihnen einen typischen Schlauch Wasser und einen Beutel mit Fladenbrot und Dörrfleisch mitgegeben.

Als sie den Höhlenausgang erreichten, schlug ihnen die sengende Sommerhitze Siziliens entgegen.

»Hui! Damit hab’ ich aber nicht gerechnet!«, sagte Lilly und atmete tief durch den Mund.

»Tja, bei uns wird es langsam Winter. Wir hätten an Sonnenhüte denken sollen«, sagte Nestor und ergänzte: »Sonnenmilch wird es hier wohl nicht zu kaufen geben.«

»Sonnenmilch?«, fragte Lilly, denn die gab es in ihrer Heimatzeit 1921 auch noch nicht.

»Die schützt gegen Sonnenbrand.«

»Dann gehen wir halt im Schatten«, bemerkte Lilly.

»Siehst du hier irgendwo Schatten?«

In der Tat war hier wenig Schatten. Die Landschaft war geprägt vom nahegelegenen Ätna, leicht hügelig und außer zahlreichen dornigen Büschen und ein bisschen grünem Gras hier und da, war die Landschaft verdorrt. Selten sahen sie ein paar spärliche Olivenbäume.

Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es Vormittag und weit und breit keine Spur eines Weges oder einer Straße zu sehen. Nicht einmal ein Trampelpfad oder ein Wildwechsel ließ darauf deuten, dass in dieser Gegend viel los gewesen wäre.

»In welche Richtung sollen wir gehen?«

»Das haben wir gleich!« Nestor wühlte in seinem Beutel herum und kramte ein kleines Gerät von der Größe eines Mobiltelefons heraus, strich mit seinen Fingern ein paar mal darauf herum und sagte dann: »Da lang!«

Er zeigte nach Südosten, talwärts, und ging los. Das Mädchen folgte ihm hastig und schielte hinter ihm auf das Gerät.

»Was ist denn das für ein Ding?«, wollte Lilly wissen.

»Ach, nichts ... nur ein kleines Spielzeug!«

»Aber Sofia hat nicht gesagt, dass wir das mitnehmen sollen!«, stellte das Mädchen altklug fest.

»Weil sie sich immer Sorgen macht, durch moderne Technologie könnte der Zeitablauf zu sehr verändert werden.«

»Und dir ist das völlig egal?« Lilly konnte es nicht glauben.

»Ich pfeif drauf!«

»Aber sie hat doch recht!«, beharrte das Mädchen.

»Wo fängt moderne Technologie denn für dich an, Lilly?«

»Zum Beispiel damit!« Sie langte nach dem Teil, das Nestor noch immer in der Hand hielt, ihr aber nicht geben wollte.

»Schnickschnack! Wie sollen wir deinen Platon denn finden, wenn wir nicht mal wissen, wo wir lang müssen?« Nestor war sich seiner Sache sehr sicher.

»Aber, wenn das Ding den Menschen hier in die Hände fällt?«

»Können sie es nicht bedienen, weil ihnen die Schrift darauf unbekannt wäre! Es wäre für sie nur ein buntes Kästchen.«

»Na gut, Nestor von Korfu, du hast mich überzeugt.«

»Das war mir klar!«, kam es überheblich zurück, aber Nestor freute sich, das es dieses mal so schnell ging.

»Zeig’ mir das Ding doch mal, bitte!«

Nestor reichte ihr das Gerät nach hinten, denn er ging vor, immer darauf bedacht auf dem Pfad. den er sich selber suchen musste, nicht umzuknicken oder zu stolpern. Das Mädchen war, obwohl barfuß, erheblich trittsicherer als er.

Sie schaute sich das Teil an, wischte mit ihrem Zeigefinger darauf herum und es erschienen auch für sie nur unbekannte Schriftzeichen, die aber Ähnlichkeit mit den Türsymbolen im Geheimtrakt von Seldom House hatten.

»Hat das Ding auch einen Namen?«, fragte Lilly Foo.

»Das Ding ist ein Atalandor. Er kann wie ein Kompass arbeiten, rechnen, ist ein Lexikon, kann Krankheiten erkennen, im Bedarfsfall übersetzen und noch so einiges mehr. Sehr praktisch!«

»Wenn man einen Atalandor denn bedienen kann.«

»Was allerdings sehr kompliziert ist. Die Schrift und die Sprache des Geräts sind extrem schwierig zu lernen, die Mühe solltest du dir gar nicht erst machen.«

Lilly wusste, das Nestor ein Schaumschläger war, aber manchmal fand sie ihn sogar witzig.

»Auch wenn man ein Didaktafon zum Lernen benutzt?«

»Dann geht es etwas leichter... aber auch nur etwas.«

»Ja, ja ...« Lilly gab ihm den Atalandor zurück.

Sie erreichten einen kleinen Bach und Nestor folgte dem Gewässer in Fließrichtung.

»Es kann nicht mehr weit sein, bis wir die ersten Spuren menschlicher Zivilisation entdecken, sieh dich also vor«, sagte Nigglepot, der immer noch übervorsichtig führte.

»Soll ich vielleicht mal vorgehen? Wenn du hier weiter so rumeumelst, kommen wir nämlich nirgendwo an, bevor wir verbrennen!«, sagte Lilly und überholte Nestor flink.

»Hey, Moment mal!«, stutze er und gab sich Mühe den Anschluss nicht zu verlieren. »Das Wort Eumeln gibt es überhaupt nicht im Altgriechischen!«

»Jetzt schon!«

»Na, das kann ja heiter werden«, wollte er sagen und tat es natürlich auch.

Obwohl Lilly die Hauptlast des Gepäcks trug, allein deshalb, damit sie als Sklavin und Nestor als Herr nicht ungewöhnlich auffielen, legte das Mädchen ein erstaunliches Tempo vor. Erstens war sie viel jünger, zweitens hatte sie eine hervorragende Kung-Fu-Ausbildung genossen, die ihr eine hohe körperliche Sicherheit verlieh, und drittens hatte sie es ganz einfach eilig.

Hier gab es nichts zu sehen, nichts zu lernen und nichts zu erleben, und wenn sie das schwere Gepäck schnell loswerden wollte, mussten sie zeitig den Sklavenmarkt von Catania erreichen. Die neuen Kollegen würden ihr dann tragen helfen. So einfach war ihr Plan. Und Nestor Nigglepot musste ihr folgen, ob er wollte oder nicht. Auch seine plumpen Versuche das Tempo zu drosseln, scheiterten fast alle kläglich.

»Oh! Sieh mal, da ist eine Eidechse!«, zum Beispiel, wurde mit: »Davon gibt es hier hunderte!«, quittiert.

Als die ersten Ziegen in der Landschaft auftauchten verlangsamte Lilly ihren Schritt etwas, denn das deutete in der Tat auf eine nahegelegene Menschensiedlung hin.

»Können wir jetzt mal Pause machen?« Nestor schien tatsächlich erschöpft zu sein. »Ich kann bei dieser Hitze nicht so lang stramm marschieren wie du!«

»Na, gut ... dann machen wir halt eine Pause«, sagte das Mädchen, denn auch sie spürte langsam die Anstrengung. Also suchten sie in einem kleinen Olivenhain Schatten.

Schwer atmend setzte sich Nestor Nigglepot auf einen Stein und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Den Wasserschlauch, bitte!«, war das Einzige was er sagte, dann trank er bis sein Durst gestillt war.

Lilly biss in das Dörrfleisch, spuckte es aber sofort angewidert wieder aus. »Bah!«

»Gib mal her.« Er nahm einen Bissen und der schien ihm zu schmecken. »Was hast du denn?«

»Das Zeug ist total versalzen! Davon bekommt man doch noch mehr Durst.« Lilly bevorzugte das Fladenbrot.

»Ach was! Das schmeckt so ähnlich wie gegrillte Bücklinge!«

»Aber das Wasser wird gerecht geteilt!« Darauf bestand Lilly vehement.

»Nöö!«, entgegnete Nigglepot gelangweilt.

»Aber der Wasserschlauch ist irgendwann auch mal leer!«

»Und was ist mit diesem hübschen, kleinen, sprudelnden Bach dort?« Er zeigt auf den Bachlauf, dem sie schon seit dem Verlassen der Höhle gefolgt waren.

Manchmal war Nestor Nigglepot allerdings wirklich zu gebrauchen. Lilly stand auf und kostete aus der hohlen Hand das Wasser. Es schmeckte muffig durch den Schwefel des nahen Vulkans, war aber genießbar, kühl und herrlich erfrischend.

Sie stellte sich mit den Füßen in den Bach, bis die Haut anfing zu kribbeln. Dann schüttelte sie sich kurz, schnappte den Wasserschlauch und füllte ihn wieder auf.

 

»Dann können wir ja jetzt weiter!«

»Das war doch keine Pause!« Nestor packte hastig seine Sachen und grunzte: »Das war maximal ein Päuschen!«

Das Gelände wurde immer flacher. Die zahlreichen Baumstümpfe zeigten, dass hier ganze Wälder gerodet worden waren und es dauerte nicht lange, bis Lilly und Nestor auf einen einigermaßen befestigten, zumindest aber ausgetretenen Pfad stießen. Sie folgten diesem Weg, bis er sie hinter einem letzten Hügel zu einem Dorf führte.

Lilly schaute Nestor fragend an.

»Ja, meine Liebe, es wird ernst. Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, halt einfach deinen Mund.«

»Wie nett von dir, Nestor von Korfu!«

Es war mittlerweile Nachmittag geworden und noch heißer, als bei ihrer Ankunft. Um nicht aufzufallen, gingen sie zügig auf die wenigen Häuser zu. Sie waren schmucklos und grob gemauert, niedrig und mit flachen Dächern versehen. Die wenigen Fenster waren mit Holzläden verschlossen. Stimmen oder Geräusche waren nicht zu hören.

»Meinst du, das Dorf ist verlassen?« fragte Lilly.

»Quatsch! Die machen Siesta, nur Verrückte marschieren bei dieser Hitze um ihr Leben.«

Sie erreichten das erste Gebäude und Nestor ging völlig selbstverständlich auf die Türe zu und klopfte laut an, eine Antwort kam aber nicht.

»Vielleicht ist das Dorf doch verlassen«, sagte das Mädchen.

»Ich versuch’s nochmal!« Diesmal klopfte er so stark, dass die schlecht gezimmerte Tür in ihren Angeln wackelte.

»Verdammt und zugenäht!«, rief es von drinnen und scheinbar bemühte sich jemand stöhnend zur Tür, die sich ruckartig nach innen öffnete.

»Was willst du?«, krächzte ein altes Mütterchen, das Mühe hatte gegen das blendende Sonnenlicht die Besucher zu erkennen. Sie blinzelte, hielt sich dann die flache Hand als Sonnenschutz an die Stirn und fuhr sofort zusammen.

»Verzeiht, Herr!«, flehte die alte Frau. »Ich dachte, ihr wäret mein verrückter Schwager. Der hat mich heute schon zigmal aufgescheucht.«

»Du täuschst dich, Weib!«, sagte Nestor mit einer für Lilly völlig unerwarteten Souveränität. »Wir werden dich nur dieses eine Mal aufscheuchen, denn wir benötigen Hüte, um uns gegen die Sonne zu schützen.«

»Hüte, Herr?« Die Omi starrte ihn ungläubig an.

»Ja, Hüte! Die Sonne brennt und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Sieht das hier etwa wie ein Hutladen aus? Wo wollt ihr denn überhaupt hin?«, krächzte die Frau.

»Gute Frau, wir bekommen einen Sonnenstich, wenn wir uns nicht schützen. Als wir uns auf den Weg machten, war das Wetter schlecht, darum haben wir unsere Hüte vergessen. Wollt ihr uns nicht helfen?«, mischte sich Lilly ein, fest davon überzeugt, dass Freundlichkeit immer weiterhilft.

»Das Wetter war schlecht, als ihr aufgebrochen seid? Wann soll denn das gewesen sein, im Winter? Hier scheint immer die Sonne!« Die alte Frau misstraute den Wanderern.

»Wir kommen von weit her, Mütterchen! Und nun mach hin und bummle nicht, wir sind in Eile. Es soll dein Schaden nicht sein!«

Die Frau tat einen Schritt vor die Tür und brüllte so laut sie konnte: »Perikles!«, dann wandte sie sich wieder Nestor Nigglepot zu: »Es dauert nur einen Moment, Herr!«

Ihr Lächeln offenbarte zahlreiche Lücken im Gebiss.

»Peeeeerikles!«, schrie sie wieder, lächelte und brüllte dann: »Beeil dich, du fauler Sack!«

»Wer ist Perikles?«, wollte Lilly wissen.

»Mein Schwager.«, antwortete die alte Frau, ohne das Mädchen auch nur anzusehen, stattdessen lächelte sie mit schrägem Kopf, hin und wieder freundlich nickend, Nestor an – und zwar so lange bis Perikles endlich auftauchte.

Nestor betrachtete die Frau immer wieder mal beiläufig und tat was er am besten konnte: hochnäsig wirken.

Als Perikles endlich auftauchte schienen alle aufzuatmen.

»Gib dem Herrn da deinen Hut!« befahl die Alte.

»Warum?«, wollte Perikles wissen.

»Weil ich es sage. Basta!«

»Verrücktes Weib«, grummelte Perikles, gab Nestor seinen Hut und starrte die Zeitreisenden mit offenem Mund an.

»Und jetzt verzieh dich wieder oder gibt es hier was zu glotzen?«, fuhr seine Schwägerin ihn erneut an.

»Schon gut, reg dich wieder ab!« Und Perikles machte kehrt und drehte sich auf seinem Rückweg noch mehrmals gaffend zu den merkwürdigen Besuchern um.

»Einen Obolos, bitte, Herr!« sie hielt die Hand auf.

»Lilly ...«, sagte Nestor, um ihr zu bedeuten, dass sie die alte Frau bezahlen möge.

»Ja ... und was ist mit einem Hut für mich?«, war Lillys Deutung der Situation.

»Das gelbe Kind soll auch einen Hut bekommen?«, fragte die Alte völlig überrascht.

»Ja, Weib!« Nestor schlug einen Befehlston an.

»Sehr wohl, Herr!« sie verbeugte sich, spuckte Lilly vor die Füße und verschwand leise fluchend im Haus und kehrte wenig später mit einem weiteren Hut in der Hand zurück.

»Ich habe aber nur den einen! Der ist teurer als der andere.«

»Wie viel?«, fragte Lilly trocken.

»Zusammen vier Oboloi!«

Lilly wühlte in einem Geldsack und gab ihr irgendeine kleine Münze, weil sie nicht wusste, wie ein Obolos aussah.

»Habt ihr es nicht passend?«

»Stimmt so, der Rest ist für Dich!«, sagte Nestor.

»Danke, Herr! Habt vielen Dank! Mögen die Götter euren Weg beschützen!« Sie macht zahlreiche Verbeugungen.

»Sag Mütterchen, wie weit ist es noch bis Catania?«

»Ach, ihr seid jung! Vielleicht drei oder vier Stunden, ihr werdet schnell da sein!« Dann bedankte sie sich wieder wortreich und verbeugte sich, bis sie außer Sichtweite waren.

»Ich glaube, die mochte mich nicht«, sagte Lilly, als sie ihren müffelnden Hut aufsetzte.

»Sie hat Angst vor dir«, erklärte Nestor.

Auf ihrem Weg durchs Dorf tauchten jetzt verstohlen blickende Augen in verschiedenen Fenstern auf, die betrachteten, was sich dort abgespielt hatte.

»Wir sind in einem Dorf im Jahr 388 v. Chr., die Menschen hier haben Angst vor Sachen, die sie nicht kennen. Und kleine gelbe Mädchen mit Schlitzaugen könnten schließlich auch Dämonen sein«, fuhr Nestor fort.

»Ich glaube, die Omi gerade war ein Dämon. So ein böses Biest!« Lilly verzog den Mund und Nestor musste lachen.

Die Gegend wurde immer urbarer. Getreidefelder tauchten auf, Hirten saßen dösend im Olivenschatten und ab und zu ergänzten Weinfelder die Landschaft. Sie erreichten eine Straße, der sie weiter folgten. Hin und wieder überholte sie ein Reiter. Die wenigen Eselskarren waren langsamer als Nestor und Lilly. Ansonsten war wenig Betriebsamkeit zu spüren, bis es langsam dunkel wurde und sich am Horizont das glitzernde Mittelmeer und Häuser einer Stadt mit beleuchteten Fenstern zeigten.

»Wir müssen uns eine Herberge suchen. Ich bin müde!«, sagte Nestor.

»Ich auch.« Lillys Feuereifer zu Beginn der Wanderung war inzwischen verflogen.