NESTOR

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VII

Mifun

Seit Lilly bei Rául und Nestor Nigglepot lebte, hatten sich die Frühstücksgewohnheiten in Seldom House geändert. Jeder hatte eine andere Vorstellung davon, wie ein vernünftiges Frühstück auszusehen hatte. Aber Rául machte keinerlei Anzeichen, dass ihn die zweifellos umfangreichen Vorbereitungen irgendwie störten. Klaglos bereitete er dem Hausherrn jeden Morgen ein typisches Englisches Frühstück, bestehend aus Toast, Orangenmarmelade, Spiegelei mit Speck, gebratenen Würstchen, gebackenen Bohnen und gegrillten Bücklingen. Gelegentlich reichte er auch noch Haferschleim dazu. Der Anblick dieser merkwürdigen Zusammenstellung von Frühstücksbestandteilen ließ Lilly jeden Morgen zusammenzucken.

Rául bevorzugte die klassische französische Version des Frühstücks: einen Kaffee mit viel Milch und ein Croissant.

»Also ehrlich, Lilly, wie kannst du das nur essen?«, schüttelte es Nestor Nigglepot. »Nudelsuppe zum Frühstück?« Er freute sich darüber, dass Lilly sich damit jeden Morgen ärgern ließ.

»Mifun ist ein traditionelles Chinesisches Frühstück, Nestor Nigglepot und wird von über einer Milliarde Menschen jeden Morgen gegessen. Und überhaupt, wenn hier etwas fies ist, dann deine miefigen Bücklinge!«

Ein kurzes Lächeln huschte über Ráuls Gesicht, bevor er sagte: »Ab morgen werde ich übrigens nur noch altgriechische Gerichte servieren, damit den Herrschaften die Umstellung erleichtert wird.«

»Du wirst es lieben, Lilly!« Nestor verdrehte die Augen. Scheinbar hatte er dem gestrigen Gespräch tatsächlich nicht allzu viel Bedeutung beigemessen.

»Was gibt es denn morgen Gutes?«, fragte Lilly.

»Erbsenbrei, Bohnenbrei, trocken gebratenen Hammel, Ziegenfleisch, Fladenbrot, Eierspeisen, Oliven, Zwiebeln, rohes Gemüse, Obst und Fisch natürlich, aber ungeräuchert.« Rául sah die missbilligenden Blicke der beiden. »Es könnte schlimmer kommen.«

»Mifun?« Nestor lachte hämisch Lilly an. »Nach dem Frühstück solltest du gleich mit Rául zum Fremdsprachenunterricht gehen. Ich bin bei Sofia, wenn ihr mich suchen solltet.«

Lilly guckte Nestor giftig an, freute sich aber im Stillen, dass er tatsächlich zum Scherzen aufgelegt war, also konnte seine Laune in der Tat nicht so schlimm sein, wie sie befürchtet hatte. Außerdem war es ungewöhnlich, dass der Hausherr sich in die Karten blicken ließ. Zum ersten Mal hatte er etwas über seinen Verbleib geäußert.

Wie üblich kümmerten sich der Butler und das Mädchen darum, den Bunten Salon aufzuräumen und Rául begann zu erklären.

»Griechisch und Phönizisch sind zwei Sprachen, die damals mehr oder weniger gleichwertig auf Sizilien gesprochen wurden.«

»Warum reisen wir denn eigentlich nicht nach Griechenland, sondern nach Sizilien?« Lilly wusste, dass die Insel Sizilien zu Italien gehörte.

»Weil es Griechenland damals noch nicht gab. Vor 2.500 Jahren waren Staaten in ihrer heutigen Form ausgesprochen selten. Es gab immer wieder Ausnahmen, die aber meist nach einer kurzen Blüte wieder in Klein- oder Stadtstaaten zerfielen. Große Länder, die es heute noch gibt, wie Persien, Ägypten und China gehören zu den wenigen Ausnahmen.«

»China! Ich sag es ja immer wieder« entgegnete Lilly stolz und Rául sah sie bestätigend an.

»Griechenland zum Beispiel, war nicht viel mehr als eine lockere Gruppierung von Städten, die eine gemeinsame Kultur, Religion und Sprache miteinander verband«, fuhr Rául fort.

»Und warum haben diese Städte Kriege gegeneinander geführt?« Lilly hatte sich in den letzten Tagen natürlich auch über die Geschichte der antiken Griechen schlau gemacht.

»Versuch gar nicht erst zu verstehen, warum«, sagte der Butler. »Wie auch immer, Griechische Siedlungen gab es fast überall am Mittelmeer, und eine der größten und wichtigsten war Syrakus auf Sizilien. Zur Zeit von Platon gab es dort auch viele karthagische Ortschaften, in denen eine Form der Phönizischen Sprache gesprochen wurde. Griechisch und Phönizisch waren damals so etwas wie Englisch und Spanisch heute.«

»Und Chinesisch!«, fuhr Lilly dazwischen.

»Ja, und Chinesisch ... Weltsprachen eben. Griechisch ist eine indoeuropäische Sprache, zu denen auch Englisch gehört. Phönizisch gehört zu den Semitischen Sprachen, aus denen sich ,zum Beispiel das heutige Arabisch und Hebräisch, entwickelt haben. Wir haben es also mit zwei völlig unterschiedlichen Sprachen zu tun und eine gute Sklavin aus damaliger Zeit, die einem Herrn von hohem Rang gehörte, beherrschte eben Griechisch und Phönizisch.«

»Und ich soll innerhalb von drei Tagen beide Sprachen lernen? Ich traue mir ja viel zu ... aber Rául, das können sie nicht von mir erwarten.«

»Mach dir keine Sorgen. Mit dem Didaktafon geht das viel schneller, als du glaubst«, erklärte er und schaltete die Spülmaschine ein. Er blickte sich um und als er sah, dass alles erledigt war, sagte der Butler: »Dann wollen wir mal!«, und machte sich auf Richtung Empfangshalle.

»Warum musste ich denn Lesen so mühselig lernen, wenn das mit dem Didaktadings so schnell geht?«

»Weil das mit einem Didaktafon erlernte Wissen innerhalb von ungefähr vier Wochen wieder verpufft.«

»Es verpufft?«

»Ja, denn es fehlt die Verknüpfung. Nur Wissen, dass sich durch echte Erfahrung bildet und entsprechend verknüpft, bleibt auch dauerhaft erhalten.«

»Wie lange dauert unsere Reise denn?«, fragte Lilly.

»Das kommt ganz darauf an. Wir wissen ja nur ungefähr, wo Platon wann war. Ihr könnt da mal eben hinhopsen und direkt wieder zurück kommen oder es dauert einige Zeit, bis ihr das erreicht habt, was ihr euch wirklich vorgenommen habt«, antwortete Rául.

»Na ja ... jetzt will ich Platon aber auch treffen.«

»Dann werdet ihr sicherlich ein paar Tage dort bleiben müssen. Ihr kennt ja niemand dort, der euch helfen könnte! Als Erstes müssen bei solchen Missionen immer Verbindungen zu anderen Menschen aufgebaut werden, die vertrauenswürdig sind. Das kann schon mal ein bisschen dauern.«

»Und wenn die Reise länger, als vier Wochen dauert?«

»Dann hast du hoffentlich genug eigene Spracherfahrung gesammelt, dass sich dein gelerntes Wissen nicht komplett verflüchtigt. Du wirst durch das Didaktafon die Sprachen komplett fließend beherrschen. Wenn du innerhalb der vier Wochen kein einziges Mal die Sprachen nutzt, ist alles wieder weg und du verstehst nur noch Bahnhof, wenn dich jemand anspricht.«

Lilly starrte den Butler an.

»Aber wenn du regen Gebrauch von Deinem Wissen machst, werden Verknüpfungen in Deinem Gehirn aufgebaut, die nicht vergänglich sind.«

»Vier Wochen ...« Lilly kratzte sich am Kopf.

»Mach dich nicht verrückt. So lange seid ihr ganz bestimmt nicht weg.« Sie erreichten die Geheimtür und gingen die Treppe hinunter. Rául steuerte die zweite Tür auf der linken Seite des Gangs an.

Er berührte das blau leuchtende Symbol, das aus vier Dreiecken bestand, die so angeordnet waren, dass sie ein weiteres großes Dreieck formten. Das Symbol leuchtete noch heller auf und kurz darauf verschwand die Tür, genauso wie die Tür zu Sofias Raum.

Auch hier befanden sich die metallischen Halbkugeln überall an der Wand, aber es gab nur einen schwarzen Sessel in der Mitte des Raums. Direkt daneben stand eine tischförmige Apparatur mit einem Bildschirm, der nur aus einer durchsichtigen Glasscheibe bestand. Vom Tisch stieg ein biegsamer Schlauch auf, der dorthin zielte, wo der Kopf des auf dem Sessel sitzenden Menschen wäre. Der Raum selber war erheblich kleiner als der des Zentralcomputers, ansonsten glichen sich die Räume durch und durch. Der Butler ging auf den Bildschirm zu.

»Setz dich schon mal hin und versuch’ nicht nervös zu sein. Es wird nicht wehtun. Ein Didaktafon ist völlig harmlos.«

Lilly dachte unweigerlich an einen Zahnarzt, und weil sie nur Zahnärzte aus dem Jahr 1921 kannte, war sie in der Tat nervös, denn die taten ausgesprochen weh. In ihrer Zeit gab es selten Betäubungsmittel, sondern meist gute Worte – so wie jetzt. Sie nahm widerwillig Platz und wartete auf Schmerzen, zumindest aber auf irgendetwas sehr Unangenehmes.

Rául richtete den Schlauch so aus, dass er genau zwischen ihre Augenbrauen zielte, sie aber nicht berührte. Dann tippte er auf dem durchsichtigen Bildschirm herum, der verschiedene Symbole in der unbekannten Schrift darstellte.

»Am besten du machst die Augen zu, sonst wird es zu hell«, sagte der Butler und berührte ein letztes Mal den Bildschirm.

Was dann geschah, war für Lilly eine ganz und gar unbekannte und unvergleichliche Erfahrung. Es war, als würde sich alles um sie herum in selbstleuchtende Substanzen verwandeln, ähnlich der Erscheinung von Sofia, und das, obwohl sie die Augen geschlossen hatte. Geräusche nahm sie überhaupt nicht mehr wahr und ihr Gefühl für oben und unten ging verloren. Das blaue Licht wirbelte im Uhrzeigersinn um ihren Kopf, wurde stetig langsamer und suchte dann den Weg in sie hinein, wie Wasser aus einem Sieb läuft, nur umgekehrt. Und jeder Lichttropfen schien ein Wort zu sein, je mehr Licht sich in ihr sammelte, desto mehr Sätze formten sich in ihrem Kopf, zuerst ganz einfache wie: Ich bin Lilly – auf altgriechisch.

Die Kombinationen wurden komplizierter und nach einer Weile, die Lilly unmöglich in Minuten oder Stunden benennen konnte, schien es ihr, als wäre Griechisch ihre Muttersprache. Sie öffnete wie vom Blitz gerührt die Augen.

»Und jetzt?«

»Das war alles«, antwortete Rául.

»Wie, das war alles? Wie lang hat das denn gedauert?«

»Vier, vielleicht fünf Sekunden. Können wir dann jetzt mit Phönizisch weiter machen?«

»Na klar!«

Rául tippte wieder und eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden, fünf Sekunden später war Phönizisch für Lilly die normalste Sprache der Welt.

 

»Das ist ja echt der Oberhammer! Das ist unglaublich ... ich will noch mehr ... Kann ich noch mehr lernen? Bitte Rául! Das ist so was von super! Ach, bitte!«

»Lilly! Du würdest es vergessen, wenn du das Wissen nicht benutzen kannst.«

»Was ist mit Sachen, von denen ich schon ein bisschen was weiß und es auch benutzen kann?«

»Das würde vermutlich funktionieren.«

»Kung-Fu!«, schoss es aus ihr heraus. »Ich will noch mehr Kung-Fu lernen. Kann mir das Didaktafon noch besseres Kung-Fu beibringen? Rául ... bitte, darf ich? Bitte! Das kann ich doch bestimmt gut gebrauchen bei den alten Griechen!«

»Ich weiß nicht recht ...«, sagte der Butler unsicher.

»Nestor Nigglepot hat bestimmt nichts dagegen, und außerdem kann ich doch schon ganz gut Kung-Fu! Oh, bitte!«

Der Butler grübelte, denn er hatte nur die Anweisung ihr zwei Sprachen beizubringen. »Einverstanden. Aber du versprichst mir, diese Kampfkunst wirklich nur im Notfall anzuwenden und nur gegen Menschen, die stärker sind als du. Haben wir uns verstanden?« Rául war sich sicher, dass Lilly sowieso ein sehr gut ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden hatte, aber er wollte auf die Ermahnung nicht verzichten.

»Ich verspreche es! Wirklich! Ich schwöre! Worauf soll ich schwören, Rául?«

»Dein Versprechen reicht mir. Lehn’ dich wieder an!«, sagte er und tippte erneut auf dem Bildschirm herum. Diesmal dauerte es etwas länger. Lilly machte sich schon Sorgen, er hätte es sich anders überlegt, aber dann wurde ihr klar, dass Rául auf Griechisch und Phönizisch vorbereitet gewesen war. Ein Kung-Fu- Lernprogramm musste er scheinbar erst in der Maschine suchen. Dann ging es los.

Dieses Mal strömten nur wenige Worte und Sätze in sie hinein, stattdessen Bewegungsabläufe und Situationen, die passende Reaktionen hervorriefen. In ihrem Kopf wirbelte alles herum, aber auch diese Lektion endete schlagartig.

Lilly Foo war nun vermutlich die gefährlichste zehnjährige Kung-Fu-Kämpferin der Welt. Mit Technik allein würde sie nicht mehr zu bezwingen sein, sondern nur in Verbindung mit mehr Kraft, als sie selbst hatte.

Sie stand ein bisschen benommen vom Sessel auf, ging in die Kung-Fu-Grundposition und spannte jeden Muskel an. Dann entspannte sie sich wieder, betrachtete ihre Beine, Arme und Hände und sagte: »Wow!«

Dann ließ sie sich wieder in den Sessel fallen und gähnte aus vollem Herzen. Sie konnte kaum damit aufhören.

»Was ist los mit mir?«, quälte sie zwischen der Gähnerei heraus. »Ich bin fürchterlich müde.«

»Dein Kopf muss Schulstoff von mehreren Jahren verarbeiten, du hast bis zum schwarzen Gürtel trainiert und wunderst dich, dass du jetzt müde bist?«

Lilly konnte nicht antworten, sie schlief schon. Rául trug sie in ihr Zimmer im ersten Stockwerk und erst am nächsten Mittag wachte sie wieder auf.

Als sie die Augen öffnete, dachte sie zuerst, sie hätte das mit dem Didaktafon nur geträumt. Aber das war leicht zu überprüfen. Sie überlegte etwas auf Altgriechisch, dann zählte sie auf Phönizisch bis zehn. Beides klappte einwandfrei. Ihr letzter Test war ein spontaner Sprung aus liegender Position über die Bettkante direkt in den Stand.

»Perfekt!«, dachte sie, wusch sich in ihrem Badezimmer, zog einen frischen Kung-Fu-Anzug an und machte sich auf die Suche nach Rául und Nestor Nigglepot. Sie fand beide im Weißen Salon und sie sortierten Geld.

»Ich hab’ gewusst, dass du reich bist, Nestor Nigglepot, aber das da«, sie zeigte auf den Geldberg, der mitten auf dem Tisch lag, »ist sehr, sehr, sehr viel Geld!«

»Na ja, wir wollen mal nicht Übertreiben, aber ... ja ... es ist verdammt viel Geld ... und es ist unglaublich wertvoll. Viele dieser Münzen sind so selten, dass ihr heutiger Wert den ursprünglichen um ein vieltausendfaches Übersteigt. Jeder Münzsammler der ein bisschen was auf sich hält, würde bei diesem Anblick vor Freude heulen!«, sagte Nestor Nigglepot. Zurückhaltung war scheinbar ein unbekanntes Wort für ihn.

»Guten Morgen, Lilly!«, sagte Rául, »Was macht dein Griechisch?«

»AΦΘOPIA!«, strahlte sie. »Was macht ihr da?«

»Wir brauchen Geld ...«, sagte Nestor Nigglepot gelangweilt und sortierte, ohne zu ihr aufzuschauen, weiter.

»Zu viel Geld verdirbt den Charakter«, sagte Lilly altklug.

»Ihr braucht das richtige Geld«, ergänzte der Butler. »In der Antike hat fast jede Stadt ihre eigenen Münzen geprägt. Wir suchen Münzen aus Syrakus oder der Mutterstadt Korinth, die zeitlich auch wirklich passen. Stell dir vor, ihr würdet mit Münzen bezahlen, die dort niemand kennt«, erklärte er weiter.

»Was wäre denn dann?«

»Wir würden mächtig viel Ärger bekommen – das wäre! Falschmünzerei war auch damals schon sehr unbeliebt!« Nestor liebte auch die kleinen Triumphe. »Von wegen, zu viel Geld verdirbt den Charakter ... genug Geld erspart uns die Sklaverei!«

»Dir vielleicht, Nestor Nigglepot!«, stellte die Chinesin fest und spielte auf ihre Rolle als seine Sklavin an.

»Pass auf, die mit der Eule drauf können wir nicht gebrauchen, die kommen aus Athen und das war eine Feindesstadt. Wir suchen die mit dem Kopf der Nymphe Arethusa auf der einen und mit einem Streitwagen auf der anderen Seite. Und zu alt sollten sie auch nicht aussehen. Damals waren die Münzen ja noch neu«, sagte Rául, der natürlich schon einen viel größeren Haufen mit richtigen Münzen vor sich liegen hatte als Nestor Nigglepot.

»Du kannst dich auf meinen Platz setzen, ich gehe dir was zu Essen machen, Lilly!«

»Danke, Rául!«

Der Butler verschwand und Lilly betrachtete die Münzen genauer. Sie waren aus Silber, klein und alle wirkten schlecht geprägt, aber vermutlich nicht, weil sie so alt waren, sondern weil das damals nicht besser ging.

»Wie viel brauchen wir denn?« Lilly klaubte eine Hand voll Münzen aus dem großen Haufen und begann zu sortieren.

»Je mehr, desto besser«, sagte Nestor Nigglepot. »In der Schatzkammer hab’ ich nochmal so viel, aber mehr konnten wir vorhin nicht tragen. Münzgeld ist echt so was von unpraktisch.«

»Ich glaube, ich will gar nicht wissen, wo du das ganze Geld her hast, Nestor Nigglepot.«

»Stell dich mal nicht so an. Ohne meine geschickten finanziellen Transaktionen, könnten wir unmöglich nach Griechenland reisen, weil wir nämlich gar kein Geld hätten. So!«

Nach einer Weile hatte Lilly schon viele passende Münzen beiseite gelegt, Nestors Eifer noch mehr nachgelassen und Rául eine typisch altgriechische Mahlzeit für Lilly zubereitet, die jetzt eine appetitliche Knoblauchfahne durch den Weißen Salon trieb.

»Riecht aber ganz gut – wie gegrillt«, stellte Lilly fest.

»Ja ... es geht eigentlich, nur die Erbsenpampe ist gewöhnungsbedürftig. Sieht ganz klar aus, wie schon mal gegessen«, nörgelte Nestor Nigglepot.

»Danke, Rául«, sagte das Mädchen und machte sich über das Essen her. Die Erbsenpampe schmeckte süßlich.

Der Butler setzte sich wieder an den Tisch und sortierte gemeinsam mit Lilly Münzen. Nestor zog es vor, den beiden bei ihrer Tätigkeit zuzuschauen. Echte Arbeit schien keine Erfindung der Firma Nigglepot gewesen zu sein. Lilly blickte erst zu Nestor und dann zu Rául, der sie freundlich anlächelte. Er hätte auch sagen können: »Finde dich damit ab.«

Aber das tat Lilly nicht, sondern verschränkte die Arme und erklärte trotzig, sie würde erst weitermachen, wenn Nestor Nigglepot sich an der Arbeit beteilige. Rául war verblüfft, als sich der Hausherr erhob und feierlich erklärte: »Na, dann werde ich wohl mal Nachschub aus der Schatzkammer holen!«, und dann gemächlichen Schrittes den Weißen Salon verließ.

»Du hast Mut, junge Dame!«

»Einer muss ihm ja mal sagen, dass man schneller vorankommt, wenn alle zusammenarbeiten. Warum machen Sie das nicht mal, Rául!«

»Ich wurde so erzogen und als Butler ist es meine Aufgabe, die Wünsche des Hausherrn zu erfüllen und nicht ihn zum Arbeiten anzuhalten.«

»Wer wird denn zum Butler erzogen?«

»Nicht zum Butler ... aber als ich Kind war, gingen die Uhren anders als heute – und auch anders als 1921. Ich habe mich einfach dafür entschieden ... mit der Zeit.«

VIII

Rául

Als Nigglepot schwer beladen zurückkam, waren Rául und Lilly schon lange fertig mit der ersten Fuhre alter Münzen. Er schüttete vier ziemlich große Säcke mit weiteren Geldstücken auf den Tisch.

»Wenn die hier sortiert sind, müsste es reichen«, dann sagte Nestor »Puh!«, wischte sich theatralisch die Stirn mit dem Handrücken und schloss mit den Worten: »Schafft ihr das auch ohne mich?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ er wieder den Raum und war für den Rest des Tages nicht mehr zu sehen.

»Wie haben sie Nestor Nigglepot eigentlich kennengelernt, Rául?«, fragte das Mädchen.

»So ähnlich wie du ... durch Zufall.«

»Haben sie es jemals bereut?«

»Na ja, manchmal kann es schon sehr anstrengend sein für ihn zu arbeiten, aber bereut? Ganz sicher nicht!« Rául überlegte. »Eigentlich hatte ich sehr großes Glück!«

»Warum?«

»Ich wurde zu einer Zeit geboren, als Europa im Umbruch war. Meine Eltern habe ich während der Französischen Revolution verloren. Ich weiß nicht, ob sie gestorben sind oder nur in den Wirren von mir getrennt wurden.«

Lilly schaute ihn mitleidsvoll an, weil sie den Butler beobachtete, der ohne aufzuschauen in den Münzhaufen wühlte.

»Fest steht, dass ich sie viele Wochen gesucht aber nicht gefunden habe. Meine Eltern waren der Marquis und die Marquise de Castellane, also hatten sie, wie alle Adeligen zu dieser Zeit, nichts zu Lachen ... und ich auch nicht. Ich war zwar erst acht Jahre alt, aber meine Kleidung zeigte allen Leuten, das ich ein Kind der Leute war, die das Volk loswerden wollte. Also musste ich mich die meiste Zeit irgendwo verstecken.«

»Verstecken?«

»Nichtadelige Franzosen haben sich gegen die herrschende Klasse zur Wehr gesetzt ... und häufig mit Gewalt. Ganz egal ,ob Mann, Frau oder Kind.«

»Aber, sie sind offensichtlich entkommen.«

»Ja, tagsüber habe ich oft in abgelegenen Schuppen geschlafen und mir nachts auf Feldern und in Bauernhäusern etwas zu essen geklaut.«

»Wurden sie denn nie erwischt?«

»Oh doch, ziemlich oft! Einmal hat mir ein Bauer sogar mit der Mistgabel in den Hintern gestochen. Ich hatte Glück, dass sich nichts entzündet hat. Stehlen und unauffällig sein, war ursprünglich nicht Teil meiner Erziehung.«

»Hat sicher weh getan, oder?«

»Allerdings, aber was noch schlimmer war, mein Hose war hintenrum total kaputt ... und ich hatte doch nur diese eine. Also musste ich mir bei nächster Gelegenheit auch noch eine neue Hose klauen.«

»Wie peinlich«, stellte Lilly leicht amüsiert fest.

»Und vor allem schwierig, denn die meisten Menschen hatten damals auch nur eine oder zwei Hosen, die nur ausgesprochen selten gewaschen wurden und mit denen sie oft auch noch schlafen gingen.«

»Das ist ja eklig!«

»Ja, aber damals habe ich gar nicht darüber nachgedacht. In der Tat wurden Sauberkeit und Waschen im 18. Jahrhundert nicht so ernst genommen wie heute. Mir war es am wichtigsten satt zu werden und mein blankes Hinterteil zu verbergen.«

»Konnten sie denn eine neue Hose auftreiben?«

»Allerdings, aber erst nach drei Wochen! Zum Glück war es Sommer und auch damals zogen die Kinder zum Schwimmen im See ihre Kleidung aus. Das war meine Chance, und die habe ich in einem unbeobachteten Moment genutzt.«

»Da wird sich aber einer ganz schön geärgert haben«, grinste Lilly, die sich nur schwer vorstellen konnte, das dieser sehr korrekte Mensch, der sich scheinbar ständig unter Kontrolle hatte, wochenlang mit nacktem Hintern quer durch Frankreich gelaufen ist.

»Ich vermute es! Aber ich habe nicht auf die Reaktion gewartet. In jedem Fall habe ich gleich die ganze Montur genommen, also Hose und Hemd.«

»Keine Schuhe?«

»Wo denkst du hin? Schuhe für Kinder auf dem Land? Absolut unnormal!«

»Und die Unterwäsche?«

»Neuzeitlicher Kram.«

Rául konnte an Lillys Gesicht erkennen, dass sie sich ernsthaft fragte, ob er noch immer keine Unterwäsche trug.

»Zwischenzeitlich habe ich mich daran gewöhnt.«

Lilly atmete tief durch.

»Also, ich bin so schnell fortgelaufen wie ich konnte, habe mich dann irgendwo im Gebüsch versteckt und umgezogen. Das war gut, denn als normaler Bauersjunge hatte ich nicht immer sofort den Zorn der Bevölkerung zu befürchten.«

 

»Und dann?«

»Hab ich natürlich doch immer wieder Ärger bekommen, denn sobald ich meinen Mund aufgemacht habe, merkten alle sofort: der ist keiner von uns!«

»Aber wie haben sie dann Nestor Nigglepot kennengelernt?«, fragte die Chinesin.

»Irgendwann habe ich mich in einer der Höhlen von Savonnières versteckt, die nicht weit weg von Schloss Villandry liegen, wo ich groß geworden bin. Na ja, und da habe ich die Zeitmaschine von Nestor Nigglepot entdeckt ... und er mich.«

»Wollte er sie zuerst auch loswerden?«, Lilly nahm sich einen weiteren Schwung Münzen vor.

»Nein. Aber ich hatte fürchterliche Angst vor ihm. Maschinen waren für mich doch etwas völlig Unbekanntes. Er war so schick wie immer, mit seiner leicht übertriebenen Art und ich war ein kleiner Junge, total verdreckt, völlig verängstigt und trug Kleidung, die mir viel zu groß war.« Der Butler nippte an seinem Tee und fuhr fort: »Wir haben uns unterhalten, nachdem er mir, für mich einigermaßen glaubhaft, versichert hat, er wäre kein böser Geist. Darauf hin erzählte ich ihm, was mir widerfahren war und er hatte Mitleid. Er bot mir eine bessere Zukunft an und ich habe dieses Angebot zum Glück nicht ausgeschlagen.«

»Mitleid?«, fragte Lilly.

»Ja, Mitleid.«

Es war für das chinesische Mädchen wirklich nicht leicht, aus Nestor Nigglepot schlau zu werden. Sie wusste, dass er nerven konnte, dass er oft nörgelte, sich offensichtlich gerne vor der Arbeit drückte und unglaublich eingebildet war. Aber sie wusste nicht, warum er sein gutes Herz so gerne versteckte.

»Für mich war der Schock in diese Zeit zu geraten vermutlich noch schlimmer als für dich.«

»Sind sie sich da so sicher?«

»Das schnellste Fortbewegungsmittel war zu meiner Zeit das Pferd. Ich kannte keinen Strom, Wasser kam aus dem Brunnen und nicht aus dem Wasserhahn. Fliegen konnten nur Vögel und zwei verrückte Brüder, die ein Jahr nach meiner Geburt den Heißluftballon erfunden hatten. Neben Windmühlen und Wasserrädern gab es nichts, was auch nur entfernt an eine Maschine erinnerte. Und wenn man Musik hören wollte, sang man ein Lied, denn Radio gab es noch nicht!«

»O.K.! Sie haben gewonnen!«, sagte Lilly anerkennend.

»Ich hab’ es wirklich nicht bereut. Ich musste mein Essen nicht mehr stehlen und meine Kleidung hat mir schnell wieder gepasst. Alle meine Reisen mit Nestor Nigglepot waren sensationell und ich habe jede einzelne davon genossen.«

»Aber wenn sie mit acht Jahren in diese Zeit hier gereist sind, warum sind sie dann jetzt ein alter Mann und Nestor Nigglepot nicht?«

»Gute Frage, Lilly!«, sagte Rául und nahm sich den letzten noch unsortierten Haufen Münzen. »Ich wollte ganz einfach älter werden. Nur weil wir immer wieder in diesen Zeithafen zurückkehren, heißt das nicht, dass die persönliche Lebensuhr stehen bleibt. Jeder trägt seine eigene Zeit mit sich herum. Du, ich und auch Nestor Nigglepot.«

»Aber der ist nicht älter geworden.«

»Wenn er die Möglichkeit hat die Zeit zu manipulieren, die einen ganzen Planeten betrifft, dann – glaub’ mir – hat er auch die Möglichkeit seine eigene Zeit zu manipulieren.«

»Also hätten sie auch jung bleiben können?«

»Wie es funktioniert, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, hätte ich ihn darum gebeten, ich hätte jung bleiben können.«

»Und warum wollten sie das nicht«

»Willst du auf so viele wichtige Erfahrung verzichten, die du nur machen kannst, wenn du älter wirst? Willst du immer zehn Jahre alt bleiben?«

»Vielleicht nicht immer zehn Jahre ... ich weiß noch nicht so genau, später vielleicht.«

»Du möchtest also erst mehr Erfahrungen sammeln, um das richtig zu beurteilen?«

»Ja, eigentlich schon ...«, sagte Lilly.

»Das nennt man älter werden«, sagte Rául und erhob sich von seinem Stuhl. »Komm, wir gehen in die Küche und bereiten so langsam mal das Abendessen vor. Älter werden kann man nur, wenn man auch satt genug ist!«

Lilly stand ebenfalls auf, sah noch einmal auf den Tisch und war zufrieden, ein großer Haufen mit Eulen-Münzen links und ein etwas kleinerer Haufen mit Nymphenkopf-Münzen rechts. Alles war sortiert.