NESTOR

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V

Reisevorbereitungen

Nestor Nigglepot, Rául und Lilly trafen sich zum Tee im Weißen Salon. Bald zeigte sich auch, wofür dieser riesige Bildschirm gut war, von dem Lilly anfangs dachte, er wäre nur ein großes graues Bild gewesen. Kaum hatten alle drei Platz genommen, fragte der Hausherr: »Können wir loslegen?«

»Womit?«, wollte das Mädchen wissen. »Wir müssen klären, wer welche Aufgaben zu erledigen hat. Eine Zeitreise ist schon ein bisschen komplizierter als ein Wochenendausflug ins Grüne, meine Liebe«, fuhr er fort und klang so besserwisserisch wie immer.

»Sofia hat das Dossier fertig, Sir«, sagte Rául.

»Na dann, auf den Schirm damit!« Nigglepot verschränkte souverän seine Arme hinter dem Kopf und sein Sessel glitt bequem nach hinten, als er sich zum Bildschirm umdrehte. »Also, bitte!«

Eine Idee später ging der Monitor an und Sofia tauchte auf. Diesmal aber nicht als blaue Lichtwolke und nur halb, sondern ganz und in Farbe. Hinter ihr war eine riesige Landkarte des Mittelmeers zu sehen.

»Guten Morgen zusammen!«, war ihre Begrüßung. Sie tat so, als könne sie in die Teetassen blicken und schnupperte. »Darjeeling? Wie kommt das denn, mein lieber Nestor? Haben wir etwa keinen Yin Zhen von 1921 mehr im Haus?«

Nestor schaute sie pikiert an, sagte aber nichts.

»Na gut, dann will ich mal. Euer Platon wurde nach heutiger Zeitrechnung im Jahr 427 v. Chr. geboren, also vor circa 2.500 Jahren. Und damit fangen eure Probleme auch schon an.«

»Probleme? Lächerlich!« Vor Lilly wollte Nigglepot sich doch keine Blöße geben.

»Du wirst schon sehen, was ich meine, Nestor!« Sofia ließ sich nicht beirren. »Diesmal wird es nicht so leicht, wie kürzlich in Hongkong.«

»Pfff …«, war seine Antwort, und jeder wusste, das diese Reise ein Debakel war.

»Also … euer größtes Problem heißt Lilly.« Sofia lächelte das Mädchen fürsorglich an.

»Aber, aber … warum denn das?« Das Mädchen fiel aus allen Wolken.

»Chinesische Menschen waren zu dieser Zeit in Griechenland ausgesprochen selten. Du wirst also auffallen wie – entschuldige – ein bunter Hund. Aber ich habe eine Idee, wie du trotzdem, erklärbar in dieser Zeit auftauchen kannst …«

Alle starrten gebannt auf den Bildschirm.

»Du, liebe Lilly, wirst als Dienerin von Nestor Nigglepot auftreten müssen, also genau genommen als Sklavin«, ergänzte der Zentralcomputer etwas kleinlaut.

»Ich bin doch nicht verrückt!«, platze es aus Lilly heraus.

»Ach was, halb so wild! Menschen mit meiner Ausstrahlung haben sowieso immer ein aufschauendes Gefolge.«

»Aber natürlich, Sir«, sagte Rául.

»Sofia! Das kann nicht klappen. Dafür bin ich zu frech!«

»Ja, sie hat recht, Sofia! Dieses Mädchen weiß immer alles besser und glaubt mir nicht«, unterstütze Nestor Nigglepot das Mädchen völlig unerwartet.

Die Chinesin sah ihn beleidigt an.

»Jetzt stellt euch nicht so an, ihr beiden!« Der Zentralcomputer ließ sich nicht abbringen. »Die meisten Sklaven zu jener Zeit hatten ein eher freundliches Verhältnis zu ihrer Herrschaft. Viele hatten Familienanschluss und der Besitzer musste für Nahrung und Unterkunft sorgen. Gute Sklaven mehrten den Ruhm ihres Herren. Das würde gut zu dir passen, Lilly!«

»Na, großartig!« Nestor Nigglepot verdrehte die Augen.

»Im Prinzip könntet ihr ja los, wann immer ihr wollt, aber ich würde empfehlen, dass ihr einen Zeitvektor innerhalb der nächsten fünf Tage wählt. Darum muss Lilly noch Altgriechisch und am besten auch Phönizisch lernen«, erläuterte Sofia sachlich.

»Diesmal mit dem Didaktafon?«, fragte Rául.

»Würde ich vorschlagen, sonst dauert es wohl doch zu lange«, sagte Sofia und wandte sich dann zu Nestor: »Du brauchst keine Auffrischung?«

»Sofia … bitte!«, Nestor schaute sie kopfschüttelnd an.

»Ihr werdet euch in den gehobenen Kreisen der griechischen Gesellschaft bewegen, ich würde dir raten, mit mir nochmal ein paar Stunden zu trainieren.« Sie ließ nicht locker.

»In Ordnung …«, antwortete Nigglepot genervt.

»Ich habe als Zeitziel das Jahr 388 v. Chr. ausgewählt. Zu dieser Zeit könnt ihr Platon in der griechischen Stadt Syrakus auf der Insel Sizilien treffen«, erläuterte Sofia. »Vorsichtig müsst ihr in jedem Fall sein, aber erschwerend kommt hinzu, dass sich Platon mit dem dortigen Herrscher überworfen hatte.«

»Gibt es denn keine bessere Möglichkeit Platon zu treffen?«, wollte Lilly wissen.

»Du kannst Sofia auch in solchen Dingen vertrauen«, sagte der Butler.

»Na ja, aber über die Sache mit Hongkong müssen wir nochmal reden«, Nestor war offensichtlich anderer Meinung.

»Gerne, mein Freund! Hattest du nicht morgens festgestellt, dass dein Tee zur Neige geht? Und wolltest du nicht nachmittags wieder zurück sein?« Sofia sah Nigglepot fragend an.

»Gut, dann haben wir das ja auch geklärt!«, war die prompte Antwort und Nestor sagte anschließend zu Rául: »Du kümmerst dich darum, dass Lilly ihre Vokabeln übt, klärst den Rest mit Sofia und ich muss mal eben weg. Bis später dann!«

Er stand auf und verließ den Raum.

»Sofia! War das nötig?«, fragte Rául.

»Das tut ihm manchmal ganz gut«, war die Antwort. »Lilly, unser Nestor muss hin und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Das ist eine deiner vielen Aufgaben – nicht nur in der Vergangenheit.«

»Ich vermute«, gab die Chinesin zurück.

Sofia ging noch eine gute halbe Stunde auf verschiedene Dinge ein, zeigte Abbildungen von Gegenständen, Fotos von Statuen und Münzen die man mit einer blauen Lichtwolke nur schlecht hätte sichtbar machen können. Darum saßen sie im Weißen Salon. Und Rául nickte fleißig, während Lilly das Gehörte und Gesehene erstmal verarbeiten musste. Schließlich war dies in der Tat keine Reise, die man im Reisebüro buchen konnte.

Lillys Gedanken schweiften ab, denn sie hatte erst jetzt begriffen, dass Rául wohl gar nicht mitreisen würde, und das gefiel ihr nicht. Sie mochte den alten Herrn und er mochte sie. Warum wollte er also nicht mitkommen? Als auch sie und der Butler den Weißen Salon verließen, fragte sie ihn: »Rául, habe ich das richtig verstanden, dass sie hier bleiben?«

»Selbstverständlich, Lilly!«

»Ich finde das aber gar nicht so selbstverständlich. Ich dachte sie kommen mit.«

»Ach … das tu ich schon seit vielen Jahren nicht mehr.«

»Fühlen sie sich zu alt für Zeitreisen?«

»Das nicht, aber irgendwer muss auf Seldom House aufpassen und, wie bei der Hongkong-Reise, unter Umständen schnell eingreifen!«

»Stimmt, da ist was in die Hose gegangen!«

»Ach, kommt darauf an. Immerhin hat es dich hergeführt«, antwortete der Butler. »Aber, es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren, auch hier an diesem Ort und in dieser Zeit. Viele Menschen denken, dass hier etwas geschieht, was sie nicht verstehen – und wie sollten sie auch? Nestor Nigglepot hat viele Neider und selbst die, die nicht neidisch sind, wollen ihm selten etwas Gutes. Stattdessen muss er sich das Wohlwollen seiner Mitmenschen durch Spenden und Gefälligkeiten erkaufen. Das war schon immer so.«

»Ist er deshalb so eingebildet?«

»Möglich«, sagte Rául, »… aber eigentlich darf ich dir das alles gar nicht sagen.«

»Ich werde sie nicht verraten«, lachte Lilly den Butler an.

»Da bin ich aber erleichtert. Komm, wir müssen nach London. Reisekleidung für dich einkaufen.«

Als sie in das Auto stiegen, ein Bugatti Typ 41 aus dem Jahr 1927, wurde Lilly bewusst, dass sie in der ganzen Zeit, die sie schon bei Nestor und Rául war, noch nicht ein einziges Mal das Anwesen verlassen hatte. Alles was sie bisher brauchte, gab es hier oder wurde vom Butler besorgt. Selbst ihr billiger Kung-Fu-Anzug war längst durch ein paar hochwertige neue ersetzt worden, weil sie darauf bestand, ausschließlich diese Art von Kleidung zu tragen. Aber für eine Reise ins alte Griechenland würden die Dinger nicht taugen.

Sie hatte aber auch nie das Bedürfnis gehabt, das Haus oder den Park mit seinem wunderbaren Garten zu verlassen. In Hongkong hatte sie nie genug Platz. Das Bett musste sie mit einem anderen Mädchen teilen, die Straßen waren eng und überall waren Menschen, die danach hetzten entweder reich oder satt zu werden. In Hongkong war nirgendwo Freiraum gewesen. Sie hatte wenig Zeit und niemand, der sich um sie kümmerte.

Bei Nestor Nigglepot war alles anders. Hier war Platz, hier war Zeit und Rául war immer für sie da – wenn sie wollte. Sie konnte Kung-Fu in der Sporthalle üben, sie konnte lesen, was und wann sie wollte. Wie hätte sie darauf kommen sollen, dass es um sie herum noch eine Welt gab?

Sie verließen das Grundstück und Lilly schaute während der ganzen Fahrt aus dem Fenster, ohne etwas zu sagen. Sie kannte Engländer aus Hongkong und sie kannte Autos. Das, in dem sie selber saß, wäre in Hongkong wohl als teurer Schlitten aufgefallen, mehr aber auch nicht. Aber dieses Fahrzeug wurde von den Menschen angestarrt. Und Lilly starrte die Menschen an, die das Auto anglotzten.

Das war nicht die Sorte Engländer, die sie kannte. Die Kleidung war fremd und ihr Verhalten war fremd. Als sie auf die Autobahn kamen, stellte Lilly zuerst mit Entsetzen, später mit kribbelnder Freude fest, mit welch einer Höllengeschwindigkeit sie selber und die anderen Autos daher rasten. Die Häuser waren anders, am Himmel flogen riesige Flugzeuge, die nur zwei Tragflächen hatten, überall säumten bunte und blinkende Werbebotschaften die Straße: für Essen, für Autos, für Computer, für Versicherungen (wofür auch immer die gut sein sollten) und sogar für Unterwäsche.

Als sie London erreichten, wusste Lilly genau, dass sie tatsächlich mit Nestor Nigglepot in die Zukunft gereist war. Auf dem Anwesen allein hätte alles Sonderbare Zauberei oder sonst was sein können und vielleicht war es das ja auch, aber hier in dieser Stadt, mit Millionen Menschen, die entweder durch die Gegend hetzten oder fotografierten, war völlig klar, dass sie in einer anderen Zeit gelandet war. Aber glücklicher, als die Menschen in ihrem Hongkong, sahen diese hier nicht aus.

 

Vielleicht waren sie gesünder und reicher, aber sie hatten ganz eindeutig weniger Zeit als früher. Sie dankte Rául in Gedanken, dass er es bisher komplett vermieden hatte, sie auf die Welt außerhalb von Seldom House aufmerksam zu machen. Lilly Foo war geschockt.

Rául steuerte die lange Limousine gekonnt durch die engen Straßen von London und fuhr dann in eine noch schmaler gebaute Tiefgarage. Beide stiegen aus und gingen zum Aufzug, der sie wieder nach oben brachte.

Als sie die Straße betraten, sagte Rául zu Lilly: »Ich mag diese große, volle und hektische Stadt auch nicht besonders.«

Er hatte im Rückspiegel gesehen, dass das Mädchen mit dem Gesehenen erst einmal fertig werden musste. Jetzt nahm er ihre Hand und führte sie durch das Gewühl einer Metropole, mit vielen Autos, Bussen und Lastwagen, Menschen die nach hier und nach dort gingen und Straßen, die scheinbar überall hinführten. Rául führte Lilly in die Oxford Street, denn dort hatte der Modestar Debile sein Atelier, das aus Kostengründen nur wirklich gut betuchte Menschen besuchten. Nestor Nigglepot war einer von Debiles besten Kunden.

Es war bemerkenswert, wieviele Menschen einem auf dem Weg begegneten, ohne, dass sie Lilly oder Rául sahen. Die Chinesin hatte schon lange nicht mehr, wenn überhaupt jemals, so viele Menschen gesehen. Alles war überfüllt, deswegen stieß sie auch plötzlich mit einem Mann zusammen, obwohl Rául sie genauso umsichtig durch das Gewühl steuerte wie den Bugatti durch die Straßen.

»Oh, Verzeihung bitte!«, sagte Lilly zu dem Mann.

»Schon gut, Mädchen« Die Antwort klang kalt und der Mann sah sie nur kurz an und ging dann weiter.

Lilly kam der Mann bekannt vor – aus Hongkong.

»Das war der blasse Mann, der plötzlich in der Lagerhalle aufgetaucht war«, dachte sie.

Schnell drehte sie sich um und plötzlich führte sie Rául durch die Menschenmassen, weg von der gruseligen Gestalt.

Auch der blasse Mann erinnerte sich, war aber auch schon einige Schritte weitergegangen und als er sich wieder nach ihr umdrehte, war sie zwischen all den Leuten einfach nicht mehr zu sehen.

»Die Komplizin!«, fiel es Grafula ein.

VI

Grafula

Debile hatte Rául die versprochenen Entwürfe gezeigt und bei Lilly Maß genommen. Schon in vier Tagen würde eine Sendung mit den fertigen Kleidern für sie und Nestor am Anwesen eintreffen. So war es vereinbart worden und Nigglepot musste für diesen Express-Service tief in die Tasche greifen.

Auf der Rückfahrt schlief Lilly Foo ein. Die vielen neuen Eindrücke hatten sie überwältigt. Als es schon lange dunkel war, erreichten Rául und Lilly Cornwall. Nestor Nigglepot saß im Bunten Salon und trank Tee.

»Wie geht es dem großartigen Debile?«, wollte der Hausherr wissen.

»Er war beleidigt, dass du nicht mitgekommen bist, Nestor Nigglepot«, antwortete Lilly. »Ihr seid bestimmt gute Freunde, was?«

»Er hat Stil, ich habe Stil ... so gesehen ja. Aber eigentlich ist Debile doch nur ein blasierter, eingebildeter und in sich selbst verliebter Snob, der glaubt er wäre einzigartig!«

»Ich habe noch einen Freund von dir getroffen«, sagte Lilly.

»In London?«, Nestor war überrascht.

»Ja, diesen blassen Mann aus der Lagerhalle in Hongkong.«

»Grafula?«, entfuhr Nestor das laut gedachte Entsetzen, dann sagte er: »Rául, wie konnte das geschehen?«

»Sir, ich habe nichts davon bemerkt!«, auch der Butler war unangenehm überrascht, und wandte sich an Lilly: »Wann? Wo? Erzähl!«

»In diesem Menschengewühl, kurz bevor wir bei diesem Klamottenheini waren«, sagte Lilly. »Ich hab’ ihn zuerst gar nicht gesehen, dann habe ich ihn aus Versehen angerempelt, mich entschuldigt und bin weitergegangen. Dann ist mir wieder eingefallen, wer das war. Ich dachte es wäre gut, wenn er uns nicht folgt, darum habe ich Rául schnell gezogen und wir sind zwischen all den Menschen verschwunden. Er ist auch nicht hinter uns hergekommen.«

»Du musst Sofia unterrichten, Rául!«, sagte Nestor.

»Ja, Sir!«, antwortete der Butler schon im Gehen.

»Hab’ ich was falsch gemacht?«, wollte Lilly wissen.

»Nein. Aber, dieser Kerl taucht immer dann auf, wenn es gerade überhaupt nicht passt.«

»Wer ist das denn überhaupt?«

»Ich glaube nicht, dass ich dir diese Frage beantworten will«, entgegnete der Zeitreisende.

»Es geht aber nicht um Zeitmaschinen oder deine Herkunft, Nestor Nigglepot!«

Er stöhnte leise und seine Augen schlossen sich halb, dann sagte er: »Dann wäre die Frage wohl den Regeln entsprechend, oder?«

»Meiner Meinung nach schon!«, beharrte Lilly.

»Gut ...«, sagte er, machte eine Pause und fuhr dann erstaunlich leise fort: »Es mag vielleicht dämlich klingen, aber dieser Grafula ist mein Erzfeind.«

»So was kenne ich. Im Kinderheim hatte ich immer Streit mit dem Mädchen, das mit mir das Bett teilen musste.«

»Ich fürchte die Sache ist ein bisschen anders, Lilly. Dieser Grafula ist ein Halbvampir«

»Ach?«, war Lillys wenig erstaunte Antwort. Denn Dämonen gehörten zum Alltag eines chinesischen Mädchens aus dem Jahr 1921. Hingegen war für Spülmaschinen weniger Platz in ihrem bisherigen Weltbild gewesen.

»Aber deshalb muss er doch nicht gleich dein Feind sein oder bist du Vampirjäger?«

»Quatsch! Aber er ist außer Rául, das einzige Lebewesen, das eine ungefähre Ahnung von dem hat, was ich mache.«

»Mir willst du es ja nicht erzählen!«, sagte das Mädchen vorwurfsvoll.

»Das ist nicht wahr! Du wolltest mir nicht glauben, Fräulein Ich-weiß-immer-alles-besser-als-Nestor-Nigglepot!«

»Doch ... doch, ich glaube dir«, das Mädchen klang kleinlaut. »Als wir in London waren, habe ich begriffen, dass du tatsächlich mit mir durch die Zeit gereist bist.« Dann fragte sie vorsichtig: »Ist das mit unserer Reise ins antike Griechenland jetzt erledigt?«

»Wo denkst du hin? Dafür ist es jetzt zu spät! Wir können die Reise nicht mehr absagen.«

Es war schwer zu erkennen, ob Nestors Art besserwisserisch oder mitfühlend war.

»Warum?«

»Weil wir vielleicht bereits dort waren.«

»Du spinnst, Nestor Nigglepot!«

»Nein, aber du verstehst noch ein bisschen weniger von theoretischer Physik und Astronomie als ich, meine Liebe!«

Jetzt war seine Art ganz eindeutig besserwisserisch.

»Und wie soll ich das alles verstehen, wenn du mir noch nicht alles erklärt hast, Herr Ich-erzähl-doch-nicht-jedem-alles-was ich-weiß?«

»Eben noch ganz klein mit Hut und jetzt schon wieder rumzicken?«, sagte er trotzig. »Na, super!«

»Also?«

»Mhmm ... versuch dir vorzustellen, dass wir genau jetzt in die Vergangenheit reisen. Und zwar in eine Vergangenheit, die knapp vor deiner Geburt war.«

»O.K.!«

»Du schleichst dich in dein Kinderheim, von dem wir jetzt mal annehmen, dass es das schon gab und alle Betten schon da standen, wo sie zu deiner Zeit im Kinderheim gestanden haben.«

»Verstanden.«

»Du gehst zu dem Bett, in dem du immer geschlafen hast, nimmst einen Pinsel mit roter Farbe und malst einen dicken roten Punkt auf einen der Bettpfosten.«

»Mach ich!«

»Jetzt reist du sofort wieder zurück, an diesen Tisch und in diese Zeit.«

»Alles klar, ich bin wieder hier.«

»Gut. Du weißt, dass du gerade eben in der Vergangenheit vor deiner Geburt, einen roten Punkt auf einen Bettpfosten gemalt hast. Gerade eben ... und du bist zehn Jahre alt.«

»Ich bin zehn und habe eben einen roten Punkt gemalt.«

»Aber in all der Zeit, als du noch jünger und im Kinderheim warst, hast du dich immer gefragt: Woher kommt bloß der rote Punkt auf meinen Bettpfosten?«

»Das ist aber schon ein bisschen kompliziert, oder?«

»Man gewöhnt sich daran«, sagte Nestor gewohnt lässig.

»Aber, warum waren wir schon da?«

»Sofia hat schon alle Zeitvektoren gesichert. Jetzt müssen wir da hin, ob wir wollen oder nicht.«

»Und was war jetzt mit deinem blassen Halbvampir?«

»Ach so, ja ...« Nestor hatte Grafula schon fast wieder vergessen. »Der ist leider unsterblich.«

»Wieso leider?«, wollte Lilly wissen.

»Er kennt mich seit Tausenden von Jahren. Ich reise oft in Zeiten, wo etwas Aufregendes oder Einzigartiges passiert. Und früher gab es nicht so viele große Städte wie jetzt. Da läuft man sich natürlich über den Weg, denn Grafula ist auch gerne an solchen Orten.«

»Aber wieso ist er dein Feind!«

»Weil leider nicht immer alles so klappt, wie ich das geplant habe ...«

»So wie ich dich kenne, glaube ich das wirklich gerne, Nestor Nigglepot!«

»Besten Dank! Aber im Ernst, es kommt vor, dass durch mein Eingreifen in den Zeitablauf Teile der Menschheitsgeschichte umgewandelt werden könnten.«

»Könnten oder wurden?«, hakte das Mädchen nach.

»Wurden.«

»Selten oder mehrfach?«

»Mehrfach.«

»Mit geringen oder schlimmen Folgen?«

»Schlimme.«

»Aber, wo ist das Problem? Es erinnert sich doch keiner daran. Für die Menschen ist die Geschichte doch eh vorbei. Und wenn sie von dir verändert wurde, weißt du das, aber für alle anderen ist sie doch einfach nur Vergangenheit«, stellte Lilly fest.

»Außer für Grafula!«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Lilly.

»Er ist unsterblich – absolut unsterblich. Wenn ihm eine Dampfwalze auf den Kopf fällt, dann hat er vielleicht Kopfschmerzen, mehr aber nicht. Er stirbt nicht! Aber er erinnert sich an alles.«

»Ja, Dämonen sind lästig. In China gibt es Tausende davon. Dagegen hilft Feuerwerk!«

»Gegen diesen Dämon hilft nicht mal eine Kanone. Hab’ ich versucht. Er hatte nicht mal einen Kratzer, frag mich nicht wieso, aber gegen den ist kein Kraut gewachsen.«

»Trotzdem müsste sich doch auch für ihn die Vergangenheit ändern, wenn du in sie eingegriffen hast.«

»Das tut sie, aber er spürt die Unterschiede. Er ahnt was sich verändert hat, wie die Entwicklung der Geschichte hätte sein sollen, und das stört ihn kolossal. Vampire sind extrem pedantische Wesen, die gerne alles so haben, wie es sich gehört. Darum versucht er mich überall zu finden und diesem Treiben ein Ende zu machen.«

»Und jetzt ist er in England«, sagte das Mädchen.

»Halb so wild, er war schon näher an mir dran, zum Beispiel in Hongkong.« Nestor zwinkerte und fuhr fort: »Mein Desorientator hat mir schon oft geholfen.«

»Will er dich töten?«

»Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Wie gesagt, er möchte das alles so ist, wie es sich gehört. Wenn du zu ihm sagen würdest, auf einem Schachspiel sind immer 63 Felder, würde er vermutlich alle Schachbretter der Welt durchzählen. Nein, er will mich der Polizei ausliefern und die Justiz davon überzeugen, dass ich ein Verbrecher bin. Ein schräger Vogel dieser Grafula!«

»Dann müsstet ihr beiden euch ja eigentlich gut verstehen«, grinste Lilly Nigglepot an.

»Moment mal ... weil ich auch ein schräger Vogel bin oder, weil du mich auch für einen Verbrecher hältst?«

»Such dir was aus, Nestor Nigglepot. Warum veränderst du denn die Zeit überhaupt? Warum lebst du nicht einfach in deine Zukunft hinein, wie alle anderen auch?«

»Ich bin ein Opfer meiner eigenen Vergangenheit ...«, sagte er, dann drehte er sich um und wollte gehen.

»Das sind wir doch alle!«, stellte Lilly trocken fest.

»Das werden wir heute Abend ganz sicher nicht mehr klären, meine Liebe.«

Damit war das Gespräch beendet und, obwohl Lilly an diesem Tag mehr über Nestor Nigglepot, als in der gesamten Zeit davor erfahren hatte, verließ er sie mit mehr Fragen in ihrem Kopf als, er beantwortet hatte. Zum ersten Mal fühlte sie sich in diesem großen bisschen Haus allein.

Eigentlich war Lilly von der Fahrt und dem Erlebten hundemüde, aber das Gespräch mit Nestor ließ sie viel zu wach zum Schlafen zurück, also beschloss sie Sofia aufzusuchen. Rául schien ihr diesmal nicht der richtige Ansprechpartner, denn sie wusste, dass er stets die Befehle von Nestor Nigglepot befolgte. Der Zentralcomputer schien anders getaktet zu sein.

 

Der Weg durch den blau erleuchteten Gang im Keller machte sie noch wacher und als sie an der Tür zu Sofias Raum ankam, war sie überhaupt nicht mehr müde.

»Hallo Sofia! Machst du mir bitte auf?«

»Gerne, Lilly! Komm rein!«, antwortete der Zentralcomputer und die Tür verschwand. »So spät noch wach?«

Das Mädchen trat ein und setzte sich wie selbstverständlich in einen der drei Sessel. Sie kannte Sofia noch nicht lange, aber fühlte sich in der Gesellschaft der blauen Lichtgestalt ausgesprochen wohl.

»Ich kann einfach nicht schlafen«, sagte Lilly. »Schläfst du manchmal?«

»Nicht so wie du. Wenn ich meine Daten aktualisiere und sortiere, könnte man sagen, dass ich träume.« Sofia schaute Lilly besorgt an. »Du hast Kummer, oder?«

»Erst wurde mir auf dem Weg nach und in London klar, dass ich wirklich mit Nestor Nigglepot in die Zukunft gereist bin, was ich vorher nicht geglaubt habe, dann ist mir dieser Grafula über den Weg gelaufen, was scheinbar alle in Aufregung versetzt und Zuguterletzt habe ich mich auch gerade noch mit Nestor Nigglepot angelegt ... ja, ich habe Kummer.«

»Tja, so etwas nennt man einen schlechten Tag.«

»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte Lilly.

»Wegen Nestor würde ich mir keine Sorgen machen. Er ist nicht nachtragend. Morgen früh hat er das schon wieder vergessen. Er ist viel feinfühliger, als er es zeigen möchte. Manchmal nervt er, weil er so eingebildet ist, aber er ist ein guter Mensch.«

»Und dieser Grafula?«, wollte die Chinesin wissen.

»Wegen dem würde ich mir schon mehr Sorgen machen, zumindest an Nestors Stelle. Aber du brauchst dir da überhaupt keine Vorwürfe zu machen. Du bist nur mit ihm zusammengestoßen. Das war nicht dein Fehler und es war gut, dass du es erzählt hast, damit hast du mir sehr geholfen.«

»Wieso?«

»Eine meiner Aufgaben ist es, die Zeitreisen so sicher wie möglich zu planen. Das bedeutet zum einen das Zeitziel, aber auch den Ursprungsort der Reise zu beschützen«, sagte Sofia und ergänzte: »Stell dir vor, eine Zeitreise ist wie ein Blick durch einen biegsamen Gartenschlauch. Du guckst in die eine Öffnung rein und durch die andere heraus, egal wie das Ding gebogen ist. Du könntest dir damit theoretisch auf den eigenen Hinterkopf schauen.«

»Hübsche Idee«, schmunzelte Lilly.

»Ich muss dafür sorgen, dass niemand vorzeitig einen Stopfen auf eines der Schlauchenden macht, bevor die Zeitreise zu Ende ist. Aber genau das hat Grafula immer wieder vor.«

»Und, kannst du das verhindern?«

»Dieser Halbvampir ist schwierig zu finden. Ich vermute, er ist mittlerweile fast genauso gut im Nicht-gefunden-werden wie wir hier.«

»Aber, wenn jemand wie Nestor Nigglepot in so einem Anwesen wie Seldom House lebt, schreit das doch danach gefunden zu werden«, sagte Lilly.

»Der Lebensstil von Nestor macht die Sache in der Tat nicht immer einfach. Letztenendes wachsen Rául und ich an unseren Herausforderungen«, lachte Sofia.

»Aber Grafula müsste doch nur alle Telefonbücher der Welt lesen und käme dann irgendwann auf die richtige Adresse und wäre hier ...«

»... oder er würde das Internet durchforsten. Er könnte auch Informanten ausschicken ... aber so einfach machen wir es ihm natürlich nicht. Wir befinden uns hier auf einem Anwesen, das rein rechtlich gesehen der Britischen Krone gehört. Nestor Nigglepot ist der Verwalter, der sich regelmäßig gegen sich selbst austauscht. Wir haben vor ein paar Jahrhunderten Verträge gemacht, die dafür sorgen, dass Seldom House ausschließlich von den Personen besucht und betreten werden darf, die nur der aktuell bestellte Verwalter auswählt, der natürlich auch seinen Nachfolger bestimmt.«

»Und das prüfen die nie nach?«

»Wir sind in Großbritannien, Lilly!« Der Zentralcomputer lachte wieder. »Die Queen darf nicht mal die City of London betreten, ohne vorher den Bürgermeister zu informieren. Die Engländer sind an so etwas gewöhnt und uralte Privilegien werden in diesem Land selten gebrochen, das ist unser Vorteil.«

»Grafula kann uns also nicht finden«, sagte Lilly, »Und umgekehrt?«

»Alles was ich an Informationen habe, werte ich natürlich aus, vergleiche es mit allen Treffen zwischen Nestor und ihm ... ich weiß nicht immer, wann er wo ist, aber mit der Zeit kennt man seine Pappenheimer. Ich hab’ da inzwischen einen guten Riecher entwickelt und ziemlich gute Bewegungsprofile erstellt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Realität übereinstimmen.«

»Und was macht er als Nächstes?«

»Er wird sich auf alle Museen von London konzentrieren und rechnet dort mit Nestors Auftreten in der nächsten Zukunft. Oder er misst eurem Treffen keine Bedeutung bei und hat auf der Durchreise einen Zwischenstopp gemacht. Er mag große Städte und ihre Anonymität. Früher war er gerne als Fürst oder Graf irgendwo als Adeliger tätig, aber seit es einigermaßen gut funktionierende Demokratien gibt, arbeitet er lieber als Detektiv.«

»Wieso ist dieser Grafula, denn so schwierig zu finden?«

»Er hinterlässt kaum Spuren. Ich habe so ziemlich alle Akten, die es seit einigen tausend Jahren gibt, gespeichert. Und obwohl in den letzten hundert Jahren die Informationen, die über die einzelnen Menschen irgendwo niedergeschrieben oder heutzutage digital erfasst sind, immer umfassender geworden sind, gelang es diesem Halbvampir bisher immer erstaunlich gut unerkannt zu bleiben.«

»Und wie kommt es, das Grafula unsterblich ist?«, wollte die Chinesin wissen.

»Vermutlich, weil sein Vater ein Vampir und seine Mutter kein Vampir war. Eine ungewöhnliche Mischung. Normale Vampire werden irgendwann von Vampirjägern erledigt oder machen den Fehler ins Sonnenlicht zu geraten. Aber bei ihm ist das anders. Grafula ist absolut unsterblich. Meines Wissens ist er tatsächlich der einzige seiner Art. Ein trauriges Leben!«

»Ist ewiges Leben denn nicht gut?«

»Irgendwann stirbt jeder Freund, und irgendwann hat man auch alles schon einmal erlebt. Alle Informationen, die ich über ewiges Leben habe, laufen irgendwann auf ewige Langeweile hinaus.«

Lilly betrachtete Sofia und staunte darüber, wie verblüffend sichtbar sie war, obwohl sie doch nur aus Licht bestand, das harmonisch in sich waberte.

»Aber Nestor Nigglepot ist doch auch unsterblich, oder?«

»Oh nein, er schickt sich nur immer wieder selber in die Zukunft, wenn er noch jung genug ist. Aber das zu erklären, würde heute Abend wirklich zu lange dauern. Du solltest schlafen gehen, denn morgen musst du zwei komplette und noch dazu tote Sprachen lernen, das ist ganz schön anstrengend.« Sofia sah das Mädchen freundlich an.

»Du hast recht ...«, sagte Lilly, stand auf, und mit einem »Träum was Schönes!«, und verabschiedete sie sich von der blau leuchtenden Frau.

»Du auch, Lilly!«