NESTOR

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»Woher willst du wissen, dass ich Abenteuer mag?«

»Ganz einfach: du wolltest mit mir mitkommen, aus freien Stücken. Das nenne ich abenteuerlustig!«

»Und wieso glaubst du, dass ich allein bin?«

»Hättest du jemand, zu dem du wirklich gehörst, wärest du ganz sicher in Hongkong und im Jahr 1921 geblieben.«

Er hatte recht und Lilly antwortete: »Ich hätte nicht gedacht, dass du doch so clever bist, Nestor Nigglepot!« Sie nahm ein Sandwich, biss hinein, kaute in aller Ruhe und schluckte dann. »Aber, ich glaube dir trotzdem nicht, dass das eine Zeitmaschine ist. Ein Flugapparat? Vielleicht. Aber eine Zeitmaschine? Nie im Leben!«

»Soll ich es dir beweisen, meine Liebe?« Nestor nahm diese Herausforderungen sehr gerne an.

III

Inspector Fazzoletti

Grafula verließ die Lagerhalle und ging hinaus in den Regen. Was machte es schon, dass er wieder nass wurde? Er fühlte sich sowieso wie ein begossener Pudel. Nigglepot war ihm wieder entkommen und diesmal sogar mit einer Komplizin, diesem gelben Kind!

»Der Kerl schreckt vor nichts zurück«, dachte er ungläubig. »Ganz sicher ist er auch schuld an meinen Gedächtnislücken. Ganz sicher!«

Der Weg führte ihn in die Wellington Street im Central District Hongkongs. Dort befanden sich ein Arzt und was noch wichtiger war: die hiesige Niederlassung von Scotland Yard! Die eigene Unsterblichkeit ließ übertriebene Sorgen wegen seiner Gedächtnisaussetzer unbegründet erscheinen, also entschied er, zunächst der Polizei ein Besuch abzustatten. Und wenn Nigglepot sich noch in der Stadt befand, war Eile geboten. Die zahlreichen Erfahrungen mit dieser Plage hatte, den Untoten gelehrt, dass der eingebildete Schnösel sehr beweglich war. Er ging zum Informations-Schalter.

»Officer! Ich muss dringend den zuständigen Kommissar für übernatürliche Phänomene sprechen!« Grafula wählte den schnellen Weg.

»Hinten anstellen!« Der Officer wählte offenbar den langsamen Weg.

»Hören sie, guter Mann! Dort draußen treibt ein Mann seit Jahrtausenden sein schändliches Unwesen!«

»Also werden wir ja wohl noch ein Viertelstündchen Zeit haben, wie?« Der Polizist schaute Grafula jetzt erst an. »Sie sehen blass aus. Fühlen sie sich nicht wohl?«

»Doch, doch …«

»Dann stellen sie sich hinten an, oder kommen sie morgen wieder, und stellen sich dann an.«

»Aber hier ist doch nirgendwo eine Schlange, an der ich mich anstellen könnte …«

»Dann fängt die Schlange eben mit ihnen an!«, entgegnete der Beamte und widmete sich wieder seiner Schreibarbeit.

Als es schien, dass der Officer hatte seine Tätigkeiten erledigt, stand er auf, schaute auf die große Uhr in der Halle, sagte knapp: »Teepause« und ging.

Grafula stand völlig alleine in dem großen Raum und dachte: »Jetzt könnte ich gut eine von diesen Gedächtnislücken gebrauchen.«

Exakt fünfzehn Minuten später erschien der Officer wieder, nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und sprach den Untoten an: »Wird ihnen bereits geholfen, mein Herr?«

»Nun, wie ich bereits sagte, ich muss dringend den zuständigen Kommissar für übernatürliche Phänomene sprechen!«

»Das Kommissariat für übersinnliche Phänomene befindet sich dort …«, er zeigte auf die rechte Tür direkt neben seinem Schreibtisch. Hinter dieser Tür hatte Grafula eigentlich eine Art Abstellraum vermutet.

»Sie waren mir eine große Hilfe, Officer«, sagte Grafula, ging auf die Tür zu und las auf dem Schild: Kommissariat für übernatürliche Phänomene – Inspector Fazzoletti. Der Name Fazzoletti kam ihm irgendwie bekannt vor.

Er klopfte an und ein undeutliches Wort von hinter der Tür ließ ihn vermuten, dieser Inspector Fazzoletti hätte Herein gesagt. Daraufhin drehte der Halbvampir den Türgriff und betrat ein Büro, das so winzig war, dass nur ein kleiner Schreibtisch mit Schreibmaschine und ein Stuhl dort hineinpassten. Auf der Schreibmaschine lag ein angebissenes Sandwich und auf dem Stuhl saß ein dicker Mann, in einem zu kleinen Anzug, mit einer großen roten tropfenden Nase, der kaute und sich gerade die Fußnägel abknipste.

»Darf ich eintreten?«, fragte der Untote ungläubig.

»Iff hab’ laub unb beutliff NEIN wefagb!«

»Wie, bitte?«

Der Mann schluckte, zog deutlich vernehmbar seinen Rotz hoch, schluckte noch mal und sagte: »Schon gut!« Er stand auf, ging barfuß auf den Halbvampir zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte unüberhörbar stolz: »Fazzoletti. Inspector Fazzoletti!«

»Ich weiß, es steht draußen an ihrer Tür. Mein Name ist Grafula, einfach nur Grafula!« Der Halbvampir wollte den Händedruck erwidern, aber Fazzoletti stutzte kurz und rannte an ihm vorbei und bestaunte die Tür. »Das ist ja nicht zu fassen! Seit über fünf Jahren arbeite ich in diesem Büro und bis gestern hing da noch das Schild Abstellraum.« Der Inspector ging zu seinem Platz zurück. »Ich sag’s ja immer wieder … in einer so straffen und schlagkräftigen Einrichtung funktioniert alles – wie in einem Uhrwerk. Scotland Yard! Tolle Behörde!« Er setzte sich zufrieden hin. »Wie war gleich ihr Name?«

»Grafula.«

»Und weiter?«

»Nur Grafula.«

»Nur Grafula?«

»Ja. Nur Grafula!«

»Aha.« Fazzoletti zögerte. »Künstler?«

»So was in der Art.«

»Ich kann Künstler nicht leiden«, sagte der Inspector sehr glaubwürdig.

»Nein, nein! Ich bin nicht wirklich Künstler. Ich hab’ nur keinen Nachnamen.«

Fazzoletti schaute sein Gegenüber eindringlich an und warnte mit dem rechten Zeigefinger. »Bei Scotland Yard wollen wir aber immer schön die Wahrheit sagen, oder?«

»Selbstverständlich!«

»Man kann sich kaum vorstellen, was mir die Leute hier ständig für einen Unfug erzählen. Gespenster, Beschwörungen, Außerirdische … ich glaube diesen ganzen Quatsch eh nicht. Aber scheinbar gibt es da draußen jede Menge Verrückte. Na, ist ja auch egal … wo drückt denn ihr Schuh?«

Der Halbvampir schaute auf die nackten, fiesen, schwieligen Füße des Polizisten. »Eine hässliche Geschichte, Inspector! Seit Jahrtausenden treibt ein Individuum namens Nestor Nigglepot sein schändliches Unwesen auf unserem gesamten Planeten.«

»Aha.«

»Er bringt das Raum-Zeit-Kontinuum ein ums andere Mal völlig durcheinander und niemand ist in der Lage ihn zu stoppen!«

»Wunderbar, dann ist der Fall ja erledigt.« Fazzoletti biss zufrieden in sein Brot.

»Aber ganz und gar nicht! Es wird immer so weiter gehen, wenn sie nichts unternehmen.«

»Herr Grafula … sagten sie nicht, niemand wäre in der Lage ihn zu stoppen?«

»Aber Inspector, sie verstehen mich falsch! Es muss natürlich irgendwann einmal, jemand versuchen ihn wirklich dingfest zu machen!«

»Was hat er denn schlimmes gemacht?«

»Sein ständiges Auftreten, zu allen möglichen Zeiten hat schon unzählige Male den Lauf der Geschichte massiv verändert.«

»Und woher wollen sie das wissen?«, fragte Fazzoletti – fast wie ein guter Inspector.

»Ich war dabei!«

»Aha!« Fazzoletti zog sich die Socken an. »Wie alt sind wir denn?«

»Das tut nichts zur Sache!«

Fazzoletti schaute den Halbvampir lange finster an und musste plötzlich so fürchterlich niesen, dass Grafula einen Schritt nach hinten machte. Der Polizist putze sich laut vernehmlich die Nase und schaute ihn wieder lange finster an.

»Hören sie … Herr Grafula … ich kann ihnen helfen, aber wenn sie nicht freiwillig mit mir zusammenarbeiten, und offen und ehrlich die Wahrheit sagen, kann ich sie auch zum Reden bringen lassen!«

»Ich bin unsterblich …«, sagte Grafula.

»Auf einmal geht es ja doch«, triumphierte Fazzoletti und hatte offensichtlich gar nicht verstanden, was ihm der kleine, fahle Mann, mit der kalten Stimme, da gerade gesagt hatte.

»Ich wurde vor über 36.000 Jahren als Sohn eines Vampirs und einer Sterblichen geboren. Also bin ich ein Halbvampir, was bedeutet, dass ich nicht sterben kann, aber kein Blut trinken muss, ich kann bei Tageslicht überleben, aber meine Flugkünste als Fledermaus gleichen eher der eines Huhns.«

»Aha.«

»In all diesen Jahren ist mir besagter Nestor Nigglepot immer wieder begegnet. Damit muss irgendwann Schluss sein, sonst werde ich noch wahnsinnig!«

»Sie sind auch schon ganz blass.« Fazzoletti schaute kurz zu ihm auf und band dann seine Schuhe zu. »Wenn man sie so sieht, möchte man gar nicht glauben, dass sie unsterblich sind … eher das Gegenteil. Aber, sie sind absolut sicher, dass sie unsterblich sind?«

»Absolut!«

»Könnte das jemand bezeugen, ihre Eltern zum Beispiel?«

»Meine Mutter ist vor über 36.000 Jahren verstorben und meinem Vater wurde seine romantische Vorliebe für Sonnenaufgänge zum Verhängnis.« Grafula klang nur mäßig betroffen. Er hatte mit den Jahrtausenden gelernt privaten Schmerz zu verarbeiten.

»Irgendwelche Nachbarn mit gutem Leumund?«

»Leider nein.«

»Irgendwelche Nachbarn mit schlechtem Leumund?«

»Hören sie, Inspector!« Der Untote wurde nun unruhig. »Die Zeit drängt! Dieser Mann könnte inzwischen überall sein Unwesen weitertreiben.«

»Was hat dieses Individuum denn verbrochen?« An gutem Willen mangelte es dem Inspector zwar erheblich, aber er vermochte die Vorschriften wenigstens einigermaßen einzuhalten.

»Er ist verschwunden!«

»Verschwinden ist im British Empire, einschließlich Hongkong, nicht verboten.« Fazzoletti war inzwischen genauso genervt wie sein Gegenüber. »Damit Scotland Yard aktiv wird, müssten sie schon ein bisschen mehr auf Lager haben. Hat er wenigstens einem Baby die Bonbons geklaut?«

»Kennen sie sich mit theoretischer Physik und Astronomie aus?«

 

»Nicht, das ich wüsste!«

»Ich meine, verstehen sie etwas von Zeitabläufen?«

»Dass schon«, entgegnete der Inspector. »Wenn sie nicht zügig etwas Stichhaltiges präsentieren, ist Ihre Zeit hier abgelaufen … Also?«

»Ich will versuchen, ihnen ein Beispiel für seine gravierenden Einflüsse auf den Ablauf der Zeit zu geben.« Grafula stemmte seine Fäuste auf die Hüften. »Ich vermute, hätte Nestor Nigglepot im Jahre 1773 auf einer Tee-Party Samuel Adams und seine Freunde nicht mit dem Satz: Dann macht euch doch selbstständig, gegen die britische Krone aufgebracht, dann wären die USA heute kein unabhängiger Staat.«

»Warum hätte er, das denn tun sollen?«, wollte Fazzoletti eher gelangweilt wissen.

»Was weiß ich? Vielleicht wollte er die originale Unabhängigkeitserklärung haben?«

»Schön und gut, aber ich fürchte, dass solche Gegebenheiten dennoch keine Verbrechen sind, und selbst wenn, wären sie vermutlich verjährt. Außerdem müssten sie ihr Anliegen, dann vermutlich an das Betrugs-Dezernat richten.«

»Inspector! Wer weiß, was er jetzt schon wieder plant? Vielleicht wird durch sein Eingreifen China zur größten Wirtschaftsmacht auf diesem Planeten!«

Das war eine unerwartete Wendung. Fazzoletti machte große Augen und sagte: »Gott bewahre!«

Er griff in die oberste Schublade seines Schreibtischs und zog ein Formular hervor, das er unter Schwierigkeiten in die Schreibmaschine spannen wollte. Nach einigen Fehlversuchen kam er auf die Idee, zunächst sein Butterbrot von der Maschine zu entfernen, und erst dann den Bogen einzuziehen.

Der Inspector tippte langsam suchend los. Nach einer Weile hielt er inne. »Tja, lieber Herr Grafula. Ich fürchte, mir sind da doch die Hände gebunden.«

»Aber, warum?«

»Weil sie kein Künstler sind!«

»Das tut doch nichts zur Sache!« Grafula war fassungslos, fast hatte er die Staatsmacht soweit gehabt.

»Leider doch. Ich darf das Feld Nachname auf diesem Formular nur dann leer lassen, wenn der Anzeigenerstatter, in diesem Fall also sie, Künstler ist.«

IV

Sofia

Im Haus von Nestor Nigglepot gab es eigentlich nur eine wichtige Regel: Wenn man nicht wusste, wofür etwas gut war, ließ man am besten die Finger davon. Doch Lilly Foo war nicht nur schlau, sondern auch vorsichtig genug, um auf diese Einschränkung selber zu kommen. Aber, sonst gab es hier jede Menge zu entdecken!

Scheinbar hatte dieser bemerkenswerte Mann so ziemlich jede wichtige Epoche der Menschheitsgeschichte besucht, um sich möglichst viele Besonderheiten, Schätze und Kostbarkeiten unter den Nagel zu reißen. Warum er das tat, war der Chinesin völlig unklar.

Lilly wusste nicht, was sie von Nestor Nigglepot halten sollte, darum war ihre erste Adresse für wichtige Fragen sein Butler Rául. Obwohl der ständig irgendetwas zu erledigen hatte, nahm er sich immer Zeit, um ihr auf fast alles möglichst umfassend zu antworten.

»Arbeiten sie eigentlich schon lange für Nestor Nigglepot, Herr Rául!«

»Nennen sie mich bitte einfach nur Rául, junge Dame!«

»Nur, wenn sie mich Lilly nennen!«

»Gut Lilly, darauf können wir uns einigen«, war die Antwort. Und weiter: »Ich denke, ich habe Herrn Nigglepot kennengelernt, als ich so alt war wie du jetzt.«

»Aber jetzt sind sie ein alter Mann … ähm, tut mir leid … ich wollte …« Lilly war verlegen.

»Ich fürchte, du hast recht.« Rául lächelte sie an. »Aber ein Leben, hier in diesem Haus, kann recht anstrengend sein.«

»Wieso? Hat Nestor Nigglepot sie zu irgendetwas gezwungen, zum Arbeiten, oder so etwas?«

Lilly war wieder in Hab-Acht-Stellung, denn das Kinder zu etwas gezwungen werden konnten, davon wusste sie aus ihrem Kinderheim genug zu berichten.

»Um Himmelswillen!« Jetzt musste Rául richtig lachen. »Nein, ganz sicher nicht. In diesem Haus kann dir nichts passieren. Eigentlich hast du sogar das große Los gezogen.«

»Wieso eigentlich?«, wollte Lilly wissen.

»Wenn du es lange genug mit Nestor Nigglepot aushältst, wirst du erkennen, was ich meine.«

»Wie lange halten sie es denn schon mit ihm aus, Rául?«

»Viel, viel länger, als ich heute alt aussehe«, war die mysteriöse Antwort.

»Stimmt das mit dieser Zeitmaschine wirklich?« Das Mädchen wollte jetzt doch ein bisschen mehr erfahren.

»Auf diese Frage darf ich dir nicht antworten, Lilly.«

»Warum nicht?«

»Weil ich es verboten habe!«, flötete es durch den Raum.

Nestor Nigglepot stand plötzlich mit großer Geste da.

»Das gehört zu unserem Wettkampf, meine Liebe!« Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste von einem Ohr zum anderen. »Du glaubst mir nicht. Das ist dein gutes Recht. Und mein gutes Recht ist – zumindest in diesem Haus – die Spielregeln festzulegen. Und die erste Regel ist: Fragen zum Thema Zeitmaschine oder zur Herkunft von Nestor Nigglepot werden erst beantwortet, wenn alle Beteiligten felsenfest davon überzeugt sind, dass Nestor Nigglepot immer …«, er holte weit mit den Armen aus und fuhr fort: »… und ausschließlich die Wahrheit spricht.« Seine Nase berührte nun fast die von Lilly. »Die zweite Regel lautet: Lilly Foo muss das Reiseziel festlegen!« Damit drehte er sich um und sagte knapp: »Rául, komm mit! Das Fräulein will überlegen.«

»Aber ich weiß doch gar nichts von der Welt. Ich kenne nur Hongkong!«, rief Lilly den beiden hinterher.

»Geh in die Bibliothek und such dir ein hübsches Ziel aus«, antwortete der Hausherr knapp.

»Ich kann aber nicht lesen.« Das Mädchen klang ziemlich kleinlaut.

Nestor blieb stehen und dreht sich zu Lilly um: »Was habt ihr denn in dem Kinderheim, wo du herkommst, gemacht?«

»Geschlafen, gegessen und gearbeitet«, kam es traurig zurück.

»Rául, bring’ Lilly Foo lesen bei.«

»Mit dem Didaktafon, Sir?«

»Nein, ganz normal. Buchstabe für Buchstabe. Wir haben Zeit!« Lachend verschwand er hinter der nächsten Tür.

»Danke, Nestor Nigglepot!« Die junge Chinesin strahlte über das ganze Gesicht.

Rául war ein guter Lehrer und Lilly eine fleißige Schülerin. Darum dauerte es nicht besonders lang, bis sich dem Mädchen der riesige Schatz dieser einmaligen Bibliothek eröffnete. Sie konnte sich kaum satt lesen, denn hier waren alle wichtigen Bücher der Weltgeschichte versammelt.

Natürlich waren viele Bücher schwierig oder in fremden Sprachen verfasst, aber die Bücher, die sie lesen konnte und auch verstand, verschlang sie. Manchmal war sie den ganzen Tag in der Bibliothek oder – wenn es schön war – im Garten und las Seite um Seite. Ihr eigener, persönlicher Wissensvorrat explodierte innerhalb weniger Monate. Allein dafür hatte es sich gelohnt, dass sie Nestor Nigglepot gefolgt war.

Zu fast allem, was sie gelesen hatte, konnte sie sich angeregt mit Rául unterhalten, der scheinbar genauso viel Freude an Büchern hatte wie sie. Und beinahe hatte sie vergessen, warum sie lesen gelernt hatte. Aber nachdem der Herbst vorüber war, fragte Nestor Lilly Foo beim Frühstück, das sie für gewöhnlich zusammen mit Rául, im unglaublich gemütlichen, aber kleinen Bunten Salon, einnahmen: »Und Lilly? Weist du mittlerweile, wo es hingehen soll?«

»Ich dachte an Ägypten … zu den Pharaonen«, war ihre unsichere Antwort.

»Da wäre ich vorsichtig«, sagte Rául nachdenklich.

»Warum?«, hakte Lilly nach.

»Gottkönige können ganz schön merkwürdig sein«, mischte sich Nestor ein.

»Das musst du gerade sagen, Nestor Nigglepot!«

»Frechdachs!«, kam es zurück.

»Na dann … Atlantis.«

»Oh nein!«, sagte Nestor, beinahe Hilfe rufend, und es war klar, dass er das mal wieder nur denken wollte, außerdem hatte er sich verschluckt.

»Nicht nach … Atlantis?«, fragte Lilly zuckersüß.

»Ach nein! Da ist immer schlechtes Wetter, da mitten im Atlantik und außerdem weiß ja keiner, ob es das überhaupt gegeben hat. Und wenn ja, dann wann? Nein, nein, besser nicht nach Atlantis.« Nestors Versuch das Ziel madig zu machen, war einfach gesagt schlecht.

Aber das Mädchen war fair und wollte es sich mit Nestor Nigglepot auch nicht verscherzen. Sie war aber clever genug, das Thema nicht ganz abreißen zu lassen. »Dann möchte ich den griechischen Philosophen Platon besuchen!«

»Platon?« Auch dieser Vorschlag schien Nestor Nigglepot, nicht wirklich recht zu sein.

Aber Rául mischte sich vermittelnd ein. »Lilly Foo hat drei Vorschläge gemacht und Platon ist berühmt, für seine großartigen philosophischen Thesen …«

»… und dafür, dass er etwas über Atlantis wusste! Dieses kleine Miststück!« Nestor Nigglepot zwang sich, das auch tatsächlich nur zu denken. Dann trank er seinen Tee aus, stand auf und sagte: »Rául, bereite alles vor. Wir reisen ins antike Griechenland.«

»Ich glaube, jetzt ist er sauer auf mich«, sagte Lilly Foo zu Rául, der sich daran machte, den Frühstückstisch abzuräumen. »War das mit Platon vielleicht doch keine so gute Idee?«

»Mach dir keine Gedanken. Eigentlich mag Herr Nestor solche Herausforderungen besonders gern. Aber er hat es natürlich lieber, wenn er selbst bestimmen kann, wie diese dann aussehen.«

»Aber irgendetwas hat ihn daran gestört, das war doch nicht zu übersehen.«

»Du willst Platon besuchen, weil du gelesen hast, das er etwas über Atlantis wusste, oder es zumindest vorgab. Und eigentlich wolltest du ja auch lieber dort hin. Aber ganz ehrlich, Nestor Nigglepot hat seine Probleme mit Atlantis.«

»Was für Probleme denn?«, Lilly hakte nach.

»Das muss er dir schon selber sagen.« Rául zuckte mit den Schultern und hob die Augenbrauen. Dann fuhr er fort: »Komm! Es gibt viel zu tun. Willst du mir helfen?«

»Na klar! Womit fangen wir an? Koffer packen?«

»Das kommt später.«

Das Haus in dem Lilly nun lebte, barg nicht nur jede Menge Schätze und Kostbarkeiten, sondern auch viele Geräte und Maschinen, die im Alltag sehr nützlich waren. Die Bilderrahmen, mit den sich bewegenden Bildern, waren das, was Rául Bildschirme nannte, und so gab es hier noch viel mehr, was es in Hongkong im Jahre 1921 nicht gab. In den knapp fünf Monaten, die sie nun bei Nestor Nigglepot und Rául war, hatte sie schnell begriffen, was ein Telefon ist und wie es funktioniert. Sie kannte natürlich die praktischen Küchenhelfer Kühlschrank und Mikrowelle, und selbstverständlich waren ihr auch Fernsehen und Computer nicht entgangen.

Aber der Butler verstand es blendend, ihr, auf den ersten Schritten in dieses neue Leben, Wissen nahezubringen, das auch ohne Strom funktionierte. Wenn man Fernsehen aber nicht kennt, kann plötzlich zu viel davon sehr verwirren. Und Lilly zeigte, zu seiner Freude, erstaunlich wenig Interesse daran. Meist ging es ihr zu laut, zu schnell und zu bunt in dem Kasten her. Bücher waren bisher ihre liebsten Begleiter gewesen.

»Zunächst einmal müssen wir soviel wie möglich über Platon in Erfahrung bringen, so viele Informationen sammeln, wie es über ihn gibt. Am Besten wir wüssten, wo er überall war, wann und warum, mit wem er befreundet war, wo seine Familie lebte, sein Lieblingsgetränk, ob er reich war oder arm, mit welcher Sorte Geld man zu seiner Zeit bezahlte und welche Sprachen er sprechen konnte. Einfach alles!«

»Sein Lieblingsgetränk?«, stutze Lilly.

»Na ja, das wird noch das Einfachste sein. Zu Platons Zeiten kann das nur Wein oder Wasser gewesen sein. Säfte, Tee oder Limonaden gab es damals entweder noch nicht oder es war zu kompliziert, sie herzustellen. Aber das Beste wird sein, wir fragen Sofia.«

»Wer ist das denn?«, fragte das Mädchen und räumte weiter die Spülmaschine ein.

»Unser Zentralcomputer«, antwortete der Butler.

»Und das Ding weiß das alles?«

»Nicht alles, aber was es an Wissen gibt, ist dort gespeichert, übersetzt und vor allem sinnvoll miteinander verknüpft.«

»Ist das so etwas Besonders?«

»Oh ja. Es ist wie in deinem Kopf. Wenn du in einem Buch liest, ein Apfel ist grün und in einem anderen steht, er ist rund, dann verknüpfen sich diese Informationen. Du weißt dann, ein Apfel ist grün und rund. Das Internet zum Beispiel verknüpft nicht. Es kann dir nur sagen, wie viele Seiten über Äpfel du dort finden würdest.«

»Und bestimmt ist Sofia die einzige ihrer Art.«

»Das ist auch gut so.«

»Warum? Es wäre doch super, wenn es viele davon gäbe …«

»… und niemand würde sich mehr die Mühe machen, seinen eigenen Kopf zu benutzen«, ergänzte Rául. »Aber wir brauchen sie ganz sicher, denn ohne Sofia würden die Vorbereitungen für unsere Reise Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen.«

 

Als sie mit Aufräumen fertig waren, verließen sie den Bunten Salon in Richtung Empfangshalle. Rául betätigte einen völlig unscheinbaren Knopf, der gut versteckt unter der linken Freitreppe angebracht war und eine Geheimtür unter der rechten Freitreppe öffnete sich leise. Das war der Grund, warum Lilly den Zentralcomputer bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Hinter der Geheimtür führte eine schmale Treppe nach unten. Rául ging vor.

»Was macht Nestor Nigglepot eigentlich immer? Man sieht ihn so gut wie nie. Sie habe ich seit meiner Ankunft hier täglich gleich mehrfach, manchmal sogar stundenlang gesehen.«

»Er arbeitet.«

»Und was arbeitet er?«

»Ich glaube nicht, dass Herr Nestor möchte, dass ich dir diese Frage beantworte.«

»Ach bitte, Rául! Ich will doch nur wissen, was er den ganzen Tag über anstellt. Ich meine, der Kerl ist ja fast nie da, nicht mal jetzt.«

»Nestor Nigglepot wünscht, dass keine Fragen über ihn beantwortet werden, und ich werde mich daran halten, junge Dame! Und ob er nicht da ist, kannst du gar nicht wissen. Seldom House ist gewaltig. Es gibt über hundert Zimmer, allein im Haupthaus. Besser du fragst nicht weiter nach ihm.«

»Sind sie mir jetzt böse, Rául?«

»Nein. Ich wäre sogar enttäuscht, wenn du es nicht wenigstens mal versucht hättest.« Er drehte sich um und lächelte sie an. »Neugierde ist gut. Ohne sie wärest du nicht hier.«

Die Treppe, Lilly zählte 42 Stufen, mündete in einen Gang, der zwar nicht so hoch wie die Bildergalerie war, aber mindestens genauso lang und hatte je drei Türen ohne Türgriffe zu beiden Seiten. Am Ende befand sich eine siebte Tür. Wände und Boden waren dunkel und völlig matt. Beinahe hatte man das Gefühl durch ein Nichts zu schweben, wäre an der Decke nicht ein blau leuchtendes Band gewesen. Auf jeder Tür leuchteten Symbole, die das Mädchen nicht kannte, ebenfalls in Blau. Rául steuerte auf die Tür am Ende zu und als er ankam, sagte er: »Hallo Sofia! Mach bitte auf!«

Eine sehr warme Frauenstimme antwortete genauso normal zurück: »Gerne Rául! Willst du mir endlich unsere neue Mitbewohnerin vorstellen?«

Die Tür verschwand einfach und gab den Weg in einen großen, runden Raum frei, der, verglichen mit dem Gang, sehr hell war. Auch hier war das Licht blau, aber die Wände waren metallisch. Sie bestanden aus wabenförmig angeordneten, handtellergroßen Halbkugeln, die scheinbar unvermittelt aufleuchteten und wieder erloschen. Decke und Boden waren aus dem gleichen Material wie die zuvor im Gang.

In der Mitte des Raumes, der einen Durchmesser von gut fünfzehn Metern hatte, waren drei moderne, schlichte, schwarze Sessel um einen schwarzglänzenden Tisch angeordnet. Über dem Tisch schwebte die Hauptlichtquelle des Raums. Eine blaue Lichtwolke, gut einen Meter breit, waberte langsam und unregelmäßig vor sich hin. Es war, als hätte man das Licht anfassen können.

Lilly konnte sich das Staunen in diesem Haus tatsächlich nicht abgewöhnen, denn sie stand mal wieder mit großen Augen da. Die Wolke veränderte plötzlich sehr geschmeidig ihre Form und nahm die durchsichtige Gestalt einer hübschen Frau, mit einer klassisch gewundenen Zopffrisur, an. Als stünde diese Frau mitten in dem Tisch, hörte ihr Körper auf Bauchnabelhöhe auf. Ihr Kleid war klassisch, schlicht und ausgesprochen schick.

»Hallo Lilly! Ich bin Sofia«, sagte die blaue Erscheinung.

»Hallo … Sofia!« Die Chinesin traute ihren Augen nicht.

»Na, mal nicht so schüchtern. Du wirst dich an mich gewöhnen.« Sofia freute sich offensichtlich über die Gesellschaft und schaute dann zu Rául, »Und wie geht es dir, mein Freund?«

»Das Übliche, das Übliche«, antwortete er. »Herr Nestor und Lilly wollen gemeinsam verreisen.«

»Du willst mit Nestor auf Tour gehen? Da werdet ihr eine Menge Spaß haben.« Sofia schaute nun wieder zu Lilly. Sie bewegte sich etwas langsamer als echte Menschen.

Das Mädchen bekam keinen Ton heraus.

»Alles O.K. mit dir, Lilly?« Der Zentralcomputer schaute sie besorgt an.

»Ja … schon, aber …« Sie wollte nicht herumdrucksen, aber es ging nicht anders. Das hier hatte doch viel mehr Ähnlichkeit mit einem Gespenst, als mit einer Maschine.

»Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Alles was du von mir siehst, ist nur Licht. Ich kann gar nicht beißen.« Die Maschine winkte Lilly zu sich. »Komm, fass mich mal an!«

Lilly ging langsam auf den Tisch zu und streckte ihre linke Hand vorsichtig aus. Dort, wo sie Sofia berührte, wich das Licht zurück wie Rauch.

»Siehst du?«

Das Mädchen zog die Hand schnell wieder zurück, dabei folgten ihr ein paar Lichtschwaden, um dann langsam wieder in die Ursprungsform zurückzukehren. Sie schaute Hilfe suchend zu Rául.

»Mach dir keine Sorgen. Sofia ist wirklich nett.«

Lilly nahm ihren Mut zusammen und sagte leise: »Du sprichst und du denkst … aber du bist doch eine Maschine?«

»Du sprichst und denkst doch auch.« Sofia schaute das Mädchen interessiert an.

»Nein … ja doch, tue ich, aber wieso du? Maschinen können doch nicht denken und reden.«

Sofia schaute nach oben, als würde sie überlegen. »Die meisten Maschinen denken und reden nicht, das stimmt. Aber wieso denkst und sprichst du?«

»Ich bin ein Lebewesen«, antwortete Lilly.

»Aber die meisten Lebewesen reden und denken auch nicht, oder etwa doch? Das muss ja ein Geplapper, sein bei euch Lebewesen, wenn jede Ameise und jeder Grashalm ständig ihren Senf dazu geben.«

»Das ist doch Quatsch. Ich bin ein Mensch, nur darum kann ich denken und sprechen.«

»Ja stimmt!« Sofia schaute die Chinesin gespielt erstaunt an. »Du bist ein hoch entwickeltes Lebewesen.«

Lilly hatte verstanden: »Und du bist eine hoch entwickelte Maschine.«

»So ist es, Lilly!« Die blaue Gestalt sah sie lächelnd an. »Deshalb kann ich denken und sprechen. Und lesen und singen … nur weg kann ich hier nicht so richtig, aber dafür muss ich auch nie zum Klo.«

Jede ihrer Äußerungen unterstrich sie mit einer deutlichen und passenden Mimik, als wenn sie um jeden Preis verhindern wollte, dass man sie allzu sehr missverstehen könnte. Sie war fröhlich, freundlich und höflich. Sie hatte keine Launen, war offensichtlich ehrlich und sie scherzte gern. Es war tatsächlich gut, dass nicht jeder eine Sofia hatte. Aber aus einem anderen Grund, als Rául ihn befürchtet hatte. Die Welt würde ganz einfach vor Nettigkeit platzen.

»Wieso bist du so, wie du bist?«, wollte Lilly Foo wissen.

»Wäre es dir lieber, wenn ich wie die anderen Maschinen wäre? Plump, dumm, unfreundlich, selbstverliebt und am Ende würde mich doch keiner ohne Handbuch verstehen?« Sofia schüttelte den Kopf. »Und wieso bist du so, wie du bist?«

»Ich bin so geworden …« Etwas Klügeres fiel dem Mädchen auf die Schnelle nicht ein.

»Mir geht es genauso. Ich musste zwar nicht Laufen lernen, aber ich konnte auch erst denken und sprechen, als ich verstehen konnte. Und das zu lernen, hört nie auf. Jetzt muss ich zum Beispiel lernen, dich zu verstehen.«

»Und ich dich!«

»Ganz genau.« Sofia machte eine kurze Pause. »Also ihr zwei Hübschen, wo soll’s denn hingehen?«