Deutsche Sprachgeschichte

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3.1.3 Vom Germanischen zum WestgermanischenWestgermanisch

Beim Germ. geht man davon aus, dass es zunächst als relativ homogene Sprache existierte; ob man dies auch fürs Wg. annehmen kann, ist unklar: Teilweise wird davon ausgegangen, dass man stattdessen drei Dialektgruppen unterscheiden müsse, die traditionell nach den von Tacitus in seiner Germania erwähnten Großstämmen als Ingwäonisch, Istwäonisch und Hermionisch bezeichnet werden, oder in modernerer Terminologie als Nordseegermanisch, Rhein-Weser-Germanisch und Elbegermanisch, wobei das Hochdeutsche aus den beiden letztgenannten Gruppen hervorgeht (vgl. Henriksen & van der Auwera 1994: 9). In diesem kurzen Abschnitt wollen wir jedoch ausschließlich auf „gemeinwestgermanische“ Lautwandelprozesse eingehen.

Im vokalischen Bereich fanden vom Germ. zum Wg. mehrere Umlautprozesse statt, auf die wir in Kap. 4.1.2 noch näher eingehen werden: Dazu gehört die Hebung /e/ > /i/Hebung e>i vor Nasal+Konsonant im Wg. vor Nasal + Konsonant, vgl. ie. *bhend- > wg. *bindan ‚binden‘, lat. ventus – dt. Wind, daher gelegentlich auch Ventus-Wind-GesetzVentus-Wind-GesetzHebung e>i vor Nasal+Konsonant im Wg. genannt. Durch den wg. i-Umlaut (Hebung) wandelt sich e > i vor i, j und u in der Folgesilbe, und durch den wg. a-Umlaut (Senkung) entwickeln sich i > e und u > o vor a, e, o in der Folgesilbe (Kap. 4.1.2). Diese drei Lautwandelprozesse markieren den Beginn einer Reihe von Umlautprozessen, die sich quasi leitmotivisch durch die deutsche Sprachgeschichte ziehen (vgl. z.B. Sonderegger 1979).

Im konsonantischen Bereich geht der stimmhafte Reibelaut *-z (Achtung: z bezeichnet hier ein /z/ wie in engl. magazine, kein /ts/ wie in Zug!) im Auslaut zwei- oder mehrsilbiger Wörter verloren, z.B. ie. *daǥaz > germ. *daga- ‚Tag‘. Wenn es hingegen nicht im Auslaut steht oder aber im Auslaut von Einsilbern, wandelt sich /z/ zu /r/ (vgl. Fortson 2010: 357), z.B. germ. *was/wēzum > wg. was/wārum (> nhd. war/waren). Dieser westgermanische RhotazismusWestgermanischer RhotazismusRhotazismus, wg.Rhotazismus, wg. betrifft diejenigen /z/-Laute, die über Verners Gesetz (s.u. Kap. 4.1.1) aus /s/ entstanden sind. Daher finden sich bis ins heutige Deutsche viele Wortpaare, in denen s mit r alterniert: frierenFrost, lehrenList, verlieren (noch mhd. verliesen, aber z.B. Partizip: verloren) – Verlust. Im engl. Flexionsparadigma von (to) be ‚sein‘ hat sich die s/r-Alternanz bis heute gehalten: was vs. were, während sie im Deutschen zugunsten von r ausgeglichen wurde (aber noch Mhd. ih waswir wâren). Ein weiterer Lautwandelprozess betrifft ebenfalls Produkte des Vernerschen Gesetzes, aber auch der 1. Lautverschiebung: Die Reibelaute β, ð, ɣ, die über die 1. Lautverschiebung aus bh, dh, gh oder über das Vernersche Gesetz aus p, t, k entstanden sind, werden zu b, d, g weiterverschoben.

Im Konsonantismus ist weiterhin die wg. KonsonantengeminationWestgermanische KonsonantengeminationKonsonantengemination, wg.Konsonantengemination, wg.Gemination zu erwähnen. Folgt einem Konsonanten innerhalb des Wortes (also nicht im Anlaut oder Auslaut) ein j, seltener auch ein r, w oder l, so wird er verdoppelt, z.B. germ. *bidjan > ahd. bitten, germ. *waljan > ahd. wellen ‚wollen‘ (vgl. Schmidt 2007: 58). Gelegentlich werden zudem m und n neben j, r, w, l als Auslöser der Gemination erwähnt, was jedoch umstritten ist (vgl. Simmler 1976: 40). Hier gilt abermals, dass wir uns nicht durch das gegenwartsdeutsche Schriftsystem in die Irre führen lassen dürfen: Doppelkonsonanten markieren heute in der Schreibung die Kürze des vorangehenden Vokals. Wenn wir im Wg. und Ahd. von Geminaten sprechen, meinen wir aber tatsächlich Doppel- bzw. Langkonsonanten, wie es sie im heutigen Deutschen nicht mehr gibt, aber z.B. im Italienischen, vgl. bello ‚schön‘, gesprochen ['bɛllo] (zum Vergleich: der deutsche Hundename Bello wäre in phonetischer Transkription [ˈbɛlo], hier wird nur ein einfaches l gesprochen – außer wenn wir, etwa im Schuluntrericht, die Silbenstruktur des Wortes hervorheben wollen und es daher für Silbe für Silbe Bel-lo [ˈbɛlˈlo] aussprechen, denn beim /l/ in Bello handelt es sich um einen sog. ambisilbischen Konsonanten, den man sowohl zur ersten als auch zur zweiten Silbe rechnen kann – aber in der alltäglichen Aussprache gibt es zwischen dem /l/ in Bello und dem in lodern keinen Unterschied).

In der Diskussion des PrimärberührungseffektsPrimärberührungseffekt (S. 90) ist Ihnen beim Beispiel denkendachte vielleicht aufgefallen, dass außer dem Wandel von /kt/ zu /ht/ und dem Umlaut /a/ > /e/ noch eine weitere Besonderheit vorliegt, die Präsens- und Präteritalform voneinander trennt, nämlich dass in Letzterer kein /n/ vorkommt. Das ist zurückzuführen auf den NasalschwundNasalschwund und Ersatzdehnung im Wg. im Wg., bei dem /n/ vor /h/ schwand; quasi als Ausgleich wurde der nachfolgende Vokal gedehnt, hier spricht man von ErsatzdehnungErsatzdehnungNasalschwund und Ersatzdehnung im Wg.. Daher hat die Präteritalform von denken auch bis ins Mhd. ein langes a: germ. *þanht- > ahd. thāhta > mhd. dâhte.

3.2 Althochdeutsch

Als AlthochdeutschAlthochdeutsch (Ahd.) wird die Volkssprache der hochdeutschen Dialekte ab dem Beginn ihrer schriftlichen Überlieferung bezeichnet (vgl. Sonderegger 2003: 1). Man beachte den Plural: Es gibt keine überregionale Ausgleichssprache (vgl. Geuenich 2000: 1144). Vielmehr fungiert „Althochdeutsch“ als Überbegriff für eine Reihe verschiedener Dialekte. Die frühesten Zeugnisse des Ahd. finden sich in vorchristlichen und christlichen Runeninschriften, in Glossen sowie in vereinzelt vorkommenden Erwähnungen volkssprachlicher Wörter in lateinischen Quellen (vgl. Wolff 2009: 54). Die eigentlichen Anfänge der Schriftlichkeit können im 8. Jh. verortet und mit dem Aufbau von Bibliotheken und Skriptorien in Klöstern und Domschulen in Verbindung gebracht werden (vgl. Geuenich 2000: 1146). Folgerichtig ist das althochdeutsche Schrifttum vor allem von Übersetzungsliteratur bestimmt, freie Dichtung dagegen ist äußerst selten (vgl. Sonderegger 2003: 59f.). Die Übersetzungen kommen dabei in ganz verschiedener Gestalt daher – teilweise handelt es sich um Interlinearübersetzungen, bei denen das lateinische Original entweder Wort für Wort oder Zeile für Zeile neben der ahd. Übertragung steht. Ein Beispiel hierfür ist (9) aus der ahd. Übersetzung von Isidors De fide catholica (zit. nach Schlosser 2004: 20f.). In der linken und mittleren Spalte stehen, wie auch in der Handschrift, lat. und ahd. Text nebeneinander; in der letzten Spalte findet sich die nhd. Übersetzung von Schlosser (2004).


(9) Qui dixit deus et fecit deus; in eo uero qui superferebatur aquis spiritus sanctus significatur. Got ist dher quhad endi got dher deta; in dhiu auh dhanne, dhazs ir oba dhem uuazsserum suueiboda, dhen heilegun gheist dhar bauhnida. Gott ist es, der sprach, und Gott (ist es), der erschuf; in „er schwebte über den Wassern“ hat er auch den Heiligen Geist bezeichnet.

Zu den wichtigsten Zeugnissen des Ahd. zählen zwei Evangelienharmonien, also Texte, die den Inhalt der vier Evangelien nacherzählen: Zum einen der althochdeutsche Tatian, zum anderen die Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg. Sie unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen Punkt: Dem ahd. Tatian (frühes 9. Jh.) lag bereits eine Evangelienharmonie zugrunde, nämlich das „Diatessaron“ des Tatian aus dem 2. Jh. Es handelt sich hier also um einen Übersetzungstext, während die Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg (spätes 9. Jh.) zweifelsohne als eigenständige Dichtung einzuordnen ist. Seine volkssprachliche Nacherzählung der Evangelien stellt „die erste große Endreimdichtung in deutscher Sprache“ dar (Bergmann et al. 2016: 42) – ein großer Teil der vorherigen ahd. Textzeugnisse, insbesondere etwa Zauber- und Segenssprüche, ist durch Stabreime (Alliteration), also den Gleichklang von Anlauten, gekennzeichnet (vgl. Sonderegger 2003: 119).

3.2.1 Phonologie des Althochdeutschen

Der wohl wichtigste Lautwandelprozess vom Germ. zum Ahd. ist die 2. LautverschiebungLautverschiebung, zweite, die das Hochdeutsche von allen anderen germanischen Sprachen unterscheidet und auf die unter 4.1.1 näher eingegangen wird. Die 2. Lautverschiebung erklärt etwa den Unterschied zwischen dt. zehn und engl. ten, zwischen dt. Pfahl und schwed. påle oder zwischen dt. wissen und nl. weten. Darüber hinaus ergeben sich jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Lautveränderungen – nach Sonderegger (2003: 248) „weit mehr als in den späteren Sprachstufen des Deutschen“.

Im vokalischen Bereich sind hier die ahd. MonophthongierungMonophthongierung, ahd., die ahd. DiphthongierungDiphthongierung, ahd. und der ahd. DiphthongwandelDiphthongwandel, ahd. zu nennen (vgl. z.B. Roelcke 1998a: 1003; Bergmann et al. 2016: 73f.).

 

Bei der MonophthongierungMonophthongierung, ahd., die bereits im frühen Ahd., nämlich im 7./8. Jh., stattfindet (vgl. Wegera & Waldenberger 2012: 102), wandelt sich ein Diphthong zum einfachen Langvokal:


Monophthongierung auslösender Kontext Beispiel
wg. ai > ahd. ē vor /r/, /h/, /w/ got. saiws – ahd. (o)
wg. au > ahd. ō vor Dental (/s/, /z/, /d/, /t/, /n/, /l/, /r/) oder vor /h/ got. rauþs – ahd. rōt

Tab. 8: Ahd. Monophthongierung (Beispiele aus Bergmann et al. 2016).

Wo die in Tab. 8 genannten Kontexte nicht gegeben sind, entwickeln sich ai und au nicht zu Monophthongen, werden aber ebenfalls verändert. Dieser Diphthongwandel ist in Tab. 9 zusammengefasst.


Diphthongwandel auslösender Kontext Beispiel
wg. ai > ahd. ei alle außer denen in Tab. 8 got. gaits – ahd. geiz
wg. au >ahd. ou got. aukan – ahd. ouhhōn ‚mehren‘
wg. eu > ahd. eo (> io > ie) /a/, /e/, /o/ in der Folgesilbe germ. *keus- > ahd. kiusu ‚ich küre‘
wg. eu > ahd. io alle anderen Kontexte germ. *keus- > ahd. keosan/kiosan/kiesan ‚küren‘

Tab. 9: Ahd. Diphthongwandel. Beispiele aus Vogel (2012).

Im Zuge der DiphthongierungDiphthongierung, ahd. schließlich wandeln sich die aus dem Germ. ererbten – also nicht durch die Monophthongierung (Tab. 8) entstandenen – langen Monophthonge /ē/ und und /ō/ zu Diphtongen (Tab. 10).


Diphthongierung Beispiel
germ. *ē2 > ahd. ea > ia > ie got. hēr – ahd. hear/hiar/hier ‚hier‘
germ. ō > ahd. oa > ua > uo got. broþar – ahd. bruoder ‚Bruder‘

Tab. 10: Ahd. Diphthongierung. Beispiele aus Vogel (2012).

Diese Lautwandelprozesse lassen sich in einen größeren Zusammenhang einordnen. So kann die Diphthongierung als phonologischer SchubSchub- und Sogwirkungen gedeutet werden. Beispielsweise geht Moulton (1961: 235) davon aus, dass die sich vom Norden her ausbreitenden Monophthongierungen einen „strukturellen Druck“ auf die alten Phoneme /ē/ und /ō/ ausübten. Salopp könnte man sagen: Die Sprecherinnen und Sprecher verhindern eine „Inflation“ von /ē/ und /ō/, die entstanden wäre, wenn die aus der Monophthongierung hervorgegangenen /ē/ und /ō/ mit den bereits existierenden zusammengefallen wären. Damit es nicht dazu kommt, weicht man bei den „alten“ Lauten einfach auf andere aus.

Monophthongierung und Diphthongwandel sind zudem ein Paradebeispiel für eine PhonemspaltungPhonemspaltung (Fig. 12): Je nach Kontext spaltet sich /ai/ auf in /ē/ oder /ei/, während /au/ je nach Kontext entweder zu /ō/ wird oder zu /ou/. Dabei sind /ē/ und /ei/ bzw. /ō/ und /ou/ zunächst AllophoneAllophon, denn ihre Verteilung ist über den phonologischen Kontext vorhersagbar, ähnlich wie die Verteilung zwischen ich-Laut und ach-Laut im Gegenwartsdeutschen vorhersagbar ist (auch in Nonsenswörtern wie mechod oder knuch wählen wir automatisch die „richtige“ Form; umgekehrt können wir in existierenden Wörtern die beiden Laute, zumindest in der Theorie, problemlos austauschen und werden trotzdem verstanden). Zunächst sind /ē/ und /ei/ bzw. /ō/ und /ou/ also noch keine Phoneme, d.h. noch keine bedeutungsunterscheidenden Einheiten, sondern lediglich Allophone. Erst wenn die Kontexte, die die Monophthongierung auslösen, verlorengehen, wird die Verteilung der Laute unvorhersagbar, und sie entwickeln sich zu eigenständigen Phonemen.1


Fig. 12: PhonemspaltungPhonemspaltung durch ahd. Monophthongierung und ahd. Diphthongwandel.

3.2.2 Morphologie des Althochdeutschen

Die Substantivflexion des Ahd. zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Deklinationsklassen je nach Stamm in unterschiedliche Klassen gliedern. Daher hat das Ahd. ein sehr breit gefächertes Deklinationsklassensystem. So lautet der Genitiv Plural von zunga ‚Zunge‘, das zu den n-Stämmen gehört, dero zung-ōn-o, von kraft, das zu den i-Stämmen gehört, dero kreft-i-o. Zwischen dem Grundmorphem und dem Flexionssuffix steht dabei jeweils das sog. stammbildende Element (vgl. Bergmann et al. 2016: 105–108). Auch bei den Verben ist der Stammvokal für die Einteilung der Konjugationsklassen zentral. Durch die Abschwächung der unbetonten Nebensilben geht jedoch der Unterschied zwischen den einzelnen Klassen sowohl bei den Substantiven als auch bei den Verben allmählich verloren, worauf wir im Kapitel zur mhd. Morphologie zurückkommen werden (s.u. 3.3.2).

Dies zeigt, dass die Entwicklung des (flexions)morphologischen Systems im Ahd. und darüber hinaus untrennbar mit den phonologischen Wandelprozessen verbunden ist, die in Kap. 3.2.1 erwähnt wurden. Nicht nur die NebensilbenabschwächungReduktion der unbetonten Nebensilben wirkt sich hier aus: Auch der Umlaut führt zu einer Differenzierung des morphologischen Systems, da er z.B. zur Pluralmarkierung nutzbar gemacht wird, vgl. ahd. Sg. gast – Pl. gasti > spätahd. Sg. gast > Pl. geste (vgl. Sonderegger 1998: 1172; Sonderegger 2003: 263; s.u. Kap. 4.1.2).

3.2.3 Syntax des Althochdeutschen

Das Ahd. zeichnet sich insgesamt durch eine etwas freiere Wortstellung aus (vgl. Greule 1998: 1209). So steht das finite Verb im nhd. Aussagesatz grundsätzlich an zweiter Stelle, z.B. Ich bin Lehrerin, in Hamburg regnet es immer (die Präpositionalphrase in Hamburg zählt als eine Konstituente!), was kurz auch als V2-Stellung bezeichnet wird. Im Ahd. kann es aber auch in V1 stehen wie in (10) oder in V3 wie in (11).


(10) uuas thar ouh sum uuitua | in thero burgi
war da auch eine gewisse Witwe in dieser Stadt
‚Es war auch eine gewisse Witwe in dieser Stadt‘
(Tatian 201, 2f., zit. nach Fleischer & Schallert 2011: 152)
(11) ih inan infahu
ich ihn empfange
‚Ich empfange ihn‘
(Isidor 18, 17–18, zit. nach Fleischer & Schallert 2011: 150)

Jedoch ist V2 bereits im Ahd. die häufigste Stellung und setzt sich im weiteren Verlauf der deutschen Sprachgeschichte immer mehr durch (vgl. Szczepaniak 2013).

Darüber hinaus ist das SubjektpronomenSubjektpronomen, Obligatorizität noch nicht obligatorisch. Im Nhd. wäre ein Satz wie Ich lache ohne das Pronomen ich ungrammatisch: *lache. Nur umgangssprachlich ist die Weglassung des Pronomens möglich, wenn der Kontext eine eindeutige Interpretation erlaubt: Bin grad nicht zu Hause, sind noch unterwegs. Im Ahd. hingegen sind solche Formen zunächst üblich: Gilaubiu in got fater almahtigon ‚[Ich] glaube an Gott, den allmächtigen Vater‘ (Weißenberger Katechismus, 8. Jh., zitiert nach Schlosser 2004: 36). Dies auch deshalb, weil die Endung -u die grammatische Information ‚1. Person Sg. Präsens‘ deutlich zum Ausdruck bringt, sodass die Verwendung des Personalpronomens ih redundant wäre; es wird aber im Ahd. zur Verstärkung eingesetzt, vgl. Forsahhistu unholdun?ih fursahhu ‚Schwörst du dem Teufel ab? – Ich schwöre ab.‘ (Fränkisches Taufgelöbnis, 9./10. Jh., zit. nach Schlosser 2004: 46). Der Gebrauch des Subjektpronomens nimmt jedoch im Laufe des Ahd. zu (vgl. Sonderegger 2003: 22).

Im Kasussystem des Ahd. findet sich im 8. und 9. Jh. noch vereinzelt der Instrumentalis, z.B. joh ouh gíbit thir thia wîst / thu húngiru nistírbist ‚und er gibt dir die Nahrung, damit du nicht vor Hunger stirbst‘ (Otfrid von Weißenburg, zit. nach Sonderegger 2003: 348). Im Laufe des Ahd. fällt dieser Kasus jedoch weg, sodass sich das fünfgliedrige System zum heutigen viergliedrigen mit Nominativ, Genitiv, Akkusativ und Dativ reduziert. Die Aufgaben des Instrumentalis haben andere Kasus übernommen (z.B. mit dem HammerDat.); man spricht hier von KasussynkretismusKasussynkretismus (Kasuszusammenfall).

 

Im Ahd. beginnt sich auch das sog. „klammernde VerfahrenKlammerndes Verfahren“ herauszubilden, das die gesamte deutsche Sprachgeschichte durchzieht und auf das wir in Kap. 6.1.2 noch etwas ausführlicher zurückkommen werden. Damit ist gemeint, „dass syntaktisch und/oder funktional zusammengehörige Elemente in Distanzstellung zueinander treten“ (Nübling et al. 2013: 96), z.B. dieser die KlammerKlammerKlammerndes Verfahren illustrierende, mit viel Füllmaterial angereicherte und, als ob das noch nicht genug wäre, mit noch mehr unnötigen Attributen versehene Beispielsatz. (12) zeigt ein Beispiel aus dem althochdeutschen Tatian (zit. nach Greule 1998: 1211). lK steht dabei für ‚linke KlammerKlammerndes Verfahren‘, rK für ‚rechte KlammerKlammerndes Verfahren‘.


(12) Vorfeld lK Mittelfeld rK Nachfeld
nóh thanne ni was Iohannes gisentit in carcari
Noch dann nicht war Johannes gesandt in Kerker
‚Zu diesem Zeitpunkt war Johannes noch nicht ins Gefängnis geworfen worden.‘

Die oben diskutierten Prozesse der allmählichen Fixierung der WortstellungWortstellung und der Durchsetzung bzw. graduellen Obligatorisierung des Subjektpronomens können mit der Herausbildung des klammernden VerfahrensKlammerndes Verfahren in Zusammenhang gebracht werden, da beide zur Entstehung klammernder Strukturen beitragen, indem sie Aufgaben, die zuvor die Morphologie übernommen hat, gleichsam auf die Syntax übertragen: Was vorher im Wortinneren ausgedrückt wurde, wird nun in ein anderes Wort „ausgelagert“, und daraus ergibt sich die Möglichkeit, weiteres Material zwischen diese beiden Wörter einzufügen – also die Möglichkeit zur Klammerung.

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