Kleine Frau im Mond

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Alarm: Evakuiert die Dienststelle!

Mittwoch, 22. März 1944

Hektisch räumten sie Akten auf flache Schubkarren, jeder packte mit an. Niemand sprach, alle atmeten angestrengt. Manfred hatte eine Karre nach der anderen hergebracht, auf die die meist weiblichen Mitarbeiter die wichtigsten Vorgänge legten. Teilweise waren die Bände übervoll, so dass man sie nicht werfen konnte, damit die Bindung nicht brach. Die Arme schmerzten und die gut geheizten Räume ließen bald den Schweiß die Kleidung durchnässen.

Gegen halb eins war die Schnatterer von einem Büro zum anderen gelaufen und hatte Anweisung gegeben, sämtliche besonders relevanten Aktenbestände sofort zu evakuieren. Auch wenn sie nicht sagte warum, so war doch allen klar: Etwas Großes musste bevorstehen.

Kurz zuvor, um 12.27 Uhr, war Stabsfeldwebel Sauerland zu ihr gekommen und hatte ihr im Flüsterton die Meldung des Wako gereicht, die er soeben fernmündlich erhalten und mitgeschrieben hatte:

Zahlreiche feindliche Jäger an der deutsch-holländischen Grenze. Kurs Ost, zahlreiche Bomber folgen. Außerdem zahlreiche Jäger und Bomber westlich Helgoland, Kurs Ost. Jäger im Raum Cloppenburg, zahlreiche Bomber folgen in 15 Minuten Abstand. Kurs Ost. Zahlreiche Jäger auf der Linie Nienburg-Minden. Zahlreiche Bomber folgen in 15 Min. Abstand. Kurs Ost. Zahlreiche Jäger im Raume Celle-Hannover, Kurs Ost. Jäger im Raum Braunschweig. Bomber folgen in 20 Minuten Abstand. Kurs Ost. Warnbefehl L15.

Und er hatte nicht einmal alle Meldungen notiert. Beiden war klar: Das waren hunderte von Flugzeugen. Noch war unbekannt, ob sie ein einziges Ziel hatten oder sich aufteilen würden und wie viele von ihnen Ablenkungsangriffe durchführten. Es war mit einem möglichen Großereignis zu rechnen, das den 9. März möglicherweise in den Schatten stellen würde: Noch ein zentraler und konzertierter Angriff auf die Reichshauptstadt. Und wenn das geschah, mussten kriegswichtige Behörden ihre aktiv bearbeiteten Bestände sichern, soweit sie nicht zur Auslagerung abtransportiert werden konnten. Eine öffentliche Luftwarnung sollte eigentlich wenige Minuten später erfolgen, doch sie blieb aus. Stattdessen röhrte um 12.43 Uhr sofort die Luftschutzsirene los und gab Fliegeralarm, als die ersten Aktenberge bereits im Keller gelandet waren und die nächste Fuhre fast fertig war.

»Jetzt gilt‘s!«, schrie Stabsfeldwebel Sauerland über den Gang, als wenn die wie Ameisen in und aus den Büros strömenden Mitarbeiter das nicht längst wüssten. »Nur die wichtigsten Vorgänge!«

»Hier sind weitere zwei«, rief Mara und Manfred konnte den Aktenbänden im Flug gerade noch einen Drall verpassen, damit sie auf dem Wagen landeten und nicht daneben.

Kolleginnen hasteten an ihnen vorbei und hockten teilweise auf den Karren, um möglichst viel Mensch und Material in dem Lastenaufzug verschwinden zu lassen.

»Sind das jetzt…«, alle Akten?, wollte er sagen, als ein lauten Grummeln ihn verstummen ließ. Ihre Blicke gingen nach oben.

»Das ist zu früh«, flüsterte Mara entsetzt.

»Ja, viel zu früh«, wisperte Manfred. Keine fünf Minuten waren seit dem Alarm vergangen, normalerweise hatte man etwa fünfzehn Minuten Zeit, um in die Luftschutzräume zu gelangen. »Schnell, weg. In den Keller.« Das Grollen war nahe, längst unangenehm dröhnend und es wurde lauter.

Sie rannte zurück in ihr Büro. Manfred fuchtelte ihr hinterher.

»Mara, komm. Lass den Kram liegen!« Er lief los und schob den Karren vor sich her.

Mit zwei schweren Akten vor der Brust und leicht watschelnd hastete sie hinter ihm her. »Das ist wichtig!«

Er bog um die Ecke und rammte dabei den Wagen in die verputzte Wand, aus der ein mächtiges Stück herausbrach.

»Wir sind wichtiger«, keuchte er.

Du bist wichtiger, dachte Mara und freute sich über sein Wir.

Endlich waren sie am Lastenaufzug, der sich quälend langsam nach oben bewegte.

»Geh‘ du vor, ich beschwöre dich, ich komme sofort hinterher«, drängte er, doch sie verharrte und schüttelte nur den Kopf.

Mit einem schleifenden Rappeln blieb der Aufzug stehen und sie riss die Metalltür auf, während Manfred den Karren hineindrückte, dann sprangen beide in die Kabine.

Als er sich in Bewegung setzte und nach unten rasselte, krachte es draußen in unmittelbarer Nähe fürchterlich.

»Wenn das mal gut geht«, flüsterte er verzweifelt. Diese Angst hatte Mara auch, aber sie griff seine Hand und ihrer beider Augen trafen sich in dem diffusen Notlicht der Aufzugsfunzel.

In das Geheule der Sirenen stanzten sich zwei oder drei weitere heftige Einschläge. Ein Hauch von Staub rieselte zwischen ihnen herab.

»Gott, Manfred. Ist das Haus getroffen?«

Er schüttelte den Kopf. »Das würden wir merken. Das war wohl nur der Luftdruck.« Er führte seine Hände zusammen und ließ sie dann auseinanderfahren und machte »Bummm«. Sie verstand.

Der Aufzug rumpelte, das tat er immer. Aber nie war es so bedrohlich erschienen wie jetzt. Sekunden vergingen zäh wie Minuten. Erneut dröhnten heftige Schläge durch die Straßen und rollten bis hinunter zu ihnen. Ängstlich sah Mara nach oben, die blecherne Kabinendecke begrenzte ihren suchenden Blick.

»Vater!«, stieß sie plötzlich aus. Der Aufzug kam zum Stillstand. Manfred warf sich mit dem Rücken gegen die Tür und drückte sie auf, den Karren hinterherziehend.

»Der ist gut aufgehoben, wo er ist. Lass ihn man in seinem Stellwerk sitzen«, ächzte er.

»Der hatte Frühschicht, er kommt gleich zurück«, stöhnte sie, als sie half, den Wagen über den Spalt zwischen Schacht und Kabine zu wuchten.

Manfred hörte nicht darauf. Es gab einen Raum mit einer speziell gesicherten Tür, dort mussten die Akten hin. Es war nicht weit, aber der Karren schwer und voll und wenn sie nicht aufpassten, rutsche ihnen der ganze Haufen auf den Boden. Ein gellendes Pfeifen schmerzte in den Ohren und ein lauter Knall ließ sie zusammenzucken. Hektisch atmend standen sie im fahlen Licht der Notbeleuchtung im Dunkeln und lauschten. Kein rutschendes Mauerwerk, keine prasselnden Flammen – noch nicht. Schon zerrte Manfred wieder an der Karre und Mara drückte und schob. Endlich hatten sie es geschafft: Eine schwere gepanzerte Tür war in die Kellerwand eingelassen und mit einem großen Drehkreuz gesichert, das sich leicht drehen und entsichern ließ. Die Tür schwang auf. Sie rückte den Wagen neben andere, die dort bereits abgestellt worden waren.

»Lauf du vor, ich mache die Tür zu. Los, los!«, forderte Manfred sie auf, aber Mara wartete, während sich oben das dumpfe Grollen fortsetzte. Hatte es sich ein wenig entfernt?

Ein stumpfer metallischer Klang signalisierte, dass die Tür dicht war. »Du bist eigenwillig«, schnauzte er, als er sie vor sich her trieb. Aber er war nicht ärgerlich, eigentlich sogar stolz auf die Kleine, die ihm so tapfer zur Seite stand.

Neben dem Eingang zum Bunkerraum wartete die Schneiderer, als die Tür sich öffnete und die beiden erschienen. Sie hatte ein Klemmbrett in der Hand mit einer Liste darauf.

»Alle sind anwesend«, rief sie durch den Raum, dann verriegelte sie hinter ihnen die Tür.

Leider konnten sie nicht nebeneinandersitzen, also quetschten sie sich dorthin, wo es sich anbot. Mara landete neben einer der Frauen aus ihrem Büro, die sie auch jetzt keines Blickes würdigte, sondern nur vor sich hin stierte.

Sie lehnte sich an die Mauer hinter ihr. Durch die roten Locken spürte sie die kühle Kellerwand an ihrem Hinterkopf. Ein Gefühl, das sie fast tröstlich fand. Es spendete Halt und Struktur und Sicherheit.

Es herrschte eine sonderliche Stille. Anders als sonst. Ernster. Viel besorgter. Das Gewummer der Flakgeschütze am Zoo hämmerte unaufhörlich, begleitet von dem Geheul der Sirenen und dem Wogen der dumpfen Schläge. »Das hört ja gar nicht mehr auf«, stöhnte jemand. Aber es war so leise, dass sie nicht einmal bestimmen konnte, ob Männlein oder Weiblein der Urheber war. Richtig, es fühlte sich intensiver an, doch sie glaubte nicht, dass es länger dauerte als sonst, es war nur viel kräftiger.

Normalerweise waren die Einschläge in Bewegung, sie wanderten. Diesmal nicht. Heute waren nur sie gemeint, das Zentrum Berlins. Falls Bomber wieder abflogen, kamen anscheinend unaufhörlich neue. Die bange Furcht, dass einer der Treffer lauter und schriller und tödlicher wäre, dass er die Hohenstaufenstraße 47/48 träfe, begleitet vom Bersten der Mauern und Brechen des Dachstuhles, steigerte sich, je länger der Angriff dauert. Als es still wurde und wenig später um 13.54 Uhr Entwarnung kam, wurde die Hoffnung zur Gewissheit, dass sie noch einmal davongekommen waren.

»Erst das Gebäude sichern, die Akten bleiben vorerst in Sicherheit«, rief der Stabsfeldwebel und die Schneiderer baute sich im Gang auf und wies ihnen die Richtung, als hätte jemand nötig zu erfahren, wie er hier wieder raus kam.

Hoch ging es die engen Treppen ins Erdgeschoss, der befürchtete Brandgeruch war nicht festzustellen, die Schneiderer lief dennoch rauf zum Dachstuhl und nahm ihn in Augenschein. Viele zog es auf die Straße, Mara gleich in den ersten Stock. Sie riss die Vorhänge zur Seite, öffnete die Fenster und sah hinaus. Es roch verbrannt, Schwefel und Pulver, wie nach einem Feuerwerk. Rauchschwaden zogen durch die Häuserschluchten, sie konnte bis zur Kreuzung sehen. Etwa vierzig Meter die Straße runter gen Osten war ein Haus abgedeckt worden, ein Teil des Daches hing an der Vorderseite herab, aber es brannte nichts. Etwas weiter stiegen allerdings dichte Rauchwolken auf. Was dort genau kokelte, konnte sie nicht erkennen. Die Straße war übersät mit kleinen und kleinsten Trümmerteilen, die von überall her eingeregnet waren: Holzsplitter, direkt aus Bäumen gerissen, Glas, Geröll und anderes, scharfkantige Metallsplitter, Bombenreste. Diese würden bald aufgesammelt werden, um sie der Rohstoffverwertung zuzuführen. Es rieselte ihr auf den Kopf und sie blinzelte. Staub, Kalk!

 

Sie reckte den Hals und sah nach oben. Gleich oberhalb ihres Fensters hatte sich etwas in das Mauerwerk gebohrt. Ein gezacktes Loch hatte sich aufgetan, nur die Beschädigung durch einen Bombensplitter, nichts Ernstes.

Überall im Haus klingelten die Telefone, wie üblich. Statusmeldungen anderer Dienststellen wurden abgefragt und angefragt. Sie schloss das Fenster und zog wieder die Vorhänge zu. Dann setzte sie sich an ihre Remington und legte beide Hände auf die Tastatur.

Sie lauschte der Lauferei auf dem Gang und in den Büros über ihr. Menschen sprachen, Telefone klingelten. In all dem Chaos saß sie alleine in ihrem Büro an ihrer Schreibmaschine und spürte die Tasten ihrer Remington. Ahnte die Buchstaben und Worte, Sätze, Texte, Bücher und Welten der Vorstellung, die die kleinen Hebel formen könnten, wenn man sie ließe.

Das Gefühl der wohligen Einsamkeit dauerte an, als sie an den alten Darburg dachte und hoffte, dass ihm nichts geschehen sei – und an ihren Vater. Sie konnte ihn nicht anrufen. Es war ihre Pflicht, am Arbeitsplatz zu verharren. Um der endlosen Zahl von Listen willen. Ihr fiel ein, dass die Akten jetzt unten waren. Daher hieß es, hier schreiben und am Ende des Arbeitstages alles im Keller einsortieren – wenn sie die Ordner fände, auf einem der vielen Wagen. Sie nahm sich fest vor, einfach ruhig zu bleiben und zu tun, was getan werden musste. Eine andere Möglichkeit gab es ja ohnehin nicht.

»Hier bist du«, kam es leise vor der Tür. Es war Manfred, sie freute sich und trotzdem bedauerte sie, dass der Moment der Stille vorbei war. Er trat zu ihr. »Ich stand bei der Schneiderer, als Sauerland mit dem OKW sprach: Es sollen über sechshundert Feindflieger gewesen sein. Ziele waren das Stadtzentrum und der Nordosten.«

»Achtung, Achtung, Ende, Ende, überm Kuhstall steh‘n Verbände, überm Schweinestall steh‘n Jäger, Achtung, Achtung Schornsteinfeger«, murmelte Mara leise in Gedanken versunken.

»Was?«

»Nichts«, ihre hellbraunen Augen sahen ihn an, als schrecke sie soeben aus tiefem Schlaf.

»Hast du mir überhaupt zugehört? Sechshundert Bomber.«

Sie nickte. Einen Moment stand er unschlüssig neben ihr und wusste nicht, was er sagen sollte. Er ahnte, dass sie sich Sorgen machte um ihren Vater, deshalb hatte er ihr das gesagt. Aber er konnte sonst nichts tun und er durfte sie nicht nach Hause schicken.

»Ich arbeite dann mal weiter«, sagte er und versuchte, freundlich und optimistisch zu klingen. Es kam ihm selber hohl und sinnlos vor.

»Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast«, hörte er sie hinter sich sagen. Es klang anders als sonst, erwachsener.

Es lohnte sich nicht, die Akten wieder aus dem Keller zu holen. Sie hatten alle für die Ablage gearbeitet und bei Dienstschluss ihre Stapel runter gebracht zum Sortieren. Danach konnten sie mehr oder weniger pünktlich gehen. Die meisten voller Bange, wie es daheim aussähe. Mittlerweile wusste auch der Letzte, wie schwer der Angriff Teile der Stadt getroffen hatte. Mara hatte unten auf der Straße gewartet, aber Manfred war nicht aufgetaucht, also ging sie ebenfalls. Er war derjenige, der mit der Schnatterer im Keller die Akten sortiert aufschichten sollte, damit sie am nächsten Dienstbeginn zugänglich und benutzbar sein würden. Sie bedauerte ihn, doch wusste sie ja, dass es ihm wichtig war, möglichst unentbehrlich zu sein.

Etwas hielt sie fern von zuhause. Trotz allem. Luft musste sie jetzt haben. Keinesfalls wieder Enge. Nur ein paar Minuten frei sein. Sie lief schnell alleine die Münchener Straße hoch, warf nur einen Blick in Richtung Isolde, überquerte den Victoria-Luise-Platz und bog links in die Tauentzienstraße ein. Sehnsüchtig hinüberschauend zum Femina-Palast, in dem sie so viel Spaß gehabt hatte. Dann näherte sie sich dem Zoo. Der Umweg gegenüber dem direkten Heimweg war auch wieder nicht so groß. Manfred hatte sich ja für sie erkundigt und herausgefunden, dass über Schäden in der Fasanenstraße nichts bekannt war. Kaum dort angelangt, bemerkte sie Leute in Richtung des Zoobunkers gehen, überraschend viele Menschen. Es gab keinen Alarm, was wollten die da? Irgendwo schnappte sie das Wort ›Treffer‹ auf. Konnte das sein? Der Zoobunker, getroffen? Dieses riesige und trutzige Gebäude? Das wollte sie wenigstens gesehen haben. Es dauerte nicht lange, bis der G-Turm vor ihr aufragte. Wie immer machte die imposante Erscheinung großen Eindruck auf sie. Und in der Tat befand sich dort eine Menschenmenge, sicher über hundert und es wurden noch mehr, als wäre es ein Volksfest. Sie hielten sich in einigem Abstand von dem Turm entfernt. Feldjäger waren anwesend, aber sie standen nur herum.

»Lassen Sie mich durch, ich will was sehen.«

»Dette wolln wa alle, junget Frollein!«, schnauzte ein mittelalter Mann und weigerte sich, einen Fußbreit zu rücken und den Blick freizugeben. Ein Landser schob ihn daraufhin weg und Mara konnte durchschlüpfen. Direkt am Fuß des mächtigen Turms klaffte ein Krater, halbrund, der Erdboden meterweit zur Seite und nach oben geschleudert. Hinten begrenzt von der Betonwand, die bis tief in die Erde reichte. Die Menschen tuschelten andächtig, es war wirklich wie bei einem Volksfest, nur wurde hier in Moll gestaunt und gejubelt. Die Vermutungen der Umstehenden gingen weit auseinander. Während die einen von einer Zentnerbombe sprachen, dachten die anderen an größere oder kleinere Kaliber. Aber egal, was es letztlich war: Der Turm hatte an seinem Fuß etwas abbekommen und doch wies das Gemäuer keinen einzigen Kratzer auf. Es schien unversehrt und unzerstörbar.

»Hat der Führer wieder recht behalten«, sagte jemand. Niemand antwortete. Und tatsächlich war es ein Führerbefehl gewesen, der 1940 den Bau dieser Türme befohlen hatte. Aber ein einzelner weitblickender Entschluss hob hundert schlechtere nicht auf. Einige Leute lachten, als einer der Soldaten in den Krater stieg und sich von einem anderen fotografieren ließ. Das war ein witziger Anblick, der kleine Landser in dem tiefen Loch und im Hintergrund der hohe Turm. Sie hatte den jungen Mann schon einmal gesehen, beim Tanzen im Femina. So glaubte sie zumindest. Aber in Uniform sahen viele Menschen ähnlich aus.

Paps!, dachte sie unvermittelt und lief schnell zurück zum Zoo. Jetzt hatte ihr Umweg länger gedauert als vermutet und sie musste wissen, ob er wohlbehalten heimgekommen war.

Einen Besuch bei Herrn Darburg verschob sie auf den nächsten Tag – oder Samstag.

Wer observiert Bruno Balz und Michael Jary?

Freitag, 24. März 1944

»Uhhh huhuuu, ich kann nicht mehr, ich kann nicht meeeehr.« Ununterbrochen schrie und jaulte die Winkler vor sich hin, es war nicht zum Aushalten. Schlecht geschminkt, als habe sie sich noch schnell herrichten wollen. Elegant im schwarzen Kleid, fein gemacht für den großen Alarm des Abends. Mit jedem krachenden Donnern steigerte sich das Geheul, als müsse sie selbst den Chor der Luftschutzsirenen verstärken. Zwischen ihren Zähnen Spuren des roten Lippenstiftes. Herr Winkler, schmächtiger als seine Frau, hielt ihre Hand und wiegte sich rhythmisch vor und zurück. Mara presste ihre Lippen zusammen, damit sie nicht aus Verachtung etwas sagte, was sie später bereuen würde.

Um 21.48 Uhr war es losgegangen und bald darauf folgten die ersten Einschläge in Mitte, Kreuzberg, dem Wedding und Tempelhof. Ein ganzes Stück entfernt, aber gut hörbar bis hier unten, dem Keller der Fasanenstraße 59.

»Ich habe dem Ministerium zum x-ten Mal gesagt, wie sie die Frequenzverstärkung modulieren müssen«, wütete Ingenieur Martens, der seine Frau umschlungen hielt, seine großen behaarten Handrücken lagen auf ihren Oberarmen. »Was die Telefunken-Leute da machen, reicht absolut nicht aus, um Flieger früh genug zu entdecken.«

»Ich habe gehört, dass jetzt direkt im L-Turm an der Hochfrequenztechnik geforscht wird«, stieg Lenore Carius, die Bibliothekarin, in das Gespräch ein. »Der Professor ist leider zu lange aus dem Geschäft und hat nur einen Teil der jüngsten Entwicklungen in der Nachrichtentechnik verfolgt. Aber er spricht viel davon.«

Herr Hübner harrte abermals in seiner Wohnung aus, wie immer bei Alarm.

»Ewald, bitte beruhige dich«, beschwichtigte Gundel Martens ihren Mann.

Mara versuchte, sich zu konzentrieren, denn sie las einen Gerstäcker-Roman, der die Abenteuerreisen des Schriftstellers Friedrich Gerstäcker im 19. Jahrhundert beschrieb. Es war nicht ihre Art von Literatur, aber Herr Darburg hatte nichts anderes gehabt. Es fiel ihm zunehmend schwerer, interessante Hefte aufzutreiben, sagte er. Noch immer besuchten ihn wohl gut zahlende Kunden, denn er deutete an, dass einige der Hefte, die er an Mara weiterreichte, zuvor durchaus Leuten von Rang gehört hatten. Manchmal war ein Stück Papier aus dem Einband herausgeschnitten, als habe jemand Namen der Vorbesitzer entfernt.

»Natürlich haben sie im L-Turm eine Abteilung eingerichtet.« Martens wollte sich gar nicht beruhigen. »Und selbst vor Ort bekommt Telefunken das nicht auf die Reihe!«

»Aber der Minister dankt dir doch immerzu!«, wandte Gundel ein und ihr Mann nickte.

Einem Geistesblitz folgend schaute Mara von ihrem Heft auf: »Kann man mit Ihrem Gerät eigentlich zwischen die Sterne funken?«

Der Ingenieur sah sie an, innehaltend in seinem Ärger, nachdenkend, dann leicht lächelnd. »Natürlich. Das wäre möglich. Aber man erhält von dort ja keine Antwort. Die Funksignale würden immer weiter fliegen. In die Unendlichkeit.« Er überlegte und ihm gefiel die Frage anscheinend zunehmend. »Wenn man zwischen die Sterne allerdings lauschte … aber was immer man empfangen würde, könnte man ja gar nicht verstehen.« Und doch hatten seine Augen plötzlich einen neuen Glanz.

Dass es draußen ruhig geworden war, hatte keiner so richtig bemerkt. Irgendwann merkte jemand, dass die Flak auf einmal nicht mehr hämmerte, auch das Donnergrollen hatte aufgehört. Jetzt hieß es weiter ausharren. Manchmal ging es wieder los, aber meistens gab es bald Entwarnung.

»Fünf nach elf«, maulte Herr Butzke. »Schlafen die Tommys nie?«

»Krepieren sollen sie alle, krepieren!«, kreischte die Winkler.

»Mir tut der Hintern weh, ich will aufstehen«, meckerte der Hausmeister.

Immer wenn Mara die Augen über die Heftseiten hob, trafen ihre Blicke jene von Heinz, der heute anders aussah. Er starrte, aber mehr nach innen gewandt. Er sah sie an, doch irgendwie auch durch sie hindurch. Sie hob das Heft, damit er den Titel sehen konnte. Seine Miene veränderte sich zwar nicht, jedoch sah sie, wie sich seine Pupillen bewegten. Las er? Oder musterte er bloß das Bild?

»Mein Junge, du hast ja einen rechten Narren gefressen an der Mara, woll? Schaust sie ständig an!« Jovial wuschelte Mildred Butzke Heinzens Kopf.

Mara tat so, als habe sie das nicht gehört. Die Winkler nervte sie, Vater saß zusammengesackt neben ihr. Sie hatte ihn schon halb betrunken wecken müssen, als der Alarm losging. Er war wach, aber trotzdem nicht ganz bei sich.

Vater Butzke stieß seinen Sohn an der Schulter an. »Morgen hilfst du mir Holz zu sammeln, ja?« Der Junge schien zu nicken. Zu den anderen gewandt setzte er hinzu: »Der Heinz ist mir eine große Hilfe, er greift mir unter die Arme wo er kann. Mit ihm schaffe ich fast doppelt so viel.«

Niemand beachtete ihn. Seiner und Maras Blick trafen sich und sie lächelte gütig, dann las sie weiter. Um 23.12 Uhr gab es Entwarnung. Sie wartete, bis die anderen gegangen waren, und half ihrem Vater.

Samstag, 1. April 1944

Die letzte Nacht war unruhig. Direkt unter ihnen hatte die Winkler bis zwei Uhr früh gezetert, als wolle sie jetzt auch ihrem Mann einen Nervenzusammenbruch bescheren. Es wurde immer schlimmer mit ihr. Seit der schweren Bombennacht eine Woche zuvor reagierte sie bei jeder Gelegenheit über, dabei war da kaum etwas passiert. Die Stadt hatte seitdem ein paar Überflüge erdulden müssen, Neukölln war hingegen Dienstag Nacht hart getroffen worden.

Auch in der Dienststelle herrschte wieder Dienst nach Vorschrift. Manfred hatte sie am Donnerstag ins Kino eingeladen, aber daraus war nichts geworden, weil der Stabsarzt ihn überraschend zu sich gerufen hatte. Warum, mochte er ihr nicht sagen. Der Termin lag nach Dienstschluss und so wollten sie das in der kommenden Woche nachholen. Zum Mittagessen hatte sie Kartoffeln gekocht und Speck gebraten, dazu noch Buttermilch serviert. Ein wunderbares Mahl, erfrischend und doch sättigend aus der alten schlesischen Heimat. Es hatte sich gelohnt, dafür länger beim Metzger anzustehen.

 

Nach dem Essen war sie mit ihrem Vater spazieren gegangen, wie früher. Etwas fein gemacht, als seien sie Leute von Welt. Dazu hatten sie sich angenehm unterhalten. Was für eine Freude das war. Er trug Hosenträger, sein weißes Hemd und darüber seinen braunen Wollmantel und auf dem Kopf einen Hut. Der Mantel war zwar alt, aber sie sah ihn gerne an, wenn er sich adrett kleidete und gelöster Stimmung schien. Sie waren ein Soda trinken gewesen, unten am Hohenzollerndamm. Eigentlich wollten sie weiter hoch zum Fasanenplatz, rund um den Feuermelder und dann kehrtmachen. Aber ihm war plötzlich unwohl geworden und so hatte sie ihn zunächst im Hausflur alleine gelassen, denn sie wollte noch an der Luft bleiben.

Die Tür der Butzkes stand offen. Niemand war zu sehen und man hörte nichts. Vielleicht waren die beiden im Keller.

Als sie sicher war, dass Vater gut von selber nach oben käme, lief sie weiter. Das Wetter war schön. Wenn man nur die Fasanenstraße kannte, wähnte man sich im tiefsten Frieden. Richtung Norden, Osten und Süden, da erst fingen die Zerstörungen an, hier war nichts. »Der Feind hat Phasantenstraße falsch geschrieben und findet sie deshalb auf der Karte nicht«, lästerte Hausmeister Butzke hin und wieder, aber Mara war sich da nicht so sicher.

Sie lockerte ihren Seidenschal und stolzierte mit geradem Rücken nordwärts. Zuerst einfach zum Fasanenplatz und dann weitersehen. Lange würde sie es wohl nicht aushalten. Sie wollte eines der alten amerikanischen Hefte lesen, die Wonder Stories. Auch die hatte sie von Herrn Darburg bekommen und die würde sie sicher niemals wieder abgeben – und wenn sie sie noch fünfmal lesen musste. Und nach Vater würde sie natürlich schauen.

Vor Hausnummer 60 standen Leute. Augenblicklich ging sie langsamer. Es sah aus wie eine Feiergesellschaft, fünf, sechs Personen, gut gekleidet. Olga Tschechowa? Nein, die war nicht dabei. Aber dieser Auflauf war für die Fasanenstraße ungewöhnlich und so beobachtete sie die Menschen, die sich angeregt unterhielten. Nach und nach betraten sie das Haus. Irgendwann wurde oben ein Fenster geöffnet und leises Stimmengemurmel drang herab. Sie war so abgelenkt, dass sie nicht bemerkte, dass sie nicht die Einzige war, die sich das Treiben angesehen hatte. Nach wenigen Schritten in Richtung Norden klimperte unter dem Dach jemand auf einem Klavier, laut und falsch. Vielkehliges Gelächter war die Folge. Dann wurde aus dem Gehämmer eine Melodie, die immer wieder in unterschiedlichen Tempi gespielt wurde. Sie hielt es kaum aus vor Neugierde, aber man sollte sie nicht glotzen sehen. Daher beschleunigte sie ihren Weg zum Fasanenplatz, kehrte sofort um und schielte in Laufrichtung nach oben, die Wissbegierde ließ sie beinahe platzen. Wenn sie dort nur Mäuschen spielen dürfte. In einigem Abstand folgte ihr jemand, unbemerkt. Eine Person überholte sie, plötzlich stand ein Mann vor ihr. Ihr wurde klar: Dieser Mensch blockierte ihren Weg.

Wuschelige, dunkelblonde Haare fielen über eine flache Stirn. Eng stehende Augen blickten sie an. Wachsam, aber nicht unfreundlich. Die Nase länglich und etwas knollenförmig. Irgendwoher kam er ihr entfernt bekannt vor. Sie wollte links an ihm vorbei, er parierte mit einem Ausfallschritt und stand erneut vor ihr. Den karierten Schal um seinen Hals hatte sie doch wo gesehen? In diesem Moment war ihr nicht nach langem Geplänkel zumute. Es war Samstag Mittag und helllichter Tag.

»Wenn sie mich belästigen wollen, schreie ich«, sagte sie drohend und meinte es genau so.

»Ach, tun Sie das?«, erwiderte der andere dumpf.

Mara legte den Kopf schief und sah ihn an, ihre roten Locken fielen über die Schulter. Die Situation fühlte sich nicht gefährlich an, eigentlich. Und doch …

»Was wollen Sie?«, fragte sie bissig.

»Nur ein Gespräch führen. Unter vier Augen.«

Ihre Nackenhaare sträubten sich. Szenen dieser Art kannte sie zur Genüge aus ihren Romanheften: Gespräche führen, in Kellern oder Verliesen, aus denen niemals wieder jemand auftauchte. So hatte der sich das wohl gedacht. Nicht mit ihr! Sie öffnete den Mund und holte tief Luft. Sie würde so laut schreien, dass dem Kerl das Trommelfell zerriss.

»Warum beobachten Sie ihn?«

Sie hielt die Luft an, vergaß auszuatmen und hustete.

»Was bitte?«

»Herrn Balz, warum beobachten Sie ihn?«

»Herrn Balz? Ich kenne keinen Herrn Balz und beobachten tue ich schon gar niemanden. Ziehen Sie Ihrer Wege. Sonst bekommen Sie es mit meinem Vater zu tun.«

»Haben Sie einen Auftrag, ihn zu beobachten? Oder geht es um jemand anderen? Herrn Jary?«

Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, irgendwo wurde knarrend ein Fenster geöffnet. Schrie sie jetzt, würde sie auf jeden Fall gehört.

»Sie sind ja nicht bei Trost. Ich weiß gar nicht, von wem Sie sprechen, Mann. Hauen Sie ab.« Sie machte einen entschiedenen Schritt zur Seite und lief los.

»Ich habe Ihr Buch gerettet!«

Mara war schon einige Meter weiter, dann blieb sie stehen und drehte sich um. Richtig, das war der Mann, der ihr das Buch von Hermann Oberth wiedergegeben hatte. Es war dunkel gewesen und sie in Tränen aufgelöst. Doch ja, das war er.

»Das Buch war angestoßen und die Bindung lädiert. Von Rettung reden wir da lieber nicht.«

Diesmal staunte der Fremde und sie musste unwillkürlich grinsen.

»Sie beobachten also niemanden? Sie handeln nicht im Auftrag?« Er legte den Kopf schräg.

Sie verdrehte die Augen. »Danke für das Buch. Aber ganz ehrlich? Sie spinnen total. Guten Tag.«

Ihre Gedanken rasten, als sie die letzten Meter lief und sich zwang, nicht an Hausnummer 60 hochzusehen, obwohl von oben bekannte Schlagermelodien ertönten, die sie mochte. Jemand sang leise dazu. Eine Hausparty war im Gange. Was hatte der Kerl gesagt? Sie beobachte das Haus? Sicher nicht. Bisher nicht. Ab heute wollte sie bewusster und immer wieder aufs Neue hinschauen.

Aus dem Hausflur traten Hausmeister Butzke und Blockwart Werner Kämmerlin. Auf beide hatte sie keine Lust.

»Der Hitler-Jugend kann man nicht einfach fernbleiben«, hörte sie Kämmerlin zum Hausmeister sagen. »Das hat alles schon seinen Sinn.«

»Das kann nicht gut gehen«, antwortete Butzke halblaut in dem Moment, als sie an beiden vorbeieilte. Mara wollte nach oben und weg von der Straße und hörte nicht genau hin.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?