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Onnen Visser

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Onnen hielt sein Kleid zierlich in beiden Händen, er hatte das Gesicht tief verschleiert und über die braunen derben Knabenfäuste ein Paar Handschuhe gezogen; der Paß steckte in dem Arbeitsbeutel, ohne welchen damals kein wohlerzogenes junges Mädchen zu denken war.

»Vorwärts!« rief er lustig. »Wir können gerade bei einbrechender Dunkelheit in Emden sein, wie ich hoffe. An der Westerbutfenne bei Düke Mommsen, dem Gastwirt, gebe ich die Ladung ab, da mag sie Hans Houtrouv in Empfang nehmen.«

Der Kapitän nickte. »Aber hüte dich, Junge, laß lieber den Tee im Stiche als deine Freiheit. Ist alles besorgt, so gehst du zum Vetter nach Larrelt und von dort hole ich dich morgen selbst mit der ›Taube‹ ab.«

»Allstunds, Vater! Und nun: Adjes.«

»Behüt Gott! Adjes, Adjes.«

Der schwere Wagen rumpelte aus dem Gehöft hinaus und die Lederpuppen nickten mit den Köpfen. Onnen fühlte sich hinter seinem Schleier keineswegs behaglich; was er dachte, das war in lauter Bitterkeit getaucht. »Möchten wir doch lieber die Franzosen zum Lande hinausprügeln, als daß sie uns sämtlich zu Schelmenstücken zwingen! – Sitzt man da wie ein angezogener Affe auf dem Jahrmarkt!«

Sobald aber eine französische Streifwache nahte, begann das Vergnügen. Der Kutscher hielt, ein bärtiger Zollwächter trat an den Schlag und fragte nach dem Passe. Onnen reichte ihm das Blatt. »Wir haben so große Eile, mein Herr! – Ach bitte, bitte, der arme Vater ist leidend.«

Die Zollbeamten sahen seine schönen Augen, seine Seufzer und das hübsche verschleierte Gesicht, sie warfen nur einen einzigen Blick auf den Namenszug des Präfekten Jeannesson und gaben dann den Paß zurück. »Alles in Ordnung. Reisen Sie glücklich, Mademoiselle!«

Dann wurden Onnens braune Wangen sehr rot, er ärgerte sich wieder und gab den Lederpuppen Nasenstüber, aber es freute ihn doch, daß Meile nach Meile hinter dem Wagen zurückblieb und daß gegen Abend die Türme von Emden im letzten Sonnenglanz vor seinen Blicken erschienen.

Mehr als zweihundert Pfund Tee steckten in den beiden Puppen, das war ein barer Verdienst von 180 Frank; denn die Franzosen erhoben damals eine Steuer von 90 Frank für den Zentner. Onnen wollte bei Düke Mommsen die Ware am gewohnten Orte verbergen und dann mit Hans Houtrouv, dem Krämer, abrechnen.

Der Wagen fuhr durch das Stadttor und ungehindert bis zur Westerbutfenne. Düke Mommsens Gasthof mit dem großen Dreimaster im Schilde und mit der weiten sauberen Toreinfahrt war erreicht, es dunkelte stark und leise stäubend begann ein feiner Regen herabzuträufeln. Onnen wollte eben mit einem Seufzer der Erleichterung fein jüngferlich aus dem Wagen steigen, als vom Hofe her ein Offizier der Zollwache langsam hervortrat und die Hand auf den Schlag legte, um ihn zu öffnen.

»Ich bitte, mein Fräulein! – Den Paß!«

Onnen gab ohne ein Wort das Dokument – jetzt fühlte er, daß ihm das Herz stärker schlug.

Sollte er wirklich im Hafen Schiffbruch leiden?

»Alles gut!« nickte der Offizier. »Wollen die Herrschaften aussteigen?«

In der Tür erschien in diesem Augenblick Düke Mommsen, der Wirt. Er hatte den Wagen des Wattführers erkannt und beeilte sich, die Aufmerksamkeit des Franzosen abzulenken. »Ach«, rief er, »das sind meine kranken Gäste! – Schnell, Lorenz, schnell, fahre auf den Hof, der alte Herr liebt es nicht, wenn ihn die Leute so ansehen.«

»Monsieur Renard«, setzte er hinzu, »wenn es Ihnen gefällig ist! Das Abendessen wartet!«

Der Franzose nickte stumm; er sah immer dem verschwindenden Wagen nach und wollte dann wie zufällig durch den Torweg gehen, aber der Wirt hielt ihn zurück »Monsieur Renard, auf ein Wort!«

»Nun?«

»Haben Sie das junge Mädchen näher angesehen?«

»Weshalb?« fragte stirnrunzelnd der Offizier. »Ich kenne die Dame nicht.«

»Aber sie ist reich, besitzt viele Tausende!«

Der Offizier zuckte die Achseln. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zum Torweg und ging hinein.

Düke Mommsen lächelte vergnügt. Während der halben Minute, in der er den Franzosen aufgehalten, hatten seine Knechte die beiden Lederpuppen in Sicherheit gebracht, das wußte er.

Monsieur Renard sah zuerst den leeren Wagen, dann das flatternde Kleid des vermeintlichen jungen Mädchens – der Hof lag wie ausgestorben.

Er blieb vollkommen gelassen, aber die Sache erschien ihm verdächtig; zwei Minuten später stand er wieder neben dem Wirt im Gastzimmer.

»Wer sind die Leute, welche soeben kamen, Herr Mommsen?«

»Emdener Bürger«, antwortete dieser. »Ein Herr Poppinga mit Sohn und Tochter, mein werter Monsieur Renard; sie kommen von Norderney.«

Der Franzose nickte. »Ich möchte mit den Herren sprechen«, sagte er in ruhig befehlendem Tone. »Haben Sie die Güte, mich zu melden.«

»Sogleich! Sogleich!«

Er verschwand, um erst einmal Zeit zu gewinnen. »Verfluchte Geschichte! Wem soll ich ihn nun vorstellen? – Onnen, Junge, gib mir den Paß und dann schäle dich aus den Weiberkleidern heraus. Der französische Schuft hat Verdacht geschöpft!«

Er schloß aus Vorsicht die Tür ab, hinter welcher unser Freund verborgen war, und lief dann mit dem von der Präfektur gestempelten Passe zu dem Franzosen zurück. »Die Herren lassen um Entschuldigung bitten«, sagte er, »auch das Fräulein kann Sie heute abend nicht mehr empfangen, aber hier ist der Reisepaß. Das genügt, nicht wahr?«

Der Offizier ergriff das Blatt und hielt es gegen die Lampe. Über sein Gesicht flog ein zufriedenes Lächeln.

»Ich bestehe darauf, die Herren zu sehen«, rief er. »Wo ist das Zimmer derselben?«

»Aber ich begreife nicht«, murmelte Düke Mommsen, »ich begreife wirklich nicht! – Monsieur Renard befiehlt, als ob —«

»Ich diesem Befehle auch Nachdruck verleihen könnte? So ist es, Herr Wirt. In welchem Zimmer finde ich die Herren?«

Er war auf den langen Gang hinausgetreten und wollte eben die erste Tür desselben gewaltsam öffnen, als plötzlich ein Herr heraustrat und ihn ruhigen Blickes ansah, ein junger, sehr vornehm scheinender Mann, dessen halbes Antlitz von einem bis auf die Brust hinabreichenden Barte völlig verdeckt war.

»Mein Herr Offizier«, sagte er, »ich stelle mich Ihnen zur Verfügung. Da der Reisepaß in Ihren Händen liegt, so weiß ich nicht, woran es etwa sonst noch fehlen könnte! Bitte, befehlen Sie!«

Monsieur Renard schien zu erschrecken, »Sie wären Herr Andreas Poppinga?« sagte er in zweifelndem Tone.

»Ja. Wünschen Sie sonst noch etwas?«

Die Blicke des Franzosen verrieten sein Mißtrauen. »Weshalb, wenn Sie hier in Emden wohnen, beziehen Sie ein Hotel, mein Herr Poppinga?«

»Weil ich in einer Stunde wieder abzureisen gedenke«, war die Antwort. »Haben Sie übrigens das Recht, unverdächtige Personen derartig auszufragen, mein Herr?«

Der Offizier drehte sich um, er ließ den Paß auf einen Tisch fallen. »Es ist gut«, sagte er, »Sie können gehen.«

Der Fremde ergriff das Blatt, wie sich jemand auf einen mühevoll errungenen Schatz stürzt. »Lassen Sie in einer Stunde einen Wagen bereitstehen, Herr Wirt, mein Vater und ich reisen weiter nach Bremen, meine Schwester dagegen bleibt hier bei Verwandten.«

»Sehr wohl, Herr Poppinga.«

Der Wirt rieb sich untertänigst die Hände. Damals fand jede Lüge ein williges Ohr, der Betrug war das gewohnte Verkehrsmittel und die kecke Schlauheit das preisgekrönte Verfahren des einen gegen den anderen. Zwei fremde Herren ohne Gepäck oder Legitimation waren am vorigen Abend im Hause Düke Mommsens erschienen und hatten gesagt, daß sie unbemerkt ein paar Rasttage zu halten wünschten – jetzt bemächtigte sich einer derselben des fremden Passes und Namens, er bestellte einen Wagen und ging selbst hastig die Straße hinab, aber der Gastwirt verriet durch keine Bewegung das Erstaunen, welches er empfand, er verdoppelte nur sogleich in Gedanken die Preise der bisher aufgestellten Rechnung und bewunderte die Geistesgegenwart des Unbekannten, der sich auf so dreiste Art in den Besitz des Legitimationspapieres zu setzen gewußt hatte.

Monsieur Renard war fortgegangen. Düke Mommsen eilte in Onnens Zimmer und erlöste diesen aus der Gefangenschaft. »Gottlob«, keuchte er, »es ist alles gut abgelaufen. Der Teufel hole die Franzosen! – So, nun bist du wieder ein Junge; komm mit hinunter, ich denke, du sollst mit den fremden Herren eine Strecke weit fahren, um nur erst einmal aus dem Gesichtskreise des schurkischen Beamten zu verschwinden.«

Onnen folgte ihm in das Gastzimmer. »Wer sind die beiden?« fragte er.

»Weiß ich es? Menschen, denen dein Paß vortrefflich zustatten kam. Nun iß nur erst ein wenig, hörst du – da ist wahrhaftig der eine schon wieder; er sieht aus, als sei ihm ein großes Glück begegnet.«

Duke Mommsen umschmeichelte aalglatt den Fremden, er stellte ihm den Sohn des Kapitäns förmlich vor und erreichte es, daß dieser mitfahren durfte. »Wir werden dich nach Larrelt bringen«, sagte freundlich der Herr. »Lassen Sie nur den Wagen vorfahren, Herr Wirt, und besorgen Sie die Rechnung.«

Von Monsieur Renard war nichts zu sehen. In völliger Dunkelheit fuhren die beiden Fremden mit Onnen auf dem Rücksitz davon und in die Nacht hinaus; sie sprachen sehr eifrig miteinander, aber immer französisch, so daß unser Freund keine Silbe verstand; erst als hinter dem Wagen ein anderes Pferd wieherte, hob einer der Herren horchend den Kopf.

»Man verfolgt uns!«

»Schadet nicht!« versetzte gleichmütig der zweite. »Ich bin auf der Präfektur gewesen und habe unseren Paß nach Bremen ausfertigen lassen; mögen also die Franzosen kommen.«

Der erste sah immer noch aus dem kleinen Hinterfenster der Kutsche. »Ein Einspänner«, sagte er, »zwei Männer sitzen darin. Verfolgt man dich, mein guter Junge?«

Onnen schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Herr.«

»Was bist du denn eigentlich? Ohne Zweifel ein Schmuggler!«

Onnen schwieg. Es war, als drücke ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zusammen. Ein Schmuggler! —jemand, der auf verbotenen Wegen ging!

 

Im gleichen Augenblick schlug einer der Insassen des zweiten Wagens Feuer für seine Pfeife. Obwohl er den aufflammenden Blitz sogleich mit der Hand bedeckte, war doch dem Beobachter Zeit genug geblieben, um sein Gesicht zu sehen – er erschrak heftig und bog den Kopf zurück, als fürchte er, trotz Finsternis und Entfernung selbst erkannt zu werden. »Es ist Lemosy!« sagte er halblaut. »Bei Gott, Lemosy!«

»O – du wirst irren. Das wäre schrecklich!«

»Es ist Lemosy, ich sage es dir.«

»Um Verzeihung«, warf Onnen ein, »der Herr, den Sie da soeben gesehen zu haben glauben, ist Polizeimeister des Departements Ostems.«

»Das wußte ich nicht! Alle Teufel, was fangen wir an?«

»Sie wollen also von diesem Herrn Lemosy nicht gesehen werden?«

»Unter keiner Bedingung!«

»Dann lassen Sie mich nur machen.«

Er öffnete das Vorderfenster und befahl dem Kutscher, einen Seitenweg einzuschlagen.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Da kämen wir ja an das Emswatt!« sagte er verdrießlich.

»Das ist auch unsere Absicht.«

»Na, mir kann‘s recht sein. Hü, Lotte!«

Er wandte das magere alte Pferd und fuhr in veränderter Richtung weiter; der Fremde beobachtete dabei klopfenden Herzens den zweiten Wagen – ohne zu zögern, nahm dieser die Verfolgung auf, beide fuhren auch jetzt wieder hintereinander.

»Das gilt dem Knaben!« sagte leise der Fremde. »Lemosy hat uns weder gesehen, noch kann er vermuten, daß wir hier sind.«

Der andere strich mit der Hand über die Stirn. »Zum Watt kommen wir, Junge? Werden uns da die Franzosen nicht erreichen können?«

»Ich hoffe nicht. In Larrelt steht ein Wachtposten der Zollbeamten, dahin können Sie auf keinen Fall gehen.«

Der Wagen fuhr auf dem ebenen Kleiwege ziemlich schnell dahin, so daß der feuchte Hauch vom Watt herüber sehr bald die Luft erfüllte. Über dem Schlick (dem zur Zeit der Ebbe trockenliegenden Grunde des Watts) ballten sich Nebelwolken; grau in grau lag baumlos in herzerkältender Öde die ganze Umgegend. Onnen stand aufrecht im Wagen. »Sobald ich deine Schulter berühre, hältst du, Landsmann! – oder ist dir selbst die Gegend genau bekannt?«

»Ganz genau!«

»Gut, dann laß deine Mähre bei dem tiefen Einschnitt des Weges, wo der Kanal ausmündet, ganz plötzlich stillstehen!«

Er beobachtete fortwährend. »Jetzt kommt die Stelle! Öffnen Sie ein wenig die Wagentür und laufen Sie mir getrost nach! – Nun!«

Das Gefährt hielt mit einem einzigen Ruck, so schnell und unerwartet, daß das Pferd des anderen Wagens mit dem Kopfe gegen das Kutschendach stieß und der Einspänner von der Wucht dieses plötzlichen Anpralls auf die Seite fiel.

Beide Insassen stürzten unsanft auf die Straße.

»Hurra!« schrie Onnen. »Mir nach, Poppinga und Sohn! Ha, ha, ha —«

Er hatte mit einem gewaltigen Satz den Schlickgrund erreicht und stürmte vorwärts, gefolgt von den beiden Fremden, welche wie Schatten auf dem grauen, schlüpfrigen Watt neben ihm herliefen.

Während auf der Straße die Kutscher schimpften und die Pferde stampften und wieherten, hatten sich Monsieur Renard und der Polizeimeister Lemosy in aller Eile aufgerafft und waren den Flüchtlingen gefolgt. Mit den genaueren Verhältnissen des fremden nordischen Landes völlig unbekannt, konnten sie Onnens Plan nicht voraussehen und verloren dadurch mindestens zwei Minuten, anderseits aber erwachten auch durch den Sturz auf den Fußboden der Ärger und Verdruß – hitziger als sonst wohl wurde die Verfolgung im selben Augenblick aufgenommen und fortgeführt.

Onnen horchte. »Sie sind hinter uns!« flüsterte er.

»Können aber des Nebels wegen nicht schießen! Vorwärts! Vorwärts!«

»Um Gottes willen!« raunte der Zweite. »Da ist Wasser!«

»Die Ems! – Wir haben Raum genug!«

Weiter und weiter ging die tolle Jagd. Vor den Flüchtigen lag unermeßlich das öde Grau, hinter ihnen erklangen die Schritte der Feinde – näher und näher, wie einer der Herren meinte.

»Laß sie kommen, die verfluchten Franzosen, unter deren Krallen das arme Deutschland aus tausend Wunden blutet, laß sie kommen! Wir sind unserer drei gegen zwei!«

»Aber sie haben Schießwaffen, ich sah es!«

Wie zur Bestätigung dieser Worte knackte in einiger Entfernung der Hahn einer Kugelbüchse. »Ergebt euch!« rief die Stimme des Zollbeamten, »ergebt euch, oder ihr erhaltet eine Kugel zwischen die Rippen!«

Onnen lachte laut, aller Groll seines ehrlichen Herzens drängte sich auf die Lippen. »Nichts von ergeben!« rief er. »Tut euer Schlimmstes, ihr Raubgesindel!« Sie liefen auf Tod und Leben, atemlos, in äußerster Eile. Ihre Pulse jagten, ihre Herzen schlugen zum Zerspringen. —

Hinterher die Verfolger. Langsam minderte sich der Zwischenraum, langsam, aber sicher. Onnen hätte für sich allein längst aus dem Bereich der Feinde herauskommen können, aber die beiden Fremden hielten mit ihm auf dem schlüpfrigen Boden nicht gleichen Schritt und verlassen mochte er sie um keinen Preis.

»Ergebt euch! Steht!«

»Ha! ha! ha!«

Eine Büchsenkugel streifte hart an dem Kopfe des Knaben vorüber, er schwenkte die Mütze und lachte laut. »Bist ein Esel, Franzose, laß dir dein Lehrgeld wiedergeben!«

»Wir sind verloren!« keuchte der ältere der beiden Fremden. »Ich kann nicht weiter laufen.«

Auch der zweite taumelte. »Rette dich selbst, Knabe! Es ist umsonst, wir können nicht weiter!«

»Nein! Nein! – Die Hilfe naht schon!«

Im Nebel regte sich‘s wie gespenstische Formen, flog vorüber und kehrte zurück – hier ein seltsames Etwas, dort eins, mehr und immer mehr.

Menschenaugen sahen in die Gesichter der Fliehenden, Menschenstimmen redeten sie an. »Hierher! – Schnell! Schnell!«

»Wer seid ihr?« keuchte der vorderste Fremde.

»Gute Deutsche wie ihr! – Die Pest über alles, was französisch ist!«

Kräftige Arme drückten die Widerstandslosen auf einen engen Sitz und fort ging es, ins Dunkle hinein, ehe Sekunden verrannen. Alle dreie waren voneinander getrennt, aber als die beiden Franzosen aus dem Nebel auftauchten, fanden sie die Stelle leer, ihre vermeintlichen Gefangenen hatten unbeschadet den rettenden Hafen erreicht.

Wieder krachten Büchsenschüsse durch die Nacht, wieder folgte das tolle Lachen der Sieger, diesmal vielstimmig, aus Nähe und Ferne zugleich.

Es huschte und eilte über den grauen dampfenden Schlick, es wirbelte durcheinander von sonderbaren Gestalten. Wie ein Volk von Zwergen tummelte sich‘s auf dem Emswatt, wie Mücken im Sommer umschwärmten spöttische Zurufe die beiden erbitterten Franzosen. Sie hörten alles, sahen aber nichts.

»Monsieur Renard«, sagte kopfschüttelnd der Polizeimeister, »wissen Sie, was ich glaube, oder vielmehr, wovon ich ganz fest überzeugt bin?«

»Nun, Herr von Lemosy?«

Der andere beugte sich näher zu ihm. »Diese Deutschen haben bisher geschlafen«, sagte er, »aber sie beginnen jetzt langsam zu erwachen. Wir werden dann erst die Tatze des Löwen wirklich kennenlernen.«

»Bist du es, Heinz Thiedemann?« fragte Onnen.

»Allstunds, junger Herr. Was tust du denn auf dem Emswatt? Willst doch nimmer ein ›Buttjer‹ (Schlammfischer) werden? Das wäre für den Kapitänssohn zu geringe, wie mir deucht.«

Onnen schüttelte traurig den Kopf. »Das ehrliche Gewerbe ist niemals zu geringe, Heinz – du brauchst nicht zu flüchten, wenn dir französische Zollwächter begegnen.«

»Aber du mußtest es, weil du Kontrebande bei dir führtest. Na, darum gräme dich nicht, Junge; die Gelbgesichter sind ja fremde Eindringlinge, denen wir Schoß und Zoll rechtlich nicht zu leisten brauchen, sondern nur, weil sie eben die Gewalt besitzen.«

»Na, Onnen«, fuhr er gutmütig bittend fort, »steige aus, Junge; ich muß fischen, wenn nicht meine Kinder morgen hungern sollen.«

Unser Freund sprang leichtfüßig aus der »Kreie«, dem sonderbaren Fahrzeuge, das seinem Baue nach unseren Kinderschlitten gleicht. Eisenreifen umgeben die unteren Ränder, am Vorderteil befindet sich ein großer offener Kasten und im Hinterteil liegt fest ein ausgehöhlter Block, in den der Buttjer das Knie preßt, um dann mit dem rechten Fuße gleichsam zu rudern oder zu schieben, wobei die »Kreie« mit der Geschwindigkeit des laufenden Pferdes über das Watt schießt.

»Wo hast du deine Reusen, Heinz?«

»Gleich vor uns. Wer war mit dir, Junge? Dein Vater?«

»Nein, zwei ganz Fremde, der Himmel mag wissen, wer sie sind. Ob sie wohl glücklich davonkamen, Heinz?«

»Natürlich. Meine Kameraden werden so wenig einen Verfolgten im Stiche lassen, wie ich selbst es täte. Aha, da beginnt die Jagd!«

Aus dem grauen schlüpfrigen Wattgrunde erhoben sich viereckig angebrachte feste Zäune von Birken- oder Weidengeflecht, die etwa den Flächenraum eines gewöhnlichen Zimmers umschlossen und deren dichte Wände keinen noch so kleinen Fisch hindurchließen. Jede dieser Fanggruben war angefüllt mit zappelnden, ängstlich in den kleinsten Vertiefungen Schutz suchenden Meeresbewohnern, denen jetzt der Buttjer den Garaus machen wollte. »Das habe ich noch nie gesehen«, rief Onnen, mit lebhaftem Interesse die eigentümliche Jagd beobachtend. »Deine Reusen befestigst du zur Ebbezeit, nicht wahr, Heinz?«

»Natürlich. Die Flut geht hoch darüber hinaus, und was mit derselben hineingerät, das findet nachher keinen Rückweg.«

Er sammelte mit beiden Händen große Butten, Schellfische, Schollen, Zungen und Makrelen, endlich hoben beide mit vereinten Kräften einen großen Kabeljau in den Kasten, ein Ungeheuer, das der Schlammfischer gleich an Ort und Stelle schlachtete, um es nur mit sich führen zu können.

Jede Reuse trug ihr Zeichen, das von den Buttjern unbedingt geachtet wurde. Wie Schatten, geräuschlos und mit Windeseile schossen sie im Nebel aneinander vorüber, keiner aber stahl dem anderen auch nur ein einziges jener kleinen silbernen Fischchen, die unter der Bezeichnung »Stinte« in den Handel kommen und die zu Tausenden in allen Rillen und Löchern umherzappelten.

»Wie weit pflegst du zu gehen, Heinz?« fragte Onnen.

»Bis zur Paap (Sandbank in der Ems). Dort liegt ein Langboot, das die Buttjer gemeinschaftlich halten.«

»Und auf dem ihr mich mitnehmt nach Larrelt?«

»Allstunds, junger Herr.«

Die Flut mußte jetzt bald eintreten, schneller und schneller eilten der Schlammfischer und sein Kamerad über das Watt, dessen Nebel sich allmählich zu zerteilen begannen. Hell stand der Mond am nächtlichen Himmel, das Treiben auf dem Schlick beleuchtend, die Arbeit der emsig sammelnden Menschen und den Schmaus der Raubvögel, die mit dem fürlieb nahmen, was jenen zu gering erschien.

Auch hier Kampf und Streit, Flügelschlagen und Schnabelhiebe, auch hier Feldgeschrei und heißes Ringen um den Platz an der großen Tafel, die Gott der Herr für jedes seiner Geschöpfe gedeckt hat und in erbarmender Liebe täglich neu mit Speise füllt. Aufatmend hielten zu beiden Seiten des tieferen Fahrwassers die Schlammfischer mit ihren hochbeladenen Kreien inne.

Vor ihnen lag die Paap, eine öde, langgestreckte, bei tiefster Ebbe von den Meereswellen – die in den Emsfluß hineinströmen und ihn füllen – freigelassene Sandbank.

Weit und breit war kein Boot zu entdecken.

»Was beginnen wir Jetzt?« fragte etwas unruhig der Knabe. »Pst! Ich will es dir gleich erklären. Siehst du da auf dem Sande die großen, träge hingestreckten Tiere?«

»Die Seehunde? Natürlich.«

»Na, dann gib nur acht. Es sind jedenfalls Jäger hier und um ihretwillen ist unser Boot in der Entfernung geblieben.«

Sie hielten sich eine Zeitlang vollkommen lautlos, dann zupfte der Buttjer seinen Genossen am Ärmel und deutete auf die Sandbank. »Jetzt gib acht, junger Herr!«

An der anderen Seite der Paap erschienen in diesem Augenblick fünf oder sechs Männer, die sich sogleich mit lautem Geschrei und Armschwenken der Mitte näherten, wobei die scheuen Seehunde, aus ihrer behaglichen Ruhe aufgeschreckt, kopfüber in das Wasser schossen, gerade dadurch aber in die Hände ihrer Verfolger fielen.

Sobald die großen plumpen Tiere verschwunden waren, erwachte rings umher neues Leben. Zwei Fischerboote kamen von rechts und links herbei; mit allen Kräften wurde ein großes, aus starkem Geflecht verfertigtes Netz zusammengezogen und aufgewunden.

Unter dem Wasser schien ein gewaltiger Aufruhr zu toben. Die Wellen spritzten hoch hinauf gegen das Ufer, schäumten und brodelten, bewegten sich dermaßen, daß die Boote schaukelten; dann, nachdem ein ungeheures, von zwei Fahrzeugen zur Zeit der weichenden Flut ausgesegeltes Netz emporgehoben war, entstand eine plötzliche Stille. In den Maschen zappelten zwei große Seehunde.

 

»Nur zwei!« rief Onnen. »Und wenigstens zwölf waren vorhanden.«

»Das ist immerhin noch eine gute Jagd. Sehr, sehr häufig gelingt es sämtlichen Seehunden, nicht allein zu entkommen, sondern sogar auch das Netz zu zerreißen!«

Die Fischer ruderten ihre beiden Boote nahe aneinander heran und fünf Männer brachten mit vereinten Kräften die gefangenen Tiere in den großen durchlöcherten Kasten, der wie ein zweites Boot hinter dem ersten durch das Wasser glitt.

Von fernher näherte sich auch das Langboot der Buttjer und außerdem ein weißes Segel, das Heinz Thiedemann nicht gleich erkannte. »Ich glaube, es ist eine Schaluppe«, sagte er, »aber was will sie hier?«

Onnen beobachtete scharf. »Die ›Taube‹!« rief er. »Mein Vater kommt, um mich abzuholen.«

Die Flut rauschte auf, Kreien und Fischkörbe wurden in das Boot geschafft; von frischem Wind getrieben, kam die Schaluppe unter vollen Segeln heran. Heye Wessel hielt Wache am Steuer, er war nicht wenig erstaunt, den Sohn des Kapitäns hier in der Gesellschaft der Schlammfischer zu finden, dann aber lachte er, als ihm der Zusammenhang der Dinge erzählt wurde, recht behaglich und gab dem Buttjer ein reichliches Trinkgeld als Entschädigung für die gehabte Mühe.

Onnens Abschied von seinem Retter war sehr herzlich; der arme Heinz hatte wohl lange keinen so guten Zug getan wie eben heute. Er schwenkte noch die Mütze, als schon die Schaluppe weit ausholte, um zu wenden und wieder in See zu gehen.

Onnen suchte sein Lager, erzählte aber vorher dem aufhorchenden Riesen die Geschichte des letzten Tages, einschließlich des Abenteuers mit den beiden Unbekannten, welche auf so geschickte Weise den Paß erbeutet hatten.

Heye Wessel dampfte ganze Wolken. »Muß doch ein tüchtiger Kerl sein, der Fremde«, meinte er, »einer, der sich nicht ins Bockshorn jagen läßt. Unser Paß für Poppinga und Sohn soll ihm übrigens wohl bekommen – wir hätten den Wisch doch nicht weiter brauchen können, er ist schon gar zu häufig und von den verschiedensten Leuten benutzt worden. Dein Monsieur Renard, der Schnüffler, hat ihn ohne Zweifel früher gesehen und wiedererkannt! – Gerade auf die Nase fiel er, der feine Herr?«

»Gerade auf die Nase!« wiederholte Onnen, schon halb schlafend. »Ha, ha, ha, so sollen sie alle purzeln – alle!«

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