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Kostenloses Hörbuch
Wird gelesen Birgit Arnold
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Emily wusste, dass sie sich zu Daniel hingezogen fühlte, sie hatte akzeptiert, dass sie das schon seit ihrem ersten Treffen tat, doch er war immer noch genauso ein Mysterium für sie wie am Anfang. Um ehrlich zu sein, war er jetzt sogar noch mysteriöser, weil er so viel Zeit mit ihr verbracht hatte, ohne viel von sich selbst Preis zu geben. Sie wusste nur, dass es etwas in ihm gab, das er vor den Blicken anderer Menschen verbarg, eine Art Dunkelheit oder Träume, eine Art Geheimnis, vor dem er davonlief, was ihn daran hinderte, enge Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Emily wusste selbst, wie es sich anfühlte, vor einer traumatischen Vergangenheit davonzulaufen, weshalb sie ihn nie zu etwas drängte. Außerdem hatte sie selbst genug damit zu tun, die Geheimnisse des Hauses zu erforschen, um überhaupt damit anzufangen, Daniels Geheimnisse auszugraben. Deshalb ließ sie ihre Anziehung zu ihm unter der Oberfläche köcheln, in der Hoffnung, dass sie nicht überkochen und damit eine Kettenreaktion in Gang bringen würde, für die sie beide nicht vorbereitet waren.

*

Die ersten Kunden trudelten kurz nach der Mittagszeit ein, als Daniel und Emily in den Liegestühlen saßen und hausgemachte Limonade tranken. Emily sah Serena sofort unter ihnen.

„Hey!“, rief Serena aus und winkte, bevor sie zu Emily hinübersprang, um sie mit einer Umarmung zu begrüßen.

„Du bist wegen der Tische hier, oder?“, fragte Emily, als sie sich voneinander gelöst hatten. Emily war der Körperkontakt, den Serena so gerne austeilte, ein wenig unangenehm. „Sie stehen gleich hier drüben, ich hole sie für dich.“

Serena folgte Emily durch das Labyrinth aus Möbeln auf dem Rasen. „Ist das dein Freund?“, fragte sie und schaute zurück zu Daniel. „Denn er ist so heiß, nimm es mir nicht übel“

Emily lachte und warf ebenfalls einen Blick über die Schulter. Daniel sprach gerade mit Karen aus dem Laden. Er trug immer noch sein weißes Tank Top und die Sonne tanzte über seinen Bizeps.

„Das ist er nicht“, erwiderte sie.

„Er ist nicht heiß?“, rief Serena aus. „Mädchen, bist du blind?“

Emily schüttelte ihren Kopf und lachte. „Ich meinte, er ist nicht mein Freund“, korrigierte sie.

„Aber er ist heiß“, bestärkte Serena. „Du kannst das ruhig laut sagen, weißt du?“

Emily grinste. Serena musste denken, dass sie komplett frigide war.

Sie gingen zu den zwei Tischen, die Serena abholen wollte. Die jüngere Frau ging in die Hocke, um sie sich genauer anzuschauen. Sie strich sie ihr dunkles Haar über eine Schulter, wobei sie die karamellfarbene, von der Sonne verwöhnte Haut darunter enthüllte. Sie war auf diese Weise schön, wie es nur junge Frauen waren – sie verstrahlte ein Glühen und eine Bestimmtheit, die kein Makeup je imitieren konnten.

„Hast du vor, dich an ihn ran zu machen?“, fragte Serena, als sie zu Emily aufschaute.

Diese erstickte fast an ihrer eigenen Spucke. „Mich an Daniel heranmachen?“

„Warum nicht?“ wollte Serena wissen. „Wenn du es nicht tust, dann werde ich es auf jeden Fall versuchen!“

Emily erstarrte, trotz der Frühlingssonne fröstelte sie auf einmal. Der Gedanke daran, dass sie schöne, sorglose Serena zusammen mit Daniel erfüllte sie mit so starker Eifersucht, dass es sie selbst überraschte. Sie konnte sich geradezu vorstellen, dass er sich schnell in sie verlieben würde, wie könnte es denn auch anders sein? Es lag geradezu in ihrer DNA.

Emilys Laune trübte sich etwas, weil Serena sie aufzog. Scherze zu reißen war eines der Dinge, die junge und sorglose Menschen gerne taten. Doch ermattete und abgespannte Menschen wie sie selbst konnten das nur schwer genießen.

„Warum machst du über so etwas Witze?“, wollte Emily wissen und versuchte, sich ihren Schmerz nicht ansehen zu lassen.

„Ich wollte dein Gesicht sehen“, antwortete Serena. „Um herauszufinden, ob du auf ihn stehst oder nicht. Es ist offensichtlich, dass du auf ihn stehst und du solltest definitiv deswegen etwas unternehmen. Weißt du, ein Kerl mit seinem Aussehen bleibt nicht lange alleine.“

Emily zog ihre Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Serena war zu jung, um zu verstehen, wie kompliziert es zwischen zwei Menschen werden konnte, oder wie sehr einen der emotionale Ballast erdrückte, je älter man wurde.

„Hey“, sagte Serena und schaute in die Ferne. „Hattest du schon Gelegenheit, die Scheune durchzuforsten? Ich wette, dort gibt es viele aufregende Dinge.“

Emily warf einen Blick über ihre Schulter. Am anderen Ende des Rasens stand die hölzerne Scheune einsam und vergessen im Schatten. Sie war bisher noch nicht dazugekommen, die äußeren Gebäude zu erkunden. Daniel hatte ihr von den Gewächshäusern und von seinem Plan, zu reparieren, um darin Blumen zu züchten und diese zu verkaufen, erzählt, doch es war einfach zu kostspielig. Von der Scheune und den anderen Nebengebäuden hatte er jedoch gar nichts gesagt, und sie hatte sie einfach vergessen.

„Noch nicht“, antwortete sie und wandte sich wieder Serena zu. „Aber ich werde dir Bescheid sagen, wenn ich etwas finden sollte, dass dir oder Rico gefallen könnte.“

„Wunderbar“, erwiderte Serena, die endlich nachgab und in jedem Arm einen Tisch trug. „Danke nochmal für die hier. Und vergiss nicht, dass ich dir geraten habe, dich an Mr. Ultraheiß ranzumachen. Du bist doch immer noch jung!“

Emily verdrehte die Augen und lachte in sich hinein, während sie beobachtete, wie die jüngere Frau davonstolzierte. War sie in ihren Zwanzigern auch so selbstbewusst gewesen? Wenn ja, dann konnte sie sich nicht mehr daran erinnern.

Amy war immer die Selbstbewusste gewesen, Emily hingegen war immer schüchterner gewesen. Vielleicht war das der Grund, warum sie immer in schrecklichen Beziehungen endete und warum sie so lange bei Ben geblieben war. Ihre Angst, keinen anderen zu finden und die Qual der unbeholfenen Schwerfälligkeit, einen neuen Menschen kennenlernen zu müssen, hatten sie daran gehindert, aus ihrer Rolle hinauszutreten.

Emily schaute zu Daniel und beobachtete, wie er mit den Kunden sprach, wie vorsichtig sein Verhalten war und wie er sich so schnell in seiner eigenen Welt verlieren konnte, wenn er wider alleine war. Von ihrem ersten Treffen an, hatte Emily einen Teil von sich selbst in Daniel entdeckt. Und genau deshalb wollte sie ihn näher kennenlernen.

*

Serenas Interesse an der Scheune, hatte Emilys eigene Neugier geweckt. Später am Abend nach dem Ende des Flohmarkts machte sie sich daran, die Nebengebäude näher anschauen. Im verblassenden Licht schaute das Grundstück sogar noch schöner aus und es wurde deutlich, wie sehr Daniel es pflegte. Er hatte einen Rosenbusch erhalten können, der schon hier stand seit sich Emily erinnern konnte.

Als sie an dem zerbrochenen Gewächshaus vorbeiging, kam eine Erinnerung an leuchtend rote Tomaten auf, die in Töpfen wuchsen, und an ihre Mutter, die einen Schlapphut trug und eine graue Gießkanne in der Hand hielt. Hinter dem Gewächshaus waren Apfel- und Birnenbäume gestanden. Vielleicht würde Emily eines Tages wieder welche anpflanzen.

Sie ging an dem zerbrochenen Gewächshaus vorbei und weiter zu der Scheune. An der Tür hing ein Vorhängeschloss, das Emily in die Hand nahm und versuchte, irgendeine Erinnerung an die Scheune wachzurufen. Doch sie hatte keinen Erfolg. Genau wie der versteckte Ballsaal war die Scheune ein geheimer Ort, den sie als Kind nie erforscht hatte.

Sie ließ das Vorhängeschloss los – es fiel mit einem dumpfen Schlag zurück gegen das Holz – und ging um die Seite herum, um nachzusehen, ob es noch eine andere Möglichkeit gab, hineinzukommen. Dann bemerkte sie einen notdürftigen Reparaturversuch; eines der Holzbretter war offensichtlich kaputt oder verfault und jemand hatte ein dünnes Stück Sperrholz darüber geschlagen – eine Notlösung, die nie ausgebessert worden war. Emily konnte sich ihren Vater bildlich mit einem Hammer in der Hand hier draußen vorstellen, wie er das Loch mit einem Stück Sperrholz bedeckte und vorhatte, die Stelle in den kommenden Tagen richtig auszubessern. Nur hatte er es nie getan. Kurz nachdem er den Schaden an der Scheune repariert hatte, entschied er sich dazu, wegzugehen und nie wieder zurückzukehren.

Emily seufzte tief auf, frustriert, dass diese imaginären Erinnerungen einfach so in ihrem Kopf auftauchten. Sie hatte genug echte Sorgen, um die sie sich kümmern musste, sie konnte sich nicht auch noch mit künstlichem Schmerz befassen.

Nach kurzer Bearbeitung schaffte es Emily, das Sperrholz von der Wand abzureißen, wobei sie ein größeres Loch freilegte als sie erwartet hatte. Sie konnte leicht hindurchklettern und fand sich plötzlich im Innenraum der dunklen Scheune wider. In der Luft lag ein seltsamer, nuttiger Geruch, den Emily nicht einordnen konnte. Was sich im Inneren des Gebäudes befand, konnte sie klar erkennen. Die Scheune war in eine provisorische Dunkelkammer umgewandelt worden, wo man Fotografien entwickeln konnte. Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob das eines der Hobbys ihres Vaters gewesen war, doch ihr Kopf blieb leer. Er hatte gerne Bilder von der Familie geschossen, daran konnte sie sich noch erinnern, doch nicht daran, dass er sich aus dieser Begeisterung eine eigene Dunkelkammer einrichten wollte.

Emily ging zu dem großen, langen Tisch hinüber, auf dem verschiedene Schalen nebeneinanderstanden. Sie hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, dass sie als Becken für die Entwicklungsflüssigkeiten dienten. Über dem Tisch hing eine Wäscheleine, an der immer noch Klammern befestigt waren, mit denen die Bilder zum Trocknen aufgehängt wurden. Das alles weckte Emilys Neugier.

 

Sie lief in der Scheune umher, um zu sehen, ob sich noch andere interessante Dinge darin befanden. Zuerst fiel ihr allerdings nichts Besonderes auf. Es gab nur Flaschen, in denen sich einmal die Entwicklungsflüssigkeit befunden haben musste, alte Kanister für Filmrollen sowie lange Linsen und zerbrochene Kameras. Dann entdeckte sie jedoch eine Tür, die ebenfalls mit einem Schloss verhangen war. Emily fragte sich, was wohl dahinterlag. Sie schaute sich nach einem Schlüssel um, doch konnte keinen finden. Bei ihrer Suche stieß sie auf eine Schachtel voller Fotoalben, die planlos aufeinandergestapelt waren. Sie nahm das oberste heraus, blies den Staub vom Einband und öffnete es.

Das erste Bild war schwarz-weiß, eine Nahaufnahme eines Zifferblattes. Das nächste war ebenfalls schwarz-weiß und zeigte ein zerbrochenes Fenster, über das sich eine Spinnenwebe zog. Emily sah sich jede Seite stirnrunzelnd an. Sie sahen ihrer Meinung nach nicht professionell aus, viel von einem Amateur, doch sie strahlen solche Melancholie aus, die die Stimmung des Fotografen widerzuspiegeln schien. Tatsächlich kam es ich bei der Betrachtung jedes Fotos so vor, als ob sie direkt in die Gedanken des Fotografen schauen würde, anstatt die Gegenstände zu betrachten, die er festgehalten hatte. Die Bilder lösten Traurigkeit und fast schon ein beengtes Gefühl in ihrer Brust aus, obwohl sie sich in einer großen Scheune befand.

Plötzlich hörte Emily hinter sich ein Geräusch. Sie wirbelte mit hämmerndem Herzen herum und ließ das Fotoalbum fallen. Dort, in der Öffnung, durch die sie selbst die Scheune betreten hatte, stand ein kleiner Terrier. Es war eindeutig ein Streuner, denn sein Fell war verfilzt und zerzaust. Er stand dort und starrte sie an, verwirrt, dass sich jemand am seinem Rückzugsort befand.

Das erklärt den Geruch, dachte Emily.

Sie fragte sich, ob Daniel von dem streunenden Hund wusste, ob er ihn über das Grundstück hatte laufen sehen. Sie beschloss, ihn morgen zu fragen, wenn der Flohmarkt fortgesetzt würde. Außerdem würde sie ihn über ihre Entdeckung der Dunkelkammer informieren – plötzlich war sie ganz aufgeregt, einen Grund gefunden zu haben, um mit ihm zusprechen.

„Es ist schon in Ordnung“, sagte sie zu dem Hund. „Ich gehe ja schon.“

Er legte seinen Kopf auf die Seite, als ob er ihre Worte verstehen könnte. Als sie das Fotobuch zurück in die Schachtel legte, sah sie, dass zwischen den Seiten ein Bild herausgefallen war. Sie hob es auf und erkannte, dass es ein Foto einer Geburtstagsfeier war. Kleine Kinder saßen um einen Tisch herum, auf dem eine große, rosa Torte mit einem Schloss in der Mitte stand. Auf einmal wurde Emily klar, was sie in den Händen hielt – ein Bild von Charlottes Geburtstagsfeier. Charlottes fünftem Geburtstag. Charlottes letztem Geburtstag.

Emily spürte, wie Tränen in ihren Augen aufstiegen. Sie hielt das Foto fest in ihren zitternden Händen. Sie konnte sich nicht wirklich an Charlottes letzten Geburtstag erinnern, genau wie sie allgemein nur wenige Erinnerungen an ihre Schwester hatte. Es schien, als ob ihr Leben in zwei Teile gerissen wäre – im ersten Teil lebte Charlotte noch, der zweite Teil umfasste alles nach ihrem Tod. Es war der Teil, in dem alles auseinanderbrach, in dem die Ehe ihrer Eltern schließlich auseinanderfiel, als die Stille unerträglich wurde. Das große Finale stellte das Verschwinden ihres Vaters vom Erdboden dar. Doch all das war Emily Jane passiert, nicht Emily, der Frau, die sie geworden war, der Mensch, den sie aus dem Wrack geformt hatte. Als sie sich das Foto, den Beweis ihres Lebens mit Charlotte ansah, fühlte sich Emily enger mit dem Kind, das sie zurückgelassen hatte, verbunden als je zuvor.

Der Hund bellte und riss Emily aus ihren Gedanken. „Okay“, sagte sie, „ich hab’s verstanden. Ich gehe ja schon.“

Doch anstatt das Fotoalbum in die Schachtel zurückzulegen, hob Emily die ganze Box hoch, die, wie sie bemerkte, bis zum Rand mit Fotos gefüllt war. Dann schleppte sie sich durch die Scheune und quetschte sich aus der Öffnung hinaus. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der versteckte Ballsaal, das verschlossene Scheunentor, die Schachtel voller Fotografien…welche Geheimnisse mochten sich noch in diesem alten Haus verbergen?

KAPITEL NEUN

As sie zurück ins Haus eilte, konnte Emily hämmernde und klopfende Geräusche aus dem Ballsaal vernehmen, was bedeutete, dass Daniel trotz der späten Stunde immer noch da war und Bilderrahmen und Spiegel für sie aufhängte. Er arbeitete immer länger und länger, manchmal sogar bis Mitternacht, und Emily gab sich der Vorstellung hin, dass er das nur tat, um in ihrer Nähe zu sein, als ob er darauf warten würde, dass sie ihm eine Tasse Tee brachte, was sie sehr gerne tat. Es kam häufig vor, dass zu dieser Stunde, nachdem sie genug organisiert und herumgeräumt hatte, zu ihm in den Raum ging und sich mit ihm unterhielt. Das würde er auch heute Abend von ihr erwarten.

Doch heute Abend waren ihre Gedanken woanders. Um ehrlich zu sein, wollte sie Daniel gar nicht sehen. Sie war durch das Foto von Charlotte und der Entdeckung der Dunkelkammer so durch den Wind, dass sie sich nur darauf konzentrieren konnte, was als nächstes käme, was sie jetzt tun musste, genau jetzt. Endlich, nach all dieser Zeit.

Denn es gab immer noch Räume, die Emily noch nicht betreten hatte – Räume, die sie mit Absicht gemieden hatte. Dazu gehörte das Arbeitszimmer ihres Vaters, dessen Tür immer fest verschlossen war. Sie hatte seine Ruhe nicht stören wollen. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie keine Geheimnisse, die sich möglicherweise darin befanden, nicht rauslassen wollen.

Doch nun war sie der Meinung, dass sie zu lange im Dunkeln gehalten wurden. Die Geheimnisse ihrer Familie zehrten an ihr. Sie hatte das Schweigen, das Unwissen über sich bestimmen lassen. Niemand in ihrer Familie hatte je über irgendetwas geredet, weder von Charlottes Tod noch von dem darauffolgenden Zusammenbruch ihrer Mutter oder der bevorstehenden Scheidung ihrer Eltern, die mit jedem Jahr, das verging, näher rückte. Sie waren feige, denn sie ließen ihre Wunden eitern, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ihre Mutter, ihr Vater, beide waren gleich. Beide ließen so Vieles unausgesprochen, wodurch die Wunden so groß und eitrig wurden, dass der einzige Ausweg die Abtrennung eines Körperteils war.

Einen Teil abtrennen, dachte Emily.

Genau das hatte ihr Vater getan, nicht wahr? Er hatte seine gesamte Familie abgeschnitten und war vor dem Problem, von dem er nicht reden konnte, davongelaufen. Er hatte sie alle verlassen, weil ein Hindernis, eine Hürde zu groß schien, um sie zu überwinden. Emily wollte sich nicht ihr Leben lang Fragen stellen müssen. Sie wollte Antworten. Und sie wusste, dass sie diese im Arbeitszimmer finden würde.

Sie stellte die Fotokiste auf die Treppe, bevor sie immer zwei Stufen auf einmal hinaufnahm. Ihre Gedanken spielten verrückt, als sie entschlossen den langen Korridor entlangging, bis sie die Tür zu dem Arbeitszimmer ihres Vaters erreichte, vor der sie stehenblieb. Die Tür bestand aus dunklem, lackierten Holz. Emily erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen an ihr hinaufgestarrt hatte. Damals war sie ihr mächtig, fast schon bedrohlich, erschienen, eine Tür, durch die ihr Vater verschwand, als ob er von etwas verschluckt worden wäre, nur, um Stunden später wieder herauszutreten. Sie hatte ihn nie stören dürfen und trotz ihrer kindlichen Neugier hatte sie nie die Regeln gebrochen und war stets draußen geblieben. Sie hatte keine Ahnung, warum sie nie eintraten durfte. Sie wusste nicht, warum ihr Vater in den Raum verschwand. Von ihrer Mutter hatte sie nichts erfahren und als die Jahre vergingen und aus ihr ein Teenager wurde, war ihr der Raum egal, all ihre unbeantworteten Fragen waren unter eine Decke des Schweigens gehüllt.

Sie drehte versuchshalber an dem Türknauf und war überrascht festzustellen, dass er sich umdrehen ließ. Sie hatte angenommen, dass das Arbeitszimmer verschlossen wäre, als eine Art Schutz gegen ihr Eindringen. Deshalb schockierte es sie so sehr, dass sie so einfach in den Raum hineingehen konnte, den sie noch nie zuvor betreten hatte.

Sie zögerte, fast schon rechnete sie damit, dass ihre Mutter auftauchen und sie schimpfen würde. Doch natürlich kam niemand, weshalb Emily tief durchatmete und die Tür aufdrückte. Sie schwang mit einem Knarzen auf.

Emily spähte in den Raum, der im Schatten lag. Im Inneren sah sie einen großen Tisch, Aktenschränke und Bücherregale. Im Gegensatz zum Rest des Hauses war das Arbeitszimmer ihres Vaters ordentlich. Er hatte es nicht mit Gegenständen, Kunstwerken oder Fotografien vollgestellt, auf dem Boden lagen keine zusammengewürfelten Teppiche, die er so zusammengestellt hatte, weil er sich nicht für einen hatte entscheiden können. Tatsächlich war dies in dem gesamten Haus der Raum, der ihrem Vater am wenigsten entsprach, was sie sehr befremdlich fand.

Emily lief in dem Zimmer auf und ab. In der Luft lag der bekannte Geruch nach Staub und Schimmel, es war der gleiche Geruch, der bei ihrer Ankunft in dem ganzen Haus gehangen hatte. Spinnenweben hangen zwischen der Glühlampe und dem Lampenschirm von der Decke. Schnell ging sie an ihnen vorbei, denn sie wollte keine lauernden, gruseligen Krabbeltiere aufscheuchen.

Doch als sie nun mitten in dem Raum stand, wusste Emily nicht, wo sie anfangen sollte. Um ehrlich zu sein, wusste sie nicht einmal, nach was sie eigentlich suchte. Sie hatte nur so ein Gefühl, dass sie es wissen würde, sobald sie es sah, sie wusste, dass die Geheimnisse ihrer Familie irgendwo in diesem Raum versteckt waren.

Sie ging zum ersten Aktenschrank hinüber und begann, sich durch die erste Schublade zu wühlen, denn ihr war gleich, wo sie anfangen würde. Zwischen den Papieren ihres Vaters fand sie die Rechtsunterlagen des Hauses, die Heiratsurkunde ihrer Eltern sowie die Scheidungspapiere ihrer Mutter. Außerdem fand sie ein Rezept für Zoloft, einem Antidepressionsmittel. Die Tatsache, dass ihr Vater Medikamente nahm, überraschte sie nicht sonderlich – der Tod seines eigenen Kindes würde jeden Menschen in eine Depression stürzen. Doch nichts davon half, das Verschwinden ihres Vaters zu erklären.

Als sie den Aktenschrank und die darin befindlichen Papiere durchforstet hatte, ging Emily zu dem Schreib tisch hinüber, um in dessen Schubladen nachzusehen. Zuerst wollte herausfinden, ob sie verschlossen waren, und stieß ein leises Aha aus, als sich ihr Verdacht bestätigte. Schon wollte sie Daniel rufen, um ihn zu fragen, ob er das Schloss aufhebeln und die Schublade für sie öffnen konnte, als ihr der kleine Tresor auffiel, der in einer Zimmerecke stand. Sofort hatte Emily das Gefühl, dass das, was auch immer sich in ihm befand, jede Frage, die in ihr brannte, beantworten könnte.

Sie ließ von der Schublade ab und eilte stattdessen zu dem dunkelgrünen, stählernen Tresor, vor den sie sich kniete. Sie stellte fest, dass er mit einem Vorhängeschloss gesichert war, für den man keinen Schlüssel, sondern eine Zahlenkombination benötigte. Mit zitternden Fingern bewegte Emily die kleinen silbernen Rädchen und stellte das Geburtsdatum ihres Vaters ein. Doch die Kombination stimmte nicht und das Vorhängeschloss gab keinen Millimeter nach. Sie wusste nicht woher, doch irgendwie wusste sie, dass Charlottes Geburtsdatum das Schloss öffnen würde. Sie war immerhin das Lieblingskind ihres Vaters gewesen. Doch als sie die Zahlen einstellte, bemerkte sie, dass auch das nicht funktionierte. Als letzter Versuch schob Emily so lange an den Rädchen, bis sie ihr eigenes Geburtsdatum anzeigten. Als sie nun an dem Vorhängeschloss zog, stellte sie überrascht fest, dass es sich plötzlich öffnete.

Emily setzte sich überwältigt auf ihre Fersen zurück. Sie hatte immer sich selbst die Schuld an dem Verschwinden ihres Vaters gegeben (wie jedes Kind es unweigerlich tat, wenn ein Elternteil aus seinem Leben verschwand), denn sie war der Meinung, dass sie, im Gegensatz zu Charlotte, nicht gut genug sei, dass Charlotte der Liebling ihres Vaters war, der unter zwei Qualen litt. Die erste davon war der Verlust seines jüngsten Kindes und die zweite war die Tatsache, dass Emily als Ersatz nicht gut genug war. Und die Bilder von Charlotte, die sie überall im Haus gefunden hatte, als ob sie ein Teil des Gebäudes wären, hatten diese weit zurückreichende Annahme sogar noch verstärkt. Doch jetzt wurde Emily mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert. Ihr Geburtsdatum war die Zugangskombination für den Tresor. Ihr Vater hatte das bewusst so entschieden. Bedeutete es, dass was auch immer sich darin verbarg, nur für ihre Augen bestimmt war? Oder hieß es, dass ihr Vater sie genauso sehr geliebt hatte wie Charlotte?

 

Emily schüttelte den Kopf, als sie das Vorhängeschloss von der Tür des Tresors abnahm und sie quietschend aufzog.

Emily griff mit der Hand in das Ungewisse und tastete sich umher. Sie fühlte eine Art Stoff, Velours oder Samt, und zog ihn heraus. Sie schaute nach unten und sah, dass sie einen dunkelroten Beutel in ihrer Hand hielt, der mit einem sogar noch dunkleren Band zusammengehalten wurde. Er war schwer, was Emily verwunderte. Sie löste das Band und kippte den Beutel aus. Eine Reihe Perlen, die mit einem dünnen, weißen Faden miteinander verbunden waren, fielen in ihre Hand. Emily erkannte die Kette sofort wieder. Vor so vielen Jahren hatten Charlotte und sie ihren Eltern ein Theaterstück über Piraten vorgespielt, sie selbst in der Rolle einer entführten Prinzessin, wofür sie die Perlenkette getragen hatte. Als ihr Vater das sah, war er sehr wütend geworden und hatte von ihr verlangt, sie auszuziehen. Emily hatte geweint und ihre Mutter hatte ihren Vater wegen seiner übertriebenen Reaktion angeschrien, doch am Ende war die Kette verschwunden und sie hatte sie nie wiedergesehen.

Erst Tage später hatte er sich genug beruhigt, um ihr zu erklären, dass einmal die Halskette seiner Mutter gewesen war. Doch erst Jahre später hatte sie verstanden, warum ihm der sentimentale Wert so wichtig erschien, es war der einzige Gegenstand, den seine Mutter hatte verpfänden müssen, um für seine Schulbildung zu zahlen. Sie hatten die Halskette nie wieder erwähnt und Emily hatte sie nie wieder zu Gesicht bekommen, obwohl die oft an sie gedacht hatte.

Jetzt starrte Emily die Kette in ihrer Hand enttäuscht an. Eine Perlenkette lieferte keine Antworten auf die Geheimnisse ihrer Familie und erklärte auch nicht das Verschwinden ihres Vaters. Was sie sehr verletzte, war die Tatsache, dass ihr Vater der Meinung gewesen war, sein wertvollstes Eigentum in einem Tresor einschließen zu müssen, damit es seine neugierige, fünf Jahre alte Tochter nicht in die Hände bekam. Außer natürlich, die Kette war etwas wert und er hatte sie weggeschlossen, um sicher zu gehen, dass ihre Mutter sie nach seinem Verschwinden nicht zu Geld machen würde? Oder vielleicht wollte er damit auch nur bezwecken, dass sie in Emilys Besitz überging, als eine Art Entschuldigung an das fünfjährige Mädchen, das sie einmal gewesen war? Was, wenn er ihr Geburtsdatum eingestellt hatte, um ihr einen Hinweis zu geben? Es gab keine Möglichkeit, das mit absoluter Sicherheit sagen zu können, da ihr Vater nicht hier war, um es ihr erklären zu können.

Emily spielte mit ihren Fingerspitzen. Sie fühlte sich wie ein undankbares Kind, weil sie von ihrem Fund so enttäuscht gewesen war. Wenn ihr Vater die Halskette extra für sie versteckt hatte, dann sollte sie dankbar sein. Es war nur so, dass sie sich so sicher gewesen war, dass sich in dem Tresor die Informationen befinden würden, die sie so dringend brauchte. Sie war so davon überzeugt gewesen, dass das letzte Stück des Puzzles darin versteckt war.

Sie seufzte und wollte gerade die Tür des Tresors schließen, als ihr etwas Anderes auffiel, das sich ganz am Ende im Schatten verbarg. Sie griff mit ihrer Hand hinein und zog er heraus. Es war ein Anhänger voller Schlüssel.

Emily starrte ihre Entdeckung einen Moment lang mit wild klopfendem Herzen an. Was könnte ihren Vater wohl dazu verleitet haben, seine Schlüssel in einem Tresor zu verstecken? Welche Geheimnisse trug er in sich, die so schlimm waren, dass er die Schlüssel wegschließen musste?

An dem Bund hingen mindestens zwanzig davon und als sich Emily sich jeden von ihnen einzeln anschaute, fragte sie sich, welche Türen sie wohl öffnen mochten. Dann erinnerte sie sich an die verschlossene Schreibtischschublade. Schnell ging sie zu der hinüber und setzte jeden Schlüssel an, bis einer von ihnen schließlich hineinglitt. Dann ertönte ein Klicken.

Der Moment war gekommen. Sie hatte es geschafft. Sie hatte endlich das gefunden, was ihr Vater so gründlich und über so viele Jahre hinweg vor der Familie versteckt gehalten hatte.

Sie linste in die Schublade, in der nur ein Gegenstand lag: ein einziger weißer Umschlag. In der sauberen Handschrift, die Emily sofort als die ihres Vaters erkannte, war nur ein Wort in verblasster, blauer Tinte geschrieben.

Emily.

Es kam ihr so vor, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über Emily gekippt, als sie erkannte, dass ihr Vater einen Brief für sie geschrieben, ihn ihr jedoch nie gegeben hatte. Er war in der Schublade versteckt gewesen, die man nur mit dem im Tresor aufbewahrten Schlüssel öffnen konnte. Emily wurde von der seltsamen Gewissheit erfüllt, dass der Inhalt dieses Briefes ihr Leben für immer verändern würde.

Doch bevor Emily die Möglichkeit hatte, ihn zu öffnen, läutete es plötzlich an der Tür, wodurch sie sich fast zu Tode erschreckte. Es war fast Mitternacht, wer um Himmels Willen würde zu solch später Stunde vorbeikommen?

*

Emily steckte den Brief in ihre Tasche, bevor sie aufsprang und den Korridor entlangrannte. Auf der Treppe sah sie, dass Daniel schneller gewesen war, denn die Tür stand offen, vor der sich ein kleiner, beleibter Mann aufhielt, dessen Outfit den Eindruck erweckte, als käme er direkt vom Golfplatz.

„Hey hallo“, sagte er zu Daniel, doch seine Stimme drang die Treppe hinauf auch an ihre Ohren. „Tut mir leid, dass ich so spät noch vorbeischaue. Ich bin Trevor Mann, Ihr Nachbar. Mein Haus liegt auf dem hundert Morgen großen Grundstück hinter Ihnen, ich bin nur für die schöne Jahreszeit hier.“

Er streckte Daniel seine Hand entgegen, doch dieser starrte ihn sie nur an, ohne den Gruß zu erwidern. „Das hier ist nicht mein Haus“, entgegnete er. „Es ist nicht meine Hand, die sie schütteln müssen.“

Emily spürte, wie sich ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete, als sich Daniel umdrehte und zu ihrer Gestalt auf der Treppe deutete. Sie ging schnell hinunter und schüttelte Mr. Manns Hand kräftig, um ihm zu zeigen, wer hier das Sagen hatte.

„Ich heiße Emily Mitchell. Schön, Sie kennen zu lernen.“

„Ah“, gab Trevor freundlich wie immer zurück. „Entschuldigung für die Verwechslung. Wie dem auch sein, ich will Sie nicht lange aufhalten. Ich weiß, es ist spät, aber ich wollte Sie nur darüber informieren, dass ich ein Auge auf Ihr Grundstück geworfen habe und vorhabe, es Ende des Sommers zu übernehmen.“

Emily blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“

„Ihr Grundstück. Ich werfe schon seit zwanzig Jahren ein Auge darauf. Ich meine, ich weiß, dass ich bereits hundert Morgen besitze und Sie nur fünf, doch Sie haben Ausblick auf das Meer, was bedeutet, dass Ihnen eines der letzten Grundstücke gehört, die direkt auf das Wasser hinausgehen. Ich würde meinen Besitz gerne erweitern und es Ihnen abkaufen. Das ist nun Ihrer Gelegenheit, viel Geld zu verdienen.“

„Das verstehe ich nicht“, erwiderte Emily.

„Wirklich nicht? Spreche ich etwa Chinesisch?“ Er lachte schallend auf, als ob er den besten Witz des Jahrhunderts gerissen hätte. „Ich möchte Ihr Land kaufen, Miss Mitchell. Sie müssen verstehen, dass wir uns durch das Verschwinden des Besitzers in einer rechtlichen Grauzone befinden. Doch ich habe gesehen, dass Licht brennt, und mich in der Stadt herumgefragt. Karen aus dem Laden hat mir schließlich verraten, wer sich nun in dem Haus aufhält.“