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Kostenloses Hörbuch
Wird gelesen Birgit Arnold
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Er stürmte davon und Emily schlug die Tür zu. Sie stand dort, von der heftigen Auseinandersetzung aus der Bahn geworfen. Wer zum Teufel war Daniel, dass er ihr vorschrieb, was sie mit ihrem Leben tun oder lassen könnte? Sie hatte jedes Recht dazu, in dem Haus ihres Vaters zu sein. Sie hatte sogar mehr Recht dazu als Daniel! Wenn jemand von der Anwesenheit eines anderen Menschen genervt sein sollte, dann war sie das!

Wütend lief Emily vor und zurück, wodurch die Dielen knarzten und der Staub aufwirbelte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das zuletzt so wütend gewesen war – sogar, als sie mit Ben Schluss gemacht und ihren Job gekündigt hatte, war diese heiße Glut nicht durch ihre Adern geflossen. Sie hörte auf zu laufen und fragte sich, warum sie durch Daniel so aufgebracht war, wie es nicht einmal ihr Partner, mit dem sie sieben Jahre lang zusammen gewesen war, geschafft hatte. Zum ersten Mal, seit sie Daniel kennengelernt hatte, fragte sie sich, wer er war, wo er herkam und was er hier tat.

Und ob er eine Freundin hatte.

*

Emily verbrachte den Rest des Abends damit, über ihren Streit mit Daniel nachzudenken. So nervig es auch war, gesagt zu bekommen, dass niemand in der Stadt sie mochte, und wie frustrierend es war, dass sie sich das Grundstück mit ihm teilen musste, kam sie nicht um die Tatsache herum, zuzugeben, dass sie sich in das alte Haus verliebt hatte. Nicht nur in das Haus, sondern auch in die Ruhe und die Stille. Daniel hatte wissen wollen, wann sie nach Hause ging, aber so langsam bemerkte sie, dass sich das hier mehr wie ihr Zuhause anfühlte, als jeder andere Ort, an dem sie in den vergangenen zwanzig Jahren gelebt hatte.

Mit deinem Rausch der Begeisterung in den Adern rannte Emily zu ihrem Handy, das bei der Haustür lag, und wählte die Nummer ihrer Bank. Sie hörte die Stimme des Automaten, gab die notwendigen Sicherheitscodes ein und hörte der Roboterstimme zu, die ihr laut ihren Kontostand vorlas. Sie schrieb die Zahl auf ein Blatt Papier, das sie auf einem Knie balancierte, die Kappe des Stiftes steckte zwischen ihren Zähnen und das Telefon klemmte zwischen ihrer Schulter und ihrem Ohr. Dann nahm sie das Papier mit ins Wohnzimmer und begann, im Kopf zu überschlagen: die Kosten für den Strom und die Öllieferung, die Gebühr sowie die Installationskosten für Internet und Festnetzanschluss, Benzin für ihr Auto, Nahrungsmittel für die Küchenschränke. Als sie fertig war, stellte sie fest, dass sie genug Geld hatte, um sechs Monte davon leben zu können. Sie hatte so lange und so hart in einer Stadt gearbeitet, die das verlangte, sodass sie den Überblick über das Gesamtbild verloren hatte. Jetzt hatte sie die Chance innezuhalten und für eine Weile nichts zu tun. Sie wäre ein Idiot, wenn sie sie nicht ergreifen würde.

Emily lehnte sich in der Couch zurück und lächelte in sich hinein. Sechs Monate. Könnte sie das wirklich tun? Hier, in dem alten Haus ihres Vaters bleiben? Sie verliebte sich immer mehr in die alte Ruine eines Hauses, doch sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es wegen der Erinnerungen, die hier wach wurden, oder wegen der Verbindung, die sie zu ihrem verschwundenen Vater verspürte, so war.

Doch sie beschloss, es alleine wiederherzurichten, und zwar ohne Daniels Hilfe.

*

Am Donnerstagmorgen erwachte Emily mit einer Begeisterung und Motivation, wie sie sie schon seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Als sie die Vorhänge zur Seite zog, stellte sie fest, dass der Schnee größtenteils verschwunden war, weshalb nun das zu hoch gewachsene grüne Gras um das Haus herum zum Vorschein kam.

Im Gegensatz zu dem ausgedehnten Frühstück, das sie am Tag zuvor genossen hatte, aß Emily heute schnell und stürzte ihren Kaffee in einem Zug hinunter, bevor sie sich direkt an die Arbeit machte. Die Energie, die sie gestern beim Putzen gespürt hatte, schien heute sogar noch tausend Mal stärker zu sein, jetzt, da sie wusste, dass sie hier nicht nur einen Urlaub verbringen, sondern diesen Ort für die nächsten sechs Monate ihr Zuhause nennen würde. Das erdrückende Gefühl der Nostalgie, das starke Gefühl, dass nichts berührt, verstellt oder verändert werden sollte, war ebenfalls verschwunden. Zuvor hatte sie gedacht, dass das Haus so erhalten oder restauriert werden sollte, wie ihr Vater es gewollt hätte. Doch jetzt fühlte es sich so an, als ob sie das Recht dazu hätte, dem Haus ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Der erste Schritt, das zu erreichen, war, die Berge an Besitztümern, die ihr Vater angesammelt hatte, sowie den Krempel auszumisten. Zu dem Krempel gehörten auch ihre Jugendliebesromane.

Emily eilte in die Bücherei, die ihr als guter Startpunkt erschien, und nahm die Bücher auf den Arm, bevor sie sie nach draußen über das feuchte Gras trug und auf den Gehweg schmiss. Gegenüber dem Haus, auf der anderen Straßenseite gab es einen felsigen Strand, der zum Meer, das nur knapp hundert Meter entfernt lag, und zu dem entfernten, leeren Segelhafen führte.

Draußen war es immer noch kalt – kalt genug, dass sie ihren Atem sehen konnte – doch die helle Wintersonne versuchte, durch die Wolken zu brechen. Emily zitterte, als sie sich aufrichtete, dann sah sie zum ersten Mal seit ihrer Ankunft einen weiteren Menschen auf dem Gehweg. Es war ein Mann mit braunem Bart und Schnurrbart, der eine Mülltonne hinter sich herzog. Emily brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er wahrscheinlich in dem Haus nebenan wohnte – ebenfalls eine viktorianische Villa, wie die ihres Vaters, jedoch definitiv in besserem Zustand – und versuchte, ihn in ihrem Kopf als Nachbar einzuordnen. Sie hielt inne und beobachtete, wie er die Tonne neben den Briefkasten abstellte, bevor er seine Post holte – die aufgrund des Schneesturms tagelang in dem Briefkasten gefangen gewesen war. Danach trottete er über den gepflegten Rasen und stieg die Treppe seiner riesigen Holzveranda hinauf. Irgendwann würde Emily sich ihm vorstellen müssen. Doch wenn die Menschen sie, wie Daniel hatte anklingen lassen, wirklich so sehr hassten, dann war das vielleicht doch nicht so wichtig.

Als sie zurück über ihren Rasen ging, strengte sich Emily sehr an, nicht zum Kutschenhaus hinüberzuschauen, obwohl der rauchige Geruch von Daniels Holzofen in der Luft lag, woran sie erkannte, dass er wach war. Sie wollte nicht, dass er herüberkam, sich in ihre Angelegenheiten einmischte und sie verspottete, weshalb sie schnell ins Haus hineinging, um weitere Dinge zu suchen, die sie wegwerfen konnte.

Die Küche war voller Krempel – rostigem Besteck, Seihern mit gebrochenen Griffen, Töpfe, in denen Rückstände von Verbranntem klebte. Emily verstand, warum ihre Mutter so frustriert gewesen war, ihr Vater hatte einfach alles gehortet. Vielleicht war die Liebe ihrer Mutter für Sauberkeit und Ordnung durch ihren Vater ausgelöst worden.

Emily füllte einen großen Müllsack mit verbogenen Löffeln, beschädigtem Geschirr und zahlreichen nutzlosen Küchengeräten, wie Eieruhren. Dann fand sie eine Unmenge an Backpapier, Alufolie, Küchenpapier und allen möglichen elektrischen Geräten. Emily zählte fünf Mixer, sechs Handrührgeräte und vier verschiede Küchenwagen. Sie nahm all diese Gegenstände in ihre Arme und trug sie hinaus zu dem Gehweg, wo sie sich mit dem anderen Krempel fallen ließ. So langsam bildete sich daraus ein Berg. Der Mann mit dem Schnurrbart war schon wieder draußen auf seiner Terrasse, wo er auf einem Stuhl saß und sie beobachtete. Genauer gesagt beobachtete er, wie der Berg an Krempel auf dem Gehweg langsam immer größer wurde. Emily bekam das Gefühl, dass er von ihrem Verhalten weniger begeistert war, weshalb sie ihm als freundliche Geste zuwinkte, bevor sie wieder ins Haus zurückging, um mit ihrer Säuberung fortzufahren.

Zur Mittagszeit hörte Emily draußen das Brummen eines Motors. Sie eilte hinaus, begeistert, den Mann zu begrüßen, der ihr einen Telefonanschluss und das Internet einrichten würde.

„Hi“, strahlte sie ihn von der Tür aus an.

Der Tag hatte sich sogar mehr erhellt, als sie angenommen hatte und man konnte in der Entfernung sehen, wie das Sonnenlicht auf dem Meer reflektierte.

„Hallo“, erwiderte der Mann, der die Tür seines Transporters zuwarf. „Normalerweise sind meine Kunden nicht so froh, mich zu sehen.“

Emily zuckte mit den Schultern. Während sie den Mann hineinließ, spürte sie, wie ihr die Augen des Mannes mit Schnurrbart folgten. Lass ihn starren, dachte sie sich. Sie würde sich ihre Stimmung durch nichts verderben lassen. Sie war stolz auf sich, ein weiteres Problem gelöst zu haben. Sobald das Internet installiert war, würde sie einige Dinge, die sie brauchte, bestellen können. Sie würde sogar alles online kaufen, nur um nicht noch einmal auf Karen zu treffen. Wenn die Menschen in der Stadt sie nicht mochten, dann würde sie auch nicht in ihre Geschäfte gehen.

„Möchten Sie Tee?“, fragte sie den Internet-Mann. „Kaffee?“

„Das wäre nett“, erwiderte er, als er sich bückte und seinen Werkzeugkasten öffnete. „Kaffee bitte.“

Emily ging in die Küche und kochte eine frische Kanne Kaffee, während ein bohrendes Geräusch aus dem Flur hallte. „Ich hoffe, Sie trinken ihn schwarz“, rief sie. „Ich habe keine Sahne.“

„Schwarz ist in Ordnung!“, rief der Mann zurück.

Emily merkte sich vor, Sahne auf ihre Einkaufsliste zu schreiben, dann goss sie zwei Tassen dampfenden Kaffee ein, eine für den Monteur und einen für sie selbst.

„Sind Sie gerade erst hier eingezogen?“, fragte er, als sie ihm eine Tasse reichte.

„So in der Art“, erwiderte sie. „Es war das Haus meines Vaters.“

Er fragte nicht weiter, anscheinend schloss er, dass sie es geerbt hatte. „Die Elektrizität ist ziemlich veraltet“, bemerkte er. „Ich schätze, Sie bekommen hier kein Kabel oder so.“

 

Emily lachte. Wenn er das Haus gerade einmal vor drei Tagen gesehen hätte, dann hätte er diese Frage gar nicht erst stellen müssen. „Definitiv nicht“, antwortete sie amüsiert. Ihr Vater hatte das Fernsehen gehasst und es im Haus verboten. Er wollte, dass die Kinder den Sommer genossen und nicht vor dem Fernseher saßen, während die Welt an ihnen vorbeiging.

„Soll ich Sie anschließen?“, wollte der Mann wissen.

Emily dachte über seine Frage nach. In New York hatte sie Kabelfernsehen bekommen. Es war eines der wenigen Annehmlichkeiten in ihrem Leben gewesen. Ben hatte sie immer für ihren Fernsehgeschmack verspottet, doch Amy liebte Reality Shows genauso sehr wie sie, weshalb sie sich einfach mit ihr darüber unterhalten hatte. Es war einer der vielen Streitpunkte ihrer Beziehung gewesen. Doch schließlich hatte er akzeptiert, dass er jedes Wochenende Sportsendungen schauen konnte, wenn sie die neue Staffeln America’s Next Top Model sehen durfte.

Seit sie nach Maine gekommen war, hatte Emily keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie ihre Lieblingsshows verpasste. Und jetzt erschien ihr die Vorstellung, diesen Müll wieder in ihre Leben zu lassen, seltsam, so als ob es das Haus beschmutzen würde.

„Nein, danke“, antwortete sie, ein wenig geschockt von der Tatsache, dass ihre Fernsehsucht einfach allein durch das Verlassen New Yorks geheilt worden war.

„Okay, dann ist hier alles erledigt. Das Telefon ist installiert, aber Sie müssen zuerst noch ein Gerät kaufen.“

„Okay, ich habe ja hundert Stück.“ Emily übertrieb nicht im Geringsten – sie hatte eine ganze Kiste auf dem Dachboden gefunden.

„Alles klar“, entgegnete der Mann etwas verwirrt. „Das Internet ist auch eingerichtet.“

Er zeigte ihr den WLAN-Router und las das Passwort auf der Rückseite laut vor, sodass sie ihr Handy mit dem Internet verbinden konnte. Sobald sich ihr Handy eingeloggt hatte, begann es zu ihrer Überraschung, zu vibrieren, denn ein stetiger Strom an E-Mails trudelte ein.

Emily warf einen Blick auf all die E-Mails, während der Zähler in der Ecke immer weiter nach oben schoss. Zwischen den Spam-Mails und den Newslettern ihrer Lieblings-Kleidergeschäfte gab es eine Handvoll E-Mails ihres alten Unternehmens mit dem Titel „Beendigung“ ihres Vertrages. Emily beschloss, sie später zu lesen.

Einem Teil von ihr kam es so vor, als würde sie durch das Internet und die E-Mails einen Teil ihrer Privatsphäre verlieren, und sehnte sich sofort nach den vergangenen Tagen, in denen sie nichts davon gehabt hatte. Sie war von ihrer eigenen Reaktion überrascht, wenn man bedachte, wie süchtig sie nach E-Mails und ihrem Handy gewesen war, ohne die sie kaum hatte funktionieren können. Jetzt waren ihr diese Dinge zu ihrem Schock sogar zuwider.

„Da ist wohl jemand beliebt“, bemerkte der Monteur glucksend, als ihr Handy durch eine eingehende E-Mail erneut vibrierte.

„Sowas in der Art“, murmelte Emily, während sie ihr Handy zurück auf seinen Platz bei der Haustür legte. „Dankeschön“, fügte sie hinzu und drehte sich um, als der Monteur die Tür öffnete. „Ich bin wirklich froh, wieder mit der Zivilisation verbunden zu sein. Es kann hier draußen etwas einsam werden.“

„Kein Problem“, erwiderte er und trat auf die oberste Stufe. „Oh, und danke für den Kaffee, er war wirklich großartig. Sie sollten darüber nachdenken, ein Café zu eröffnen!“

Als Emily ihn hinausbrachte, gingen ihr seine Worte durch den Kopf. Vielleicht sollte sie ein Café eröffnen. Auf der Hauptstraße hatte sie keines gesehen, wohingegen es in New York an jeder Straßenecke eines gab. Sie konnte sich Karens Gesicht geradezu vorstellen, wenn sie sich dazu entschloss, ihr eigenes Geschäft zu eröffnen.

Emily machte sich wieder daran, das Haus zu säubern. Im Laufe dessen wuchs der Berg am Straßenrand weiter an, sie schrubbte Oberflächen und wischte die Bodendielen. Sie verbrachte eine Stunde im Esszimmer, wo sie Bilderrahmen sowie alle Gegenstände in den Vitrinen abstaubte. Aber gerade, als sie dachte, dass sie endlich Fortschritte machte und einen Wandteppich abnahm, um ihn auszuklopfen, sah sie, dass sich dahinter eine Tür verbarg.

Emily hielt inne und betrachtete die Tür mit einem Stirnrunzeln. Sie konnte sich überhaupt nicht an diese Tür erinnern, doch sie wusste, dass sie als Kind eine Geheimtür hinter einem etwas war, das sie als Kind bestimmt vergöttert hätte. Sie drückte den Griff hinunter, doch musste feststellen, dass er klemmte. Deshalb lief sie in den Haushaltsraum und holte eine Dose Öl. Nachdem sie den Griff der Geheimtür damit bearbeitet hatte, lies er sich schließlich öffnen. Doch die Tür selbst bewegte sich keinen Zentimeter. Ein, zwei, dreimal stieß sie mit ihrer Schulter dagegen. Beim vierten Mal spürte sie, wie etwas nachgab und mit einem letzten kraftraubenden Stoß wurde die Tür aufgezwungen.

Dunkelheit umfing sie. Sie tastete nach einem Lichtschalter, doch konnte keinen finden. Sie konnte den Staub riechen, es gab hier so viel davon, dass er in ihre Lunge drang. Die Dunkelheit und die gruselige Atmosphäre erinnerten sie an den Keller, weshalb sie davonlief, um die Laterne zu holen, die Daniel ihr am ersten Tag gegeben hatte. Als sie mit dem Licht die Dunkelheit erhellte, schnappte sie bei dem Anblick vor ihr nach Luft.

Der Raum war riesig, Emily fragte sich, ob er wohl einmal ein Ballsaal gewesen war. Jetzt war er jedoch mit allen möglichen Dingen vollgestellt, er war in einen zweiten Dachboden umgewandelt worden, ein weiterer Ort, an dem man Gegenstände lagern konnte. Es gab ein altes metallenes Bettgestell, einen zerbrochenen Schrank, einen gesprungenen Spiegel, eine Standuhr, mehrere Kaffeetische, ein riesiges Bücherregal, eine große verzierte Lampe, Bänke, Sofas, Schreibtische. Dicke Spinnenweben lagen über all den Gegenständen wie Fäden, die alles miteinander verbanden. Überwältigt wanderte Emily langsam im Raum umher, das Laternenlicht in ihrer rechten Hand enthüllte die schimmelige Tapete.

Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob es eine Zeit gegeben hatte, in der dieser Raum verwendet worden war, oder ob die Tür schon hinter dem Wandteppich versteckt gewesen war, als ihr Vater das Haus gekauft und er den geheimen Raum nie entdeckt hatte. Sie hielt es für unwahrscheinlich, dass ihr ihr Vater von diesem Zimmer nichts gewusst hatte, doch sie konnte sie einfach nicht daran erinnern, was bedeutete, dass er seit vor ihrer Geburt nicht mehr geöffnet worden war. Wenn das der Fall sein sollte, dann wäre dieser Teil des Hauses länger als jeder andere vernachlässigt worden, wie lange, konnte man nicht sagen.

So langsam wurde Emily klar, dass es sogar noch größere Mühe kosten würde, dieses Haus auszumisten als sie zuvor angenommen hatte. Sie war von der Arbeit des Tages erschöpft, doch sie hatte es nicht einmal ins obere Stockwerk geschafft. Natürlich könnte sie einfach die Tür schließen und so tun als ob es den Ballsaal nicht gäbe, so, wie es ihr Vater anscheinend getan hatte, doch die Vorstellung, ihm seinen früheren Glanz wiederzugeben, reizte sie zu sehr. In ihrem Kopf konnte sie es sich so gut vorstellen. Die polierten, glänzenden Dielen, ein Kronleuchter, der von der Decke hing. Sie würde ein langes, seidenes Kleid und aufgebauschtes Haar tragen, und sie und der Mann ihrer Träume würden sich drehen und zusammen durch den Ballsaal tanzen.

Emily warf einen Blick auf die schweren, massiven Gegenstände in dem Raum – Sofas, metallene Bettgestelle, Matratzen – und erkannte, dass sie sie unmöglich selbst bewegen könnte, um den Ballsaal alleine wiederherzurichten. Um das Haus zu restaurieren, musste man zu zweit sein.

Obwohl sie fest entschlossen war, ihn nicht um Hilfe zu fragen, musste Emily zum ersten Mal zugeben, dass sie Daniel brauchte.

*

Emily stapfte aus dem Haus, jetzt schon genervt von dem Gespräch, das sie führen würde. Sie war eine stolze Person und die Vorstellung, gerade Daniel um Hilfe zu bitten, ärgerte sie.

Sie schlenderte über den Hinterhof zu dem Kutschenhaus. Zum ersten Mal war der Schnee genug geschmolzen, um freien Blick auf den Boden zu haben. Dabei erkannte sie, wie gut gepflegt die Anlage eigentlich war, wofür sie wohl Daniel danken konnte. Die Hecken waren alle sauber geschnitten und es gab mit Kieselsteinen umrandete Blumenbeete. Sie konnte sich vorstellen, wie schön es das im Sommer wohl alles aussehen würde.

Daniel schien ihr Kommen gespürt zu haben, denn als sie ihren Blick von der Hecke abwandte und ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Kutschenhaus richtete, sah sie, dass seine Tür offenstand und er mit seiner Schulter am Türrahmen gelehnt wartete. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck bereits deuten. Sein Blick sagte, „Bist du gekommen, um mich um Gnade anzuflehen?“

„Ich brauche deine Hilfe“, sagte sie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.

„Oh?“ War seine einzige Antwort.

„Ja“, erwiderte sie knapp. „Ich habe einen Raum in dem Haus entdeckt, der voller Möbel steht, die zu groß für mich sind, um sie alleine hochzuheben. Ich werde dich bezahlen, damit du mir hilfst, sie rauszutragen.“

Daniel hielt es offensichtlich nicht für nötig, sofort zu antworten. Im Allgemeinen schien er sich nicht an Etikette-Regeln zu halten.

„Ich habe mitbekommen, dass du ausräumst“, sagte er schließlich. „Wie lange hast du vor, den Berg dort sitzen zu lassen? Das wird die Nachbarn aufregen, weißt du?“

„Überlass den Berg mir“, antwortete Emily. „Ich will nur wissen, ob du beim Ausräumen hilfst.“

Daniel verschränkte seine Arme und ließ sich Zeit und sie warten. „Über wie viel Arbeit sprechen wir hier?“

„Um ehrlich zu sein“, erwiderte Emily, „ist es nicht nur der Ballsaal. Ich will das ganze Haus ausräumen.“

„Da hast du dir aber etwas vorgenommen“, entgegnete Daniel. „Es ist sinnlos, da du sowieso nur für zwei Wochen hier sein wirst.“

„Also eigentlich“, sagte Emily, wobei sie jedes Wort langzog, um das Unvermeidbare hinauszuzögern, „bleibe ich für sechs Monate.“

Emily fühlte die Spannung, die man in der Luft hätte schneiden können. Es war, als ob Daniel vergessen hätte, wie man atmet. Sie wusste, dass er sie nicht sonderlich mochte, aber es erschien ihr eine recht extreme Reaktion zu sein, als ob ihm jemand von seinem Tod erzählt hätte. Dass ihm ihre Anwesenheit in seinem Leben solch offensichtlichen Kummer bereitete, ärgerte Emily maßlos.

„Warum?“, brachte Daniel schließlich heraus, auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Linie gebildet.

„Warum?“, giftete Emily zurück. „Weil es mein Leben ist und ich jedes Recht habe, hier zu wohnen.“

Daniel zog die Augenbrauen zusammen, plötzlich verwirrt. „Nein, ich meine, warum tust du das? Warum machst du dir all die Mühe, das Haus zu restaurieren?“

Auf diese Frage hatte Emily keine wirkliche Antwort, zumindest keine, die Daniel genügen würde. Er sah sie als Touristin, als eine von denen, die von der Großstadt in kleinere Städte flitzten, alles durcheinanderbrachten, nur, um dann wieder zurück in ihr altes Leben zu verschwinden. Dass sie vielleicht sogar ein einfacheres Leben genießen könnte, dass sie vielleicht einen guten Grund hatte, aus der Großstadt wegzurennen, konnte er anscheinend nicht verstehen.

„Hör zu“, sagte Emily mit wachsendem Ärger. „Ich habe dir schon gesagt, dass ich dich für deine Hilfe bezahlen würde. Es geht nur darum, Möbel herumzutragen, vielleicht auch ein bisschen streichen. Ich frage nur, weil ich es alleine nicht schaffe. Machst du nun mit oder nicht?“

Er lächelte.

„Ich bin dabei“, antwortete Daniel. „Aber dein Geld nehme ich nicht an. Ich tue es für das Haus.“

„Weil du denkst, dass ich es kaputt machen würde?“, wollte Emily mit hochgezogener Augenbraue wissen.

Daniel schüttelte den Kopf. „Nein. Weil ich das Haus liebe.“

Dann haben wir zumindest eine Gemeinsamkeit, dachte Emily trocken.

„Aber wenn ich das tue, dann solltest du wissen, dass wir eine rein geschäftliche Beziehung haben werden“, fuhr er fort. „Rein geschäftlich. Ich will keine neuen Freundschaften schließen.“

 

Seine Antwort schockierte sie und machte sie zugleich wütend.

„Ich auch nicht“, zischte sie. „Und das habe ich auch nicht vorgeschlagen.“

Sein Lächeln wurde breiter.

„Gut“, sagte er.

Daniel streckte ihr seine Hand entgegen.

Emily runzelte die Stirn, unsicher, auf was sie sich gerade einließ. Dann schüttelte sie seine Hand.

„Rein geschäftlich“, stimmte sie zu.