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Wird gelesen Birgit Arnold
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KAPITEL FÜNFZEHN

Es war spät, die Party war schon lange vorbei, als Emily endlich das Geräusch von Daniels Motorrad hörte, als er die Einfahrt zum Haus entlangfuhr. Sie stand aus dem Bett auf und beobachtete durch das Fenster, wie er seinen Helm abnahm und zum Kutschenhaus ging.

Emily wickelte sich in einen Morgenmantel und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Dann ging sie runter und huschte zur Haustür hinaus. Das Gras war weich, als sie über den Rasen zum Kutschenhaus ging. Licht schien heraus und fiel auf den Rasen.

Sie klopfte an der Tür und trat einen Schritt zurück, wobei sie die Arme fest um ihre Mitte schlang, um die kalte Nachtluft nicht an sich heranzulassen.

Daniel öffnete die Tür. Etwas in seiner Haltung sagte ihr, dass er bereits gewusst hatte, dass sie es sein würde.

„Wo warst du?“ verlangte sie. „Du hast die Party verpasst.“

Daniel holte tief Luft. „Hör zu, warum kommst du nicht rein? Dann können wir uns über einem Tee unterhalten, anstatt hier draußen in der Kälte zu stehen.“ Er hielt die Tür für sie auf und Emily ging hinein.

Daniel kochte für sie beide einen Tee. Währenddessen blieb Emily stumm und wartete darauf, dass er ihr sein Verhalten erklärte. Doch er sagte kein Wort, sodass sie schließlich keine andere Wahl mehr hatte.

„Daniel“, sagte sie noch einmal, „warum hast du die Party verpasst? Wo warst du? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“

„Ich weiß. Es tut mir leid. Ich mag diese Leute einfach nicht, okay?“, antwortete er. „Sie sind diejenigen, die mich als Kind abgeschrieben haben.“

Emily runzelte die Stirn. „Aber das ist zwanzig Jahre her.“

„Es spielt für diese Menschen keine Rolle, ob es zwanzig Jahre oder zwanzig Minuten her ist.“

„Am Hafen hast du sie noch gelobt“, entgegnete Emily. „Warum hasst du sie auf einmal so sehr?“

„Ich mag einige von ihnen“, widersprach Daniel. „Aber die meisten sind engstirnige Kleinstädter. Glaub mir, es wäre nicht schön gewesen, wenn ich zu der Party gekommen wäre.“

Emily zog eine Augenbraue hoch. Sie wollte ihm sagen, dass er Unrecht hatte, dass diese Menschen sich als nette, lustige Truppe herausgestellt hatten. Dass sie anfing, sie als ihre Freunde zu sehen. Aber sie wollte sich auf keinen Fall mit Daniel streiten, jetzt, da ihre Beziehung gerade erst begonnen hatte.

„Warum hast du mir nicht einfach gesagt, dass du nicht zur Party kommen würdest?“, fragte sie schließlich und zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. „Ich fühlte mich wie ein Dummkopf, als ich auf dich wartete.“

„Das tut mir leid.“ Daniel seufzte mit Bedauern, dann stellte er eine Tasse Tee vor ihr ab. „Ich weiß, dass ich nicht einfach so hätte verschwinden dürfen. Aber ich bin es nun einmal gewohnt, alleine zu sein und mich vor niemandem rechtfertigen zu müssen. Es ist Teil meines Wesens. Auf einmal all diese Menschen um mich herum zu haben, ist schwer.“

Emily hatte Mitleid mit ihm, weil er sich wohler fühlte, wenn er mit ihr alleine war. Sie konnte sich vorstellen, dass es schwierig sein musste, wenn man so empfand. Doch das entschuldigte trotzdem nicht sein Verhalten.

„Ich will damit sagen, Cynthia allein wäre schön schlimm genug“, fügte Daniel mit einem verschmitzten Grinsen hinzu.

Emily musste unwillkürlich lachen. „Du hättest es mir einfach sagen sollen“, schloss sie.

„Ich weiß“, erwiderte Daniel. „Ich verspreche dir, dass ich nicht wieder abhauen werde. Kannst du mir verzeihen?“

Emily konnte ihm nicht böse bleiben. „Ich glaube schon“, entgegnete sie.

Daniel nahm ihre Hand in seine. „Warum erzählst du mir nicht, wie es war? Über was ihr geredet habt?“

Emily schaute ihn verdutzt an. „Du willst, dass ich dir von den Unterhaltungen der Menschen berichte, die du hasst?“

„Ich werde es nicht hassen, wenn es aus deinem Mund kommt“, sagte Daniel mit einem Lächeln.

Emily verdrehte die Augen. Sie wollte noch ein Weilchen länger wütend auf Daniel sein, um ihm eine Lehre zu erteilen, doch sie brachte es einfach nicht über sich. Zudem hatte sie bezüglich des Bed & Breakfast große Neuigkeiten und konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sei versuchte, ihre Begeisterung zu dämpfen, doch es gelang ihr nicht.

„Also hauptsächlich drehte sich die Konversation darum, das Haus in ein Bed & Breakfast umzuwandeln.“

Daniel spuckte fast wieder den Schluck Tee aus, den er gerade getrunken hatte. Er schaute sie über den Rand seiner Tasse hinweg an. „Ein was?“

Emily versteifte sich, plötzlich war sie nervös, Daniel von ihrem Traum zu erzählen. Was, wenn er sie nicht unterstützte? Immerhin hatte er ihr gerade erst gestanden, dass er am liebsten allein war, und nun wollte sie ihm weismachen, dass es bald normal sein könnte, dass fremde Leute über das Grundstück wanderten.

„Ein Bed & Breakfast“, sagte sie mit leiser und schüchterner Stimme.

„Du willst das machen?“, fragte Daniel, der seine Tasse abstellte. „Eine Pension führen?“

Emily umschloss ihre Tasse mit ihren Händen, als ob sie dadurch neue Stärke gewinnen könnte, und rutschte auf ihrem Stuhl umher. „Nun ja…vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich meine, ich müsste zuerst das Finanzielle durchgehen. Ich werde es mir wahrscheinlich gar nicht leisten können.“ Nun stammelte sie und versuchte, die Idee runterzuspielen, denn sie war sich unsicher, wie Daniel sie aufnehmen würde.

„Aber wenn du es dir leisten könntest, würdest du es dann machen wollen?“, fragte er.

Emily schaute auf und begegnete seinem Blick. „Als ich jünger war, wollte ich das einmal. Um ehrlich zu sein, war es einmal mein Traum gewesen. Ich dachte nur nicht, dass ich sonderlich gut darin wäre, weshalb ich den Gedanken aufgegeben habe.“

Daniel legte seine Hand auf ihre. „Emily, du wärest wunderbar.“

„Glaubst du das wirklich?“

„Ich weiß es.“

„Dann denkst du also nicht, dass es eine schreckliche Idee ist?“

Daniel schüttelte den Kopf und strahlte. „Es ist eine fantastische Idee!“

Ihre Stimmung hellte sich plötzlich auf. „Denkst du das wirklich?“

„Absolut“, fügte er hinzu. „Du würdest eine unglaubliche Gastgeberin sein. Und wenn du Geld dafür brauchst, dann helfe ich dir gerne. Ich habe zwar nicht viel, aber ich würde dir alles geben, was ich habe.“

Emily schüttelte, berührt von seinem Angebot, ihren Kopf. „Ich könnte dein Geld nicht annehmen, Daniel. Alles, was ich für den Anfang brauche, ist ein ordentliches Schlafzimmer und eine Kanne Kaffee. Sobald ich den ersten Gast habe, kann ich die Einnahmen in das Unternehmen stecken.“

„Trotzdem“, sagte Daniel. „Wenn du jemanden zum Renovieren oder für die Arbeiten auf dem Grundstück brauchst, dann helfe ich dir gerne.“

„Wirklich?“, fragte Emily, die es immer noch nicht glauben konnte, nochmal nach. „Das würdest du für mich tun?“ Ihre Gedanken kreisten um Daniels Großzügigkeit und darum, dass er ihr in ihrer Notlage half. „Du denkst wirklich, dass das eine gute Idee ist?“

„Ja“, versicherte ihr Daniel „Ich liebe die Idee. Welches Schlafzimmer willst du zuerst in Angriff nehmen?“

Im Laufe der vergangenen drei Monate, in denen sie das Haus renoviert hatten, waren sie kaum ins obere Stockwerk vorgedrungen. Lediglich das alte Zimmer ihrer Eltern (in dem sie jetzt schlief) und das Badezimmer waren fertig. Sie müsste sich nun auf einen der anderen Räume konzentrieren.

„Das weiß ich noch nicht“, sagte Emily. „Vielleicht eines der großen Zimmer an der Rückseite des Hauses?“

„Eines mit Meeresblick?“, schlug Daniel vor.

Emily zuckte leicht mit den Schultern. „Das muss ich mir erst noch einmal genau überlegen. Aber es würde nicht so lange dauern, es präsentabel zu machen, oder? Ich könnte für die Touristensaison bereit sein. Das heißt, wenn ich eine Genehmigung bekomme.“

Daniel schien ihr zuzustimmen. Während sie den heißen Tee tranken, besprachen sie alle Details, wie viel Zeit und Geld sie bräuchten, um das Schlafzimmer zu renovieren und eine Karte zusammenzustellen, bevor die Touristen im Sommer hierher strömten.

„Es wäre riskant“, sagte Daniel, als er sich zurücklehnte und das Papier vor ihm, auf dem Zahlen und Summen standen, betrachtete.

„Das wäre es“, stimmte Emily zu. „Aber meinen Job zu kündigen und meinen Partner zu verlassen, mit dem ich sieben Jahre zusammen gewesen war, war ebenfalls riskant und schau, wie gut sich alles ergeben hat.“ Sie streckte ihre Hand aus und drückte Daniels Arm. Dabei spürte sie sein Zögern. „Ist alles in Ordnung?“, frage sie mit einem Stirnrunzeln.

„Ja“, entgegnete Daniel, während er aufstand und ihre leeren Tassen einsammelte. „Ich bin nur müde. Ich denke, ich werde jetzt ins Bett gehen.“

Emily stand ebenfalls auf, denn sie erkannte, dass er sie bat zu gehen. Die Leidenschaft der vergangenen Nächte schien komplett erloschen zu sein. Von der romantischen Stimmung ihres Vormittags im Rosengarten war ebenfalls nichts mehr zu spüren. Und auch die Begeisterung und das Hochgefühl der Motorradfahrt über die Klippen war verschwunden.

 

Als sie ihren Morgenmantel eng um sich herumzog, trat Emily an Daniel heran und küsste ihn auf die Wange. „Bis später?“, fragte sie.

„Mhm“, erwiderte er, wobei er ihr nicht in die Augen sah.

Irritiert und verletzt verließ Emily das Kutschenhaus und trat den kalten, einsamen Weg zu ihrem eigenen Haus an, wo sie die Nacht alleine verbringen würde.

*

„Guten Morgen, Rico!“, rief Emily, als sie am nächsten Tag den dunklen, überfüllten Flohmarktladen betrat.

Doch statt Rico tauchte auf einmal Serenas Kopf hinter einem Tisch auf, den sie gerade kunstvoll neu verkleidete. „Emily! Wie läuft es mit Mr. Heiß-und-sexy? Wir hatten gestern auf der Party gar keine Chance, uns darüber zu unterhalten.“

Daniel war das letzte, über das Emily jetzt reden wollte. „Wenn du mich vor zwei Tagen gefragt hättest, dann wäre meine Antwort ‚unglaublich‘ gewesen. Doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.“

„Oh?“, machte Serena. „Er ist einer von denen, oder?“

„Einer von welchen?“

„Von denen, die sich schnell in eine Beziehung stürzen und die Sache dann aus Angst beenden. Das habe ich schon eine Million Mal gesehen.“

Emily war sich nicht sicher, wie eine Zwanzigjährige auch nur irgendetwas schon eine Millionen Mal gesehen haben konnte, doch sie behielt ihre Meinung für sich. Außerdem wollte sie nun wirklich nicht über Daniel reden.

„Also, ich suche nach ein paar bestimmten Stücken“, sagte Emily, während sie in ihrer Tasche nach der Liste suchte, die sie und Daniel in der vergangenen Nacht zusammen erarbeitet hatten, bevor er sie praktisch aus seinem Haus geschmissen hatte. Sie reichte sie Serena. „Ich habe noch nicht vor, etwas davon zu kaufen, aber ich wüsste gerne, wie viel die Dinge ungefähr kosten.“

„Natürlich“, entgegnete die jüngere Frau strahlend. „Ich werde mich ein wenig umschauen.“ Sie war gerade dabei, den Laden zu verlassen, als sie innehielt. „Hey, das ist ja alles für ein Schlafzimmer. Ist es…“

„Für ein Bed & Breakfast?“ Emily lächelte und wackelte mit den Augenbrauen. „Ja.“

„Das ist ja so cool!“, rief Serena. „Du wirst es also wirklich tun?“

„Naja“, sagte Emily, „zuerst brauche ich die Genehmigung, was bedeutet, dass ich zu einer Bürgerversammlung gehen muss.“

„Ach was, das ist einfach.“ Serena winkte mit der Hand ab. „Heißt das, dass du nicht nach New York zurückgehen wirst?“

„Zuerst brauche ich die Genehmigung“, wiederholte Emily mit strenger Stimme.

„Verstanden“, entgegnete Serena mit einem Fingerschnippen. „Zuerst die Genehmigung.“ Sie grinste und ging davon.

Emily lächelte in sich hinein, froh zu wissen, dass sich zumindest eine Person hier freuen würde, wenn sie in Sunset Harbor blieb, und zwar nicht nur, weil sie Geld in die Stadt bringen würde, sondern weil sie sie mochte.

Sie ging zu der Schublade, in der Türknäufe aufbewahrt wurden, und wühlte ein wenig herum. Ricos Sammlung konnte mit der ihres Vaters mithalten, doch die von Rico befand in eindeutig besserem Zustand. Sie überlegte, den babyblauen Griff für die Schlafzimmertür zu verwenden und wollte für die Kommode feine Glasgriffe haben.

Während sie sich durch die Schublade wühlte, hörte sie die Stimmen zweier Personen, die hinter ihr den Laden betraten.

„Stella sagt, dass sie ihn gestern wieder auf den Klippen gesehen hat, wie er stundenlang auf seinem Motorrad gefahren ist“, sagte die eine Stimme.

Emily hielt inne und versuchte, die beiden besser zu hören. Redeten sie über Daniel? Er liebte es, auf den Klippen Motorrad zu fahren, und gestern war er wirklich lange verschwunden gewesen.

„Und neulich war er auf dem Fest am Hafen“, fügte die zweite Stimme hinzu.

Emily spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Daniel war auf dem Fest gewesen. Naja, wahrscheinlich auch jeder andere Bewohner der Stadt, doch nicht jeder fuhr auf den Klippen Motorrad. Sie war sich sicher, dass sie über Daniel tratschten.

„Du denkst doch wohl nicht, dass er zurück in die Stadt gezogen ist, oder?“, fragte die zweite Stimme.

„Nun ja, Stella vertritt die Theorie, dass er nie fortgegangen ist“, meinte die erste.

„Oh mein Gott, wirklich? Allein schon bei dem Gedanken daran läuft es mir kalt über den Rücken. Du meinst, er war die ganze Zeit in dem Haus?“

„Ja, genau. Stella sagte mir, dass ihr jemand erzählt hätte, dass er auf dem Flohmarkt gewesen wäre, den das neue Mädchen dort veranstaltet hatte.“

Emily spürte, wie sich ihr Körper in Eis verwandelte, als die Stimmen weitertratschten.

„Wirklich? Ach du lieber Himmel. Jemand sollte sie warnen!“

Da sie sich nun sicher war, dass die Frauen von Daniel sprachen, trat Emily aus dem Schatten hervor.

„Mich vor was warnen?“, fragte sie mit kühler Stimme.

Die beiden Frauen verstummten und starrten sie wie Rehe an, die im Scheinwerferlicht gefangen waren.

„Ich fragte“, wiederholte Emily, „vor was man mich warnen sollte?“

„Nun ja“, begann die erste Frau, deren Stimme nun zitterte. „Es ist so, dass Stella gemeint hat, ihn gesehen zu haben.“

„Wen will sie gesehen haben?“

„Den Sohn von den Moreys, ich habe seinen Namen vergessen. Dustin. Declan.“

„Douglas“, warf die andere Frau selbstsicher ein.

„Nein, es war etwas Exotischeres, Ungewöhnlicheres“, widersprach die erste.

Emily verschränkte ihre Arme und zog eine Augenbraue hoch. „Er heißt Daniel und was ist mit ihm?“

„Also“, sagte die erste Frau. „Er hat einen Ruf.“

„Einen Ruf?“, fragte Emily nach.

„Mit Frauen“, fügte sie hinzu. „Er hat viele Frauen mit einem gebrochenen Herzen hinterlassen, dieser Declan.“

„Douglas“, erwiderte die zweite Frau.

„Daniel“, korrigierte Emily die beiden.

Die erste Frau schüttelte ihren Kopf. „Er heißt nicht Daniel, meine Liebe. Ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern, aber es ist definitiv nicht Daniel.“

„Ich sag dir doch, er heißt Douglas“, warf die zweite Frau ein.

Emily wurde so langsam genervt. Sie wollte das, was die Frauen über Daniel – über die Frauen in seiner Vergangenheit – sagten, nicht glauben, doch sie wurde den nagenden Zweifel nicht los, den sie ihr in den Kopf setzten. „Hört zu, das ist bestimmt schon lange her. Menschen verändern sich. Daniel ist so nicht mehr und ich werde mich nicht mit euch darüber streiten. Ihr solltet euch um eure Angelegenheiten kümmern, okay?“

Die erste Frau runzelte die Stirn. „Er heißt nicht Daniel! Also wirklich, Mädchen, ich lebe in dieser Stadt schon viel länger als du. Und der Junge heißt nicht Daniel.“

Die zweite Frau klatschte in die Hände. „Ich hab’s! Dashiel Moray.“

In dem Moment kann Serena zurück. Sie blieb stehen, als sie die zwei älteren Damen sah und bemerkte, wie aufgebracht Emily wirkte.

„Ich muss los“, sagte Emily. Dann drehte sie sich um und verließ den Laden.

„Warte, was ist mit deiner Liste?“, rief ihr Serena hinterher, als Emily verschwand.

Sobald sie draußen in der Frühlingssonne war, beugte sich Emily vor und atmete tief durch. Es fühlte sich so an, als ob sie fast keine Luft mehr bekäme. Ihre Gedanken schienen sich im Kreis zu drehen. Obwohl sie wusste, dass die alten Frauen sich nur wichtigmachen wollten, konnte sie es nicht verhindern, sich von ihren Worten verunsichern zu lassen, denn die beiden waren sich bei Daniels Namen und seiner Vergangenheit mit Frauen so sicher gewesen. Und obwohl Emily Körper, Geist und Seele mit Daniel geteilt hatte, so wurde ihr doch auf einmal klar, dass sie eigentlich gar nicht kannte, dass man einen anderen Menschen niemals vollkommen kennen konnte. Ihr Vater hatte ihr das bewiesen. Wenn ein liebender Familienvater seine Familie einfach so auf Nimmerwiedersehen verlassen konnte, dann konnte ein Mann, den sie gerade einmal seit ein paar Monaten kannte, bei seinem Namen lügen.

Und bei seinen Absichten.

KAPITEL SECHZEHN

Emily fuhr schnell nach Hause, die Tränen ließen ihren Blick verschwimmen. Sie wollte nicht überreagieren, doch sie hatte keine andere Wahl. Daniel hatte sie über den grundsätzlichsten Teil seines Wesens angelogen: seinen Namen. Welcher Mensch tat so etwas? Auch wenn er seinen Namen geändert hatte, weil er ihn hasste oder weil er ihm peinlich war, dann würde Emily erwarten, dass er es auch einmal erwähnt. Sie selbst führte nicht ihren vollständigen Namen Emily Jane, doch sie hatte trotzdem mit Daniel darüber gesprochen. Aber selbst bei dieser Unterhaltung über ihre Namen hatte Daniel ihr nichts davon gesagt. Das führte sie zu der Annahme, dass er mit Absicht seine Identität vor ihr verheimlichte.

Und wenn er sie über so etwas anlügen konnte, dann stimmte die Behauptung der Damen über die Reihe an gebrochenen Herzen womöglich auch.

Als sie vor dem Haus parkte, sah sie, dass Daniel im Hof arbeitete und sich um seine Büsche kümmerte. Er schaute stirnrunzelnd auf, verwirrt, dass sie so schnell heranfuhr und mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam. Es war ihr egal, dass sie krumm in der Auffahrt stand, sie sprang einfach bei laufendem Motor aus dem Wagen, ohne die Tür zu schließen. Dann stürmte sie über den Rasen direkt auf Daniel zu.

„Wer bist du?“, schrie sie und boxte ihm gegen die Brust, als sie nahe genug an ihn herankam.

Daniel stolperte zurück und sah sie schockiert und verwirrt an. „Was zur Hölle ist das denn für eine verdammte Frage?“

„Sag es mir!“, rief Emily. „Dein Name ist nicht Daniel, habe ich Recht? Er ist Dashiel, Dashiel Morey.“

Daniels Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wie –“

„Wie ich das herausgefunden habe?“, schrie Emily in vorwurfsvollem Ton. „Ich musste es von zwei Frauen auf dem Flohmarkt erfahren. Weil du nicht den Mut hattest, es mir selbst zu sagen. Weißt du eigentlich, wie erniedrigend das für mich war?“ Sie konnte spüren, wie bei der Erinnerung daran Wut in ihr aufstieg.

„Emily, hör zu, ich kann das erklären“, sagte Daniel, der seine Hände auf ihre Schultern legte.

Doch Emily schob seine Hände weg. „Fass mich nicht an. Du hast mich die ganze Zeit angelogen. Es stimmt, oder? Sag einfach die Wahrheit, ist dein Name Dashiel?“

„Ja. Aber ich habe meinen Namen geändert. Er ist –“

„Ich glaube das jetzt nicht. Und die Frauen? Das ist auch alles wahr, oder?“ Sie warf ihre Hände verzweifelt in die Luft.

„Frauen?“, fragte Daniel mit einem Stirnrunzeln.

„All diese Herzen, die du gebrochen hast! Du hast einen Ruf, Daniel. Oder sollte ich Dashiel sagen?“ Sie drehte sich von ihm weg, in ihren Augen standen Tränen. „Ich weiß gar nicht mehr, wer du eigentlich bist.“

Daniel atmete gefühlvoll aus. „Doch, das tust du, Emily. Ich bin noch genau der gleiche Mensch, der ich schon immer war.“

„Aber WER ist das?“, schrie Emily ihm ihre Wut ins Gesicht. „Ein gewaltsamer Krimineller, der Menschen ins Krankenhaus schlägt? Ein sensibler Fotograf, der von Zuhause davonläuft? Ein Frauenheld, der zahlreiche Frauen benutzt und sie dann wegwirft, wenn er mit ihnen fertig ist? Oder bist du der stammelnde Grundstückspfleger, der meine Großzügigkeit ausnutzt?“

Daniels Mund klappte auf und Emily wusste, dass sie zu weit gegangen war. Aber sie konnte es nicht leiden, hintergangen zu werden, vor allem nicht von Daniel, nicht nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten. Sie hatte so viel mit ihm geteilt – ihre Träume, ihren Schmerz, ihre Vergangenheit, ihr Bett. Sie hatte ihm vertraut, vielleicht war das naiv gewesen.

„Das war unter der Gürtellinie“, schoss Daniel zurück.

„Ich will dich nicht mehr auf meinem Grundstück haben“, schrie Emily. „Raus aus meinem Kutschenhaus. Hau ab! Und nimm dein dummes Motorrad mit!“

 

Daniel starrte sie nur an, sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen angewidert und enttäuscht. Emily hätte nie gedacht, dass er sie einmal so anschauen würde. Diesen Ausdruck in seinen Augen zu sehen und zu wissen, dass er sich gegen sie und ihre brutalen Worte richtete, fühlte sich wie ein Dolch in ihrem Herzen an.

Kein einziges Wort drang über Daniels Lippen. Er ging ruhig zur Garage und schob sein Motorrad hinaus. Dann schaltete er es ein, warf ihr einen letzten, eisigen Blick zu und fuhr davon.

Emily sah zu, wie er davonging, ihre Hände waren zu festen Fäusten geballt und ihr Herz schlug wild. Sie fragte sich, ob sie ihn gerade zum letzten Mal gesehen hatte.

*

Emily stampfte müde ins Haus. Der Streit mit Daniel hatte sie fertiggemacht, sie erschöpft. Sie wollte dringend mit Amy reden, doch in letzter Zeit hatte sie das Gefühl, dass ihre Freundin genug von ihr hatte. Ihre SMS wurden immer kürzer, kamen seltener und manchmal vergingen Tage, ohne von ihr zu hören. Wenn sie sie nun anrief und sich über den Mann ausweinte, von dem sie ihr noch nicht einmal erzählt hatte, dann wäre das wahrscheinlich der letzte Nagel auf dem Sarg ihrer Freundschaft.

Als sie durch den Korridor lief, fühlte es sich so an, als ob alles von Daniel beschmutzt worden wäre. Der Fleck Farbe auf den Dielen neben der Treppe, wo er beim Streichen niesen musste. Der leicht krumme Bilderrahmen, den sie in stundenlanger Arbeit versucht hatten, gerade aufzuhängen, nur, um zu der Feststellung zu kommen, dass die Wand schief sein musste und nicht der Rahmen. Egal, wohin sie schaute, überall sah sie eine Erinnerung an Daniel. Doch jetzt im Moment wollte Emily Abstand von ihm, nicht nur körperlich, sondern auch mental. Da fiel ihr ein, dass es einen Raum im Haus gab, den noch nicht einmal sie betreten hatte, in ihm gab es keine Spur von Daniel. Ein Raum war noch original erhalten, nicht nur während der vergangenen zwanzig, sondern seit achtundzwanzig Jahren. Und das war das Schlafzimmer, das sie und Charlotte sich geteilt hatten.

Emily stieg voller Pein die Treppe hinauf. Seit sie angekommen war, hatte sie diesen Raum gemieden. Es war eine Angewohnheit, die sie von ihren Eltern übernommen hatte, die das Zimmer nach Charlottes Tod nie wieder betreten hatten. Sofort hatten sie Emily ein anderes Zimmer gegeben, die Tür zu dem Raum, der sie an ihr verstorbenes Kind erinnerte verschlossen und ihn einfach nie wieder geöffnet. Als ob es so einfach wäre, den durch ihren Tod ausgelösten Schmerz auszulöschen.

Emily lief den Korridor entlang, bis sie vor der Tür stand. Sie konnte die kleinen Kratzer und Dellen in dem Holzrahmen sehen, die entstanden waren, als sie und ihre Schwester beim Fangen spielen ohne Vorsicht gegen die Tür rannten. Sie legte ihren Kopf dagegen und fragte sich, ob jetzt ein schlechter Zeitpunkt war, das zu tun, da sie sich sowieso in einem zerbrechlichen Zustand befand, oder ob sie las eine Art Selbstbestrafung, um sich selber Schmerzen zuzufügen, hineingehen sollte. Doch sie wollte ihrer Schwester nahe sein. Charlottes Tod hatte ihr einen Menschen geraubt, dem sie sich anvertrauen konnte. Sie hatte nie mit jemandem über Schwierigkeiten mit Jungs oder Beziehungsproblemen sprechen können. Jetzt kam es ihr so vor, als ob sie an diesem Ort ihrer Schwester am nächsten wäre. Deshalb legte sie ihre Hand auf den Türknauf, den sie drehte, und trat über die Schwelle in einen Raum, in dem die Zeit still zu stehen schien.

Den Raum zu betreten fühlte sich so an, wie eine Zeitkapsel zu öffnen oder in ein Familienfoto zu treten. Emily überkam sofort ein starkes Gefühl der Nostalgie. Sogar der Geruch, der unter einer Schicht von Staub immer noch zu erkennen war, brachte Erinnerungen und Gefühle zurück, die sie längst vergessen hatte. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle und sie legte ihre Hand über den Mund, als sie einen kleinen Schritt in den Raum, der all diese wertvollen Erinnerungen an ihre Schwester enthielt, wagte.

Die Mädchen hatten das größte Zimmer des Hauses bewohnt. An einem Ende gab es eine schmale zweite Etage und an dem anderen konnte man durch bodenlange Fenster auf das Meer hinausschauen. Emily erinnerte sich daran, wie sie ihre Puppen an einer Leiter auf den schmalen Vorsprung hochklettern ließ und dabei vorgab, dass es ein Berg und sie mutige Entdecker wären. Emily lächelte wehmütig in sich hinein, als sie Gegenstände aufhob, die seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr angefasst wurden. Eine Spardose in Form eines Bären. Ein neonpinkes Plastikpony. Sie musste bei all den grellen Spielsachen lachen, mit denen sie und Charlotte das Zimmer gefüllt hatten. Es muss ihre Mutter in den Wahnsinn getrieben haben, dass ihre Töchter den schönsten, modernsten Raum des Hauses bewohnten und ihn mit regenbogenfarbenen Oktopussen schmückten. Sogar das hölzerne Puppenhaus in der Ecke war mit Stickern und Glitzer bedeckt.

Auf einer Seite des Raumes gab es einen begehbaren Kleiderschrank. Emily fragte sich, ob ihre Prinzessinnenkleider immer noch darin hingen. Sie hatten alle Disney-Outfits. Ihr Lieblingskleid war das der kleinen Meerjungfrau gewesen, während Charlotte Cinderella bevorzugt hatte. Emily ging hinüber und öffnete den Tür zum Kleiderschrank. Als sie hineinschaute, entdeckte sie, dass Charlottes Outfits immer noch dort hingen, seit ihrem Tod waren sie nicht mehr berührt worden.

Als Emily die Kleider durchschaute, wanderten ihre Gedanken plötzlich wieder in die Vergangenheit, doch diesmal war alles viel lebendiger als die Erinnerungsstücke, die sie beim Betreten des Raumes gesehen hatte. Dieser Flashback fühlte sich echt und gefährlich an. Sie hielt sich an der Wand fest, um nicht umzufallen, denn sie beobachtete mit unglaublicher Klarheit, wie ihr Griff an Charlottes Hand nachließ und das kleine Mädchen verschwand, ihr hellroter Regenmantel wurde von dem grauen Regen verschluckt.

„Nein!“, schrie Emily, die wusste, wie die Geschichte ausging und das Unvermeidliche trotzdem stoppen wollte. Es war der Moment, in dem ihre Schwester ins Wasser stürzte und ertrank.

Doch plötzlich war der Flashback vorbei und Emily befand sich wieder in dem Schlafzimmer, ihre Hände waren vor lauter Schweiß ganz schwitzig, ihr Herz raste. Als sie nach unten sah, bemerkte sie, dass sie den Ärmel des gleichen Regenmantels umklammerte, sein Punktemuster würde sie überall erkennen. Sie musste sich bei ihrer schrecklichen Erinnerung daran festgehalten haben.

Warte einmal, dachte Emily plötzlich, während sie den kleinen roten Regenmantel betrachtete.

Sie kramte in dem Schrank herum und fand Charlottes Stiefel mit dem Marienkäfer-Muster.

Emily hatte immer geglaubt, dass Charlotte ins Wasser gefallen und ertrunken wäre, weil sie in dem Sturm ihre Hand losgelassen hatte. Doch ihre Kleider waren hier. Wenn ihre Mutter sie, nachdem Charlottes toter Körper zurückgebracht worden war, nicht gewaschen und mit ihren anderen Sachen in den Schrank geräumt hatte, dann musste Charlotte an jenem Tag nach Hause gekommen sein, lebend und sicher. Konnte es sein, dass Emilys Gehirn zwei Ereignisse miteinander vermischt hatte? Das Charlotte nach dem Sturm gestorben war? War ihr Tod durch etwas Anderes verursacht worden?

Blitzschnell rannte Emily aus dem Zimmer zu dem Tisch neben der Haustür, auf dem sie ihr Handy immer aufbewahrte. Die nahm es in die Hand, suchte ihre Kontaktliste durch und wählte ihre Mutter aus. Das Klingeln ertönte an ihrem Ohr.

„Komm schon, heb ab“, murmelte sie leise in der Hoffnung, dass ihre Mutter rangehen würde.

Endlich hörte sie das gleichmäßige Geräusch, dass immer erklang, wenn eine Verbindung hergestellt wurde, und dann vernahm sie zum ersten Mal seit fünf Monaten die Stimme ihrer Mutter.

„Ich habe mich schon gefragt, wann du anrufen und dich bei mir entschuldigen würdest, dass du einfach so aus New York abgehauen bist.“

„Mama“, stammelte Emily. „Deswegen rufe ich nicht an. Ich muss mit dir über etwas reden.“

„Lass mich raten“, sagte ihre Mutter seufzend. „Du brauchst Geld, nicht wahr?“

„Nein“, sagte Emily mit fester Stimme. „Ich muss mit dir über Charlotte reden.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte eine lange, schwere Stille.

„Nein, das musst du nicht“, sagte ihr Mutter schließlich.

„Doch, das muss ich“, bestand Emily.

„Es ist lange her“, gab ihre Mutter zurück. „Ich will die Vergangenheit nicht in die Gegenwart ziehen.“