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Violet - Verletzt / Versprochen / Erinnert - Buch 1-3

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Kapitel 16

Professor Arrow kann sein Glück noch immer nicht fassen. Er hat sie gefunden. Er hat sie wieder. Nach so vielen Jahren ist sie zu ihm zurückgekehrt. Eines von zwei Wesen, das er erschaffen hat. Das überlebt hat.

Das letzte und auch einzige Mal, dass es ihm gelungen ist, ein Symbiont, ein Mischwesen zu erschaffen. Halb Mensch, halb Bestie. Er blättert durch die Dokumentationen und das digitale Fotoalbum.

Versuchsreihe Symbiont Freija (altnordisch »Herrin«)

Freia ist der Name der nordgermanischen Göttin der Liebe und der Ehe. Sie ist die Göttin der Fruchtbarkeit und des Frühlings, des Glücks und der Liebe, und gilt als Lehrerin des Zaubers.

In Grímnismál erscheint sie als Todesgöttin.

Das ist es, das den Obersten vor allen anderen Eigenschaften interessiert, weiß Arrow. Das ist die Fähigkeit, die er vor allen anderen versucht hat, bei Freija zu isolieren. Mit grausamer Präzision, erbarmungslos zu töten.

Ohne Erfolg, dachte er bis noch vor vier Tagen, als ihre Schwester zurückgekehrt ist.

Die Schwester?

Versuchsreihe Symbiont Asha

Das Prinzip Asha als Repräsentation der Wahrheit, der Gerechtigkeit, sowie kosmischer Ordnung. Die Fromme, die auf den Pfaden der Wahrhaftigkeit und der Weisheit wandelt, erlangt Reichtum, Nachkommenschaft und Macht.

Macht? Das ist das Energiemuster.

Darum geht es dem Obersten.

Freija, die Göttin des Todes und Asha, die Göttin der Macht, die Anführerin.

Tatsächlich glaubt Arrow nicht an Magie oder daran, dass in der Antike die Götter auf der Erde wandelten. Arrow ist Wissenschaftler. Biologe.

Aber der Oberste sieht das anders. Wissenschaft und Magie. Bestien, Symbionten. Das gab es alles schon einmal.

Irgendwie findet es Arrow amüsant, die Eigenschaften von Freija und Asha mit denen alter Götter zu vergleichen. Auch wenn es die Idee des Obersten war. Genauso, wie die beiden in die Sektionen zu entsenden, um ihre Eigenschaften zu testen. So viele Jahre hat er sie nicht mehr gesehen.

Und jetzt ist sie zurückgekehrt. Eine von ihnen.

Die Fromme, die auf den Pfaden der Wahrhaftigkeit und der Weisheit wandelt. Isolierte Energiemuster, Wahrheit, Gerechtigkeit und Macht. Erstaunlich, was sie geleistet hat. Wie sie eine Revolution der Bestien gegen die Menschen angezettelt hat. Wie sie den Bestien den Mut gab, zu fliegen. Sie ist wahrhaftig eine Anführerin. Der Oberste wird mit den Ergebnissen sehr zufrieden sein. Jetzt muss sie nur noch das 2. Gebot befolgen. Gehorsamkeit.

Arrow liest weiter. Erinnert sich an seine eigenen Aufzeichnungen.

Die Letalitätsrate liegt bei 80%. Aus zehn Kreuzungen sind nur zwei überlebensfähige Symbionten hervorgegangen: Asha und Freija.

Arrow wischt über den Screen und es erscheint ein Album mit vielen kleinen Bildern. Er vergrößert das erste durch eine Bewegung seines Zeigefingers und Daumens.

Ein Gruppenfoto. Acht Jungs und zwei Mädchen. Keins der Kinder auf dem Foto ist älter als zehn Jahre.

»Das ist ihre Schwester«, sagt Arrow und tippt mit dem Zeigefinger auf das blonde Mädchen, rechts am Rand. Sie ist älter als das Mädchen daneben. Als Asha.

Asha hat ihre blonden Haare zu einem Zopf zusammengefasst. Arrow erinnert sich, das es Freija war, die ihr die Haare vor Jahren geflochten hat.

Die Töchter sehen aus, wie einst ihre Mutter.

Seine Augen beginnen wieder zu brennen. Er betrachtet die anderen. Kann sich deutlich an sie erinnern. Er spürt eine Vertrautheit, wenn er ihre Gesichter ansieht.

Arrow streicht von einem Bild zum nächsten. Er betrachtet Asha, die Jungs und Freija in unterschiedlichen Situationen. Einer der Jungs macht einen Handstand auf einer Hand. Einer der anderen hat die gleichen blonden Haare, ist vielleicht höchstens ein Jahr älter, rauft mit seinen Brüdern.

Brüder.

Die Bilder huschen jetzt an ihm vorbei. Asha und Freija sind oft zu sehen, aber sie kämpfen nicht, machen keinen Sport wie die Jungs. Sie machen andere Dinge.

Lachen, spielen, tanzen, singen? Die Bilder laufen vor ihm ab wie ein Film. Er schaut zu, wie aus Kindern Teenager werden. Und dann plötzlich ist da eine Lücke auf einem der Gruppenfotos.

Einer der Jungs fehlt, dann der nächste. Die Augen der anderen, übrig gebliebenen, sehen von Foto zu Foto müder und trauriger aus. Jetzt geht es sehr schnell.

Die Jungs fallen aus den Bildern, wie verwehte Blätter im Sturm.

Immer öfter sind nur noch Asha und Freija zu sehen. Jetzt bei Tests, Blutabnahmen. Versuchen, in welchen Arrow ihnen Apparate auf den ganzen Körper gesetzt hat. Dann kommt das vorletzte Bild. Asha und Freija sind allein, sitzen nebeneinander und halten sich an den Händen. Arrow hatte ihnen die Haare abrasiert. Er sieht die Angst in Ashas Augen. Dann das letzte Bild, kurz vor der Löschung und Neuprogrammierung. Beide Mädchen und Arrow.

Er sieht alt aus auf dem Foto. Er erkennt sich kaum wieder. Aber seine Augen sind faszinierend und das, obwohl es nur ein Foto ist.

Arrow wischt sich die Tränen aus den Augen, studiert seine damaligen Aufzeichnungen.

Isolierung von Eigenschaften:

Bestien und Menschen werden gekreuzt, um Eigenschaften des Energiekörpers zu isolieren. Fleisch und Blut wurde über Gene der Spenderperson übertragen. Um eindeutige Testergebnisse zu bekommen, wurden bei allen Mischwesen zwei Genome verwendet.

Gleiche Genome. Gleiches Erbgut. Bei den Jungs und den Mädchen. Bei allen zehn Klonen wurden die Energiekörper der Embryos mit denen von verschiedenen Bestien gekreuzt. Moderne Gentechnik, nur ohne Gene. Ich setze die Evolutionstheorie mit diesen Tests außer Kraft. Die Spenderperson hat den Eingriff nicht überlebt.

Arrow wischt sich ein paar Seiten weiter vor.

Etwas ist schief gelaufen. Die komplette Versuchsreihe wird abgebrochen. Die Jungs sind alle tot. Etwas muss mit ihren Energiemustern passiert sein, denn sie waren alle kerngesund. Alle Aufzeichnungen über ihre Werte liegen im grünen Bereich. Keine Anzeichen von Anomalien. Trotzdem sind sie gestorben, als hätte ihnen jemand den Stecker gezogen. Ich denke, es liegt an dem Spendergenom.

Als hätten sie keine Energie mehr gehabt, flüstert Arrow. Er erinnert sich an den Tag, als die junge Frau, die Spenderin, schwer verletzt in der Forschungsstation eintraf. Daran, dass sie verzweifelt versucht hat, den jungen Halo zu töten und dabei selbst ums Leben gekommen ist.

Warum? Warum hat sie ihr Leben riskiert, um ein anderes zu nehmen?

Vielleicht hätte sie die Eingriffe, die Operation sogar überlebt.

Arrow schüttelt die Gedanken ab und studiert weiter seine alten Aufzeichnungen.

Nur die zwei Mädchen, Freija und Asha, haben überlebt. Auf Befehl des Obersten werden sie gelöscht und für die Sektionsteams neu programmiert.

Obwohl die Mädchen ohne die Jungs uninteressant sind, werden sie nicht eliminiert. Bei den Jungs wurden die Eigenschaften Kampf, Geschicklichkeit und Zähigkeit isoliert. Der Oberste will sehen, ob die Fähigkeiten der Mädchen sich entwickeln. Feldanalyse und Langzeittests.

Arrow überlegt.

Der menschliche Organismus besteht aus 50 Billionen Einzellern. In jedem steckt die Energie von 1,5 Volt. Das ist eine Summe von 75 Billionen Volt. Verflucht viel Energie, wenn man weiß, wie man sie aktivieren kann. Die Jungs liefen leer wie ein Akku, der nicht mehr aufgeladen wird. Aber warum nur die Jungs und nicht die Mädchen? Ich werde es herausfinden. Herausfinden müssen. Schwört er sich.

Jetzt. Endlich, kann ich die Experimente weiterführen.

Voller Faszination blickt er auf die Ereignisse der letzte Tage zurück. Das Wesentliche ist, dass Asha in der Lage ist, mit Bestien zu kommunizieren. Dass sie es geschafft hat, dass ihr die Bestien vertrauen. Natürlich war es nicht vorhersehbar, dass sie eine kleine Revolution anzettelt, die das ganze absurde System von einem zum anderen Augenblick ins Wanken bringt.

Was wäre wohl geschehen, wenn die Bestien es tatsächlich geschafft hätten, die Grenzen, die Barrieren der Drohnen zu pulverisieren? Was wäre, wenn die Menschen erkennen würden, dass es keinen Virus, keine tödliche Gefahr hinter der Grenze gibt? Was wäre dann?

Aber die Frage stellt sich nun nicht mehr, weil das Machtregime es geschafft hat, die Bestien aufzuhalten und weiterhin alles zu vertuschen. Halo hat es geschafft.

Und Asha lebt. Halo hat sie nicht exekutiert, weil Arrow ihn überzeugen konnte, dass sie lebendig viel mehr wert sei. Dass Arrow kurz davor steht, hinter das Geheimnis zu kommen, warum Asha und Freija überleben konnten.

Das Geheimnis zu lüften, wie er überlebensfähige Symbionten mit erstaunlichen Fähigkeiten erschaffen könnte.

Die Sektionen der Vereinigten Staaten würden über schier unbegrenzte Macht verfügen. Der Oberste Gesandte wäre nicht länger Herrscher über Nordamerika. Nein, er könnte über die ganze Welt herrschen. Und Arrow ist sich hundertprozentig sicher, dass sich der Oberste daran erinnern wird, wer ihm zu dieser Macht verholfen hat. Wem es gelungen war, eine Armee von Symbionten zu erschaffen. Eine Armee, die unerbittlich, unaufhaltsam in die restliche Welt einmarschieren würde.

Asha hat bewiesen, zu was sie fähig ist. Ein kleines Mädchen hätte fast Sektion 0 lahm gelegt. Zu was wäre eine Armee im Stande? Arrow benötigt noch etwas Zeit. Er ist sich so sicher, dass er kurz davor steht es herauszufinden. Jetzt wo Asha zurückgekehrt ist, wird er bald in der Lage sein, männliche Symbionten zu erschaffen von unvorstellbarer Zerstörungskraft.

 

Kapitel 17

In der Gruppenzelle riecht es nach ungewaschener Haut und es wird von Tag zu Tag schlimmer. Heute ist Tag vier. Vier Tage ist es her, seit sich Jesse von Asha trennen musste.

Um zu überleben.

Um nicht erkannt zu werden.

Um in einer Gruppe gleichaltriger Sehender unterzutauchen. Sehende, die auf dem Weg waren zu ihrer Zelle, in der es nichts gibt, außer Schlafplätze und Waschplätze. Trotzdem riecht es nach Schweiß, weil sich niemand wäscht. Weil niemand außer Jesse weiß, warum das notwendig sein sollte.

Er ist der einzige, der offensichtlich keiner Gehirnlöschung unterzogen wurde, welche die Sehenden in lebende Zombies verwandelt. Löschung vor der Neuprogrammierung, nennen es die Vollstrecker, soviel hat Jesse mitbekommen, als er die Vollstrecker, ihre Wachen, direkt vor der Zelle belauscht hatte.

Aber er muss vorsichtig sein, muss sich selbst wie ein Zombie verhalten, Hohlheit simulieren, um nicht aufzufallen.

Wo ist Asha?

Ist sie noch am Leben?

Und wird er selbst überleben, wenn sie bei der Neuprogrammierung herausfinden, dass er kein Zombie, kein gelöschter Sehender ist. Was dann?

Er hat Asha nicht retten können. Konnte es nicht verhindern, dass sie von den Vollstreckern gefasst wurde. Er hat gehofft, es wäre eine Möglichkeit sie zu finden, wenn er sich unter die Sehenden mischt. Aber dann ist er mit ihnen in dieser Zelle gelandet. Gestrandet.

Hoffnungslos.

Die Aufregung, die Revolution vor vier Tagen, ist kaum bis zu ihm vorgedrungen. Die Vollstrecker vor den Türen haben laut gesprochen. Hatten keine Bedenken, dass ihnen jemand zuhört, der bei Sinnen ist. Sie haben von einem Aufstand der Bestien gesprochen.

Von einem Ausbruch, zahlreichen Verlusten und von einem Mädchen mit violetten Haaren, das verantwortlich sein soll für das ganze Chaos. Das war das letzte Mal, dass er etwas von Asha gehört hat. Wie soll er nur das Versprechen einlösen? Das Versprechen, das er Freija gegeben hat.

Kapitel 18

Der tonnenschwere Superkampfhelikopter hebt im Zentrum des Capitols um 21:19 Uhr ab. Die Landeplattform steht auf sieben unbeugsamen Stahlträgern auf dem Dach des Skytowers, der mit einer Höhe von 583 Metern alle umstehenden Gebäude wie Spielzeug erscheinen lässt. Die obersten drei Etagen des Towers, werden auch die Festung genannt.

Niemand kann hier eindringen. Nicht ohne Befugnis vom Obersten Gesandten. Von hier aus lenkt er die Geschicke der 51 Sektionen Nordamerikas. Wie ein Krake streckt er seine Tentakel aus und zerquetscht von hier aus alles, was seine Machtposition in Frage stellt, lässt alle Hinweise verschwinden, die die Wahrheit ans Licht bringen könnten. Befiehlt seinen Vollstreckern, die sieben aufgestellten Gebote zu befolgen. Erteilt den Befehl zur Vollstreckung der Löschung oder der Todesstrafe, wenn jemand nicht gehorsam ist.

So wie bei Asha.

Das junge Mädchen ist ein Sandkorn in seinem Machtgetriebe. Er hätte schon längst den Tötungsbefehl erteilt, gäbe es da nicht etwas, das er sich von ihren erstaunlichen Fähigkeiten verspricht. Nämlich, noch mehr Macht zu erlangen.

Macht über die Grenzen Nordamerikas hinaus.

»Der Flug wird 2 Stunden 49 dauern. Wollen Sie sich die letzten Berichte von Professor Arrow ansehen?«, fragt Trishtana.

»Perfekte Idee. Schicken Sie mir die Datei direkt auf meinen Screen.« Dann zieht sich der Oberste Gesandte in seinen abgeschotteten Privatbereich des Kampfhelikopters zurück. Trishtana, die einzige Überlebende der Explosion des Skygate in Sektion 13, hatte er zu seiner persönlichen Assistentin umprogrammieren lassen. Sie bringt alle perfekten Eigenschaften mit. Ausgezeichnetes Kommunikationsverhalten, einen rasiermesserscharfen Verstand, und eine unbeugsame Loyalität. Nur ihre Erinnerungen an Sektion 13 mussten gelöscht und ersetzt werden. Ein Witz im Vergleich dazu, was er mit dem Mädchen mit den violetten Haaren vorhat.

Kapitel 19

»Sieht aus wie ein Schneckenhaus von innen«, sagt Gouch. Flavius nickt. Stimmt ihm schweigend zu.

Das erste Mal seit Wochen, seit der Explosion, hat er das Gefühl, dass sie einen Schritt vorankommen.

Einen Schritt in Richtung Freija, Asha, Jesse und seiner geliebten Trishtana.

Wenn Freija tatsächlich hier war, dann würden sie Spuren finden, Menschen finden, die ihnen helfen können.

Shaco, Gouch und er hatten in den letzten Wochen versucht herauszufinden, wo sich ihr verstreutes Team befindet. Jesses Nachrichten sagten nur so viel aus, dass er und Asha am Leben waren. Aber die letzte Mitteilung, die er vor fünf Tagen versendet hat, war beunruhigend.

Von Trish fehlt jegliches Lebenszeichen.

Und Freijas Spuren haben sie bis hierher verfolgt.

Die Navigationssysteme der Helikopter speichern die Koordinaten aller Flugziele. Es war lediglich notwendig, den Helikopter ausfindig zu machen, welcher Freija vor vier Wochen aus dem Skygate weggeflogen hat, das Navigationssystem zu hacken und die Koordinaten auszulesen.

Hört sich einfacher an, als es tatsächlich war.

Umso schwieriger war es, hierher zu gelangen, nachdem sie endlich die Koordinaten kannten. Die Grenzen der Sektionen sind zu gut beschützt. Aber nicht von Bestien, wie sich herausstellte. Sondern von Drohnen und Vollstreckern.

Aber vor vier Tagen, nach der letzten Nachricht von Jesse war etwas passiert.

Die Drohnen verschwanden, wurden abgezogen. Das war die Chance für Flavius, Gouch und Shaco unbemerkt Sektion 13 zu verlassen. Vier Tage sind sie gefahren, bis sie Sektionsgrenze 0 erreichten. Ein weiterer halber Tag auf erstaunlich gut befestigten Straßen, bis zum Capitol und bis zu Kristens Haus, wo sie das gepanzerte Fahrzeug hinter der Mauer abgestellt haben.

Kapitel 20

Kristen legt letzte Hand an ihren blauen Haaren an. Sie will gut aussehen, wenn sie Adam gegenübertritt.

Es sind fast zwei Wochen vergangen, dass sie zuletzt ein Lebenszeichen von ihm gehört haben. Am See vor seinem Haus. Nachdem ihn Freija fast getötet hat. Getötet, weil Kristen ihr falsche Erinnerungen einprogrammiert hat. Weil sie dachte, Adam sei besser tot, als eine andere zu lieben.

Kristen kann nicht verstehen, warum er sich für Freija entschieden hat. Ein Mädchen ohne Erinnerungen, ohne Charisma.

Aber dann war Adams Signal plötzlich weg. Sein Sendersignal war spurlos verschwunden.

Kristen wusste, dass er nicht tot war, dass dieser Symbiont dahinter steckte. Jetzt endlich wird sie für ihre Geduld belohnt. Adam lebt.

Er hat sich vor zwanzig Minuten mit seinem Passwort in das System eingeloggt.

Eine Minute später wusste Kristen, von wo aus er das getan hat. Ein für sie nicht völlig unbekannter Ort.

Forschungsstation FE Sektion 0.

Laut Navigationsberechnungen knapp drei Flugstunden entfernt. Kristen will nur eins. Sie will dort hin. Sie will Adam zurück. Will ihn ganz für sich alleine haben. Und diese Freija soll verrecken. Sie blickt in den Spiegel. Ihre Augen sind die einer Wahnsinnigen.

Kapitel 21

Neo sieht mich an, sagt keinen Ton. Ich will mit ihm sprechen, will wissen, wo Asha ist und Jesse. Wann er sie zuletzt gesehen hat.

Aber plötzlich überschlagen sich die Ereignisse.

Hope ist zurück.

Ich kann sie aus dem Lüftungsschacht hören.

»Shit, sie haben uns entdeckt!«, kreischt sie, dann gehen hinter ihr im Tunnel Scheinwerfer an. Sie erscheint am Eingang, in Licht getaucht. Sieht aus wie ein Engel ohne Flügel. Ein Todesengel, mit ihren schwarzen Haaren. Ich bin starr, unfähig jetzt gerade zu reagieren, dann folgt Gebrüll und jemand schießt. Auf wen?

Hope springt zu uns herein. Endlich kann ich wieder einen Teil meines Körpers bewegen. Es sind meine Lippen.

»Was ist passiert?«

»Sie kommen.«

»Wer?«, das war Adam.

»Vollstrecker.«

Ich sehe, wie Neo zurück in den Schacht kriecht. Dann fliegen Kugeln zu uns in den Technikraum. Fliegen uns um die Ohren. Hope sieht verändert aus. Sie hat Panik.

»Wir sitzen in der Falle«, keucht Adam.

»Versteckt euch hier!«, sagt Hope und wir gehen sofort hinter einem Stahltank in Deckung. Dann sind sie da. Die Verfolger, Vollstrecker springen herein.

»Kommt raus! Wir wissen, dass ihr da seid«, ruft einer der Vollstrecker. Ein anderer schießt blind drauf los.

Es ist ohrenbetäubend laut. Meine Trommelfelle drohen zu zerspringen. Verdammt, ich fürchte mich.

Plötzlich ist Hope verschwunden. Dann entdecke ich sie wieder, direkt neben mir, kann sie aber kaum noch erkennen.

Ich will sie an ihrem Arm festhalten, erahne was sie vorhat, aber ich komme zu spät. Wie eine schwarze Katze verschwindet sie in den Schatten. Ihre Tattoos leuchten nicht. Noch nicht, denke ich.

Adam und mein Blick treffen sich, und ich kann in seinen Augen lesen. Er greift meine Hand und als wäre es das Normalste auf der Welt, verflechten sich unsere Finger ineinander.

»Das ist nicht das Ende«, flüstere ich und Adam nickt. Dann lässt er mich los und entsichert seine Waffe. Wir sind bereit.

Plötzlich schreit ein Vollstrecker. Wieder Schüsse und im nächsten Augenblick ist es totenstill.

»Raus hier!«, ruft Hope und wir verlieren keine Zeit.

»Halt! Was ist mit Neo?«

»Neo?«, fragt Hope verwirrt.

»Geht schon vor, ich hole ihn«, sagt Adam.

Am Eingang zum Technikraum liegen vier Vollstrecker. Ich sehe kein Blut, kann nicht sagen, ob sie nur bewusstlos oder vielleicht doch tot sind. Ich will Hope später fragen. Adam macht sich hinter uns an dem Gitter zu schaffen, während Hope und ich schon in den Tunnel schlüpfen.

Wir treffen unterwegs auf keine Vollstrecker, Feinde und dann irgendwann hocken wir am Ausgang, vor einer Welt voller Lügen.

»Ich gehe zuerst raus und schaue, ob die Luft rein ist. Vielleicht war das nur eine Patrouille, die uns zufällig aufgespürt hat.«

Ich ahne, dass das nicht die Wahrheit ist.

»Warte hier, bis Adam da ist!«, sagt Hope und dann ist sie schon auf dem Dach und in der Nacht verschwunden.

Mein Herz rast wie verrückt.

»Ist alles okay?«, frage ich Adam, der kurz darauf mit Neo ankommt.

»Geht schon«, sagt er, aber ich merke, dass etwas nicht stimmt.

Ich spüre so viel, als stünden meine Sinne unter Drogen.

Dann sehe ich das Blut auf seinem Handrücken.

»Du bist verletzt!«

»Das ist nur ein Kratzer.«

»Zeig her.« Ich schnappe mir seinen Arm und rolle das Hemd hoch und entdecke ein klaffendes Loch im Oberarm.

»Das sieht böse aus. Ich muss sofort die Blutung stoppen«, höre ich mich sagen, obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich das anstellen soll. Ich reiße ein großes Stück Stoff aus meinem Shirt und drücke es auf die Stelle, dort, wo so viel Blut herausströmt. »Hier, presse das auf die Wunde.«

Neo schaut einfach nur zu und sagt keinen Ton.

Dann überfordern mich für einen Moment die vielen Reize, die in meinen Schädel einschlagen wie Raketen. Ich reiße meinen Kopf herum. Ich sehe sie, bevor ich sie höre. Ein greller Blitz durchschneidet die Dunkelheit, verbrennt Erde. Noch einer. Es sind Drohnen und sie jagen Hope! Auf dem Dach des riesigen Gebäudes.

»Hope!«

Ich will zu ihr, aber Adam hält mich zurück. Ich könnte seinen Arm ausreißen, wenn ich wollte.

Wieder ein Blitz, noch einer. Ich sehe Hope dort draußen, wie sie nur knapp verfehlt wird, wie sie um ihr Leben rennt. Zwei Drohnen verfolgen sie, aber sie wird es schaffen. Sie ist flink, schnell, listig.

Plötzlich taucht noch eine Drohne auf. Sie fliegt direkt über Adam und mich hinweg. Schneidet Hope den Fluchtweg, den Weg zurück zu uns, ab. Wieder zucken Blitze durch die Dunkelheit. Die Nacht steht in Flammen. Das war knapp. Viel zu knapp.

 

»Adam, ich muss da jetzt raus. Sie wird das nicht alleine schaffen. Drei Drohnen sind zu viel, selbst für Hope. Drück das weiter auf die Wunde!«

»Freija, ich…«

»Lass mich bitte gehen. Ich – muss – Hope - helfen.« Adam lässt meinen Arm los und sofort bin ich frei und rase überirdisch schnell auf Hope zu. Ich bin wie ein Leuchtfeuer in der Nacht, so hell strahlt meine Haut. Sofort explodiert die Luft neben mir, aber ich habe den Blitz kommen sehen und weiche nach rechts aus, ohne mein Tempo zu verlangsamen. Es ist etwas anderes, gegen Drohnen zu kämpfen als gegen Bestien. Ich renne auf Hope zu und sie auf mich und gleich krachen wir aufeinander wie zwei Güterzüge, aber wir verstehen uns blind.

Eine der Drohnen hinter Hope sinkt, geht in einen Tiefflug. Ich kann nicht beschreiben, wie wir uns in diesem Bruchteil einer Sekunde verständigen. Es passiert einfach. Ohne Worte. Wir kommunizieren auf einer anderen Ebene miteinander. Kommunizieren nicht wie Menschen es tun.

Ich bin bei Hope und in einer einzigen fließenden Bewegung springe ich und Hope erfasst mich und schleudert mich wie ein Katapult nach oben.

Der Blitz der Drohne verfehlt uns beide. Zischt zwischen uns durch und lässt die Stelle, wo er in das Dach einschlägt, explodieren. Im nächsten Moment bekomme ich das glatte Metall der Drohne zu fassen, halte mich an einem Manövrierflügel fest und stoße mich instinktiv wieder ab. Die zwei anderen Drohen haben ihr Ziel automatisch erfasst. Mich. Aber sie sind zu langsam, um zu begreifen, dass sie nicht mich treffen werden.

Die Drohne, an der ich mich gerade noch festgehalten habe, geht in Flammen auf, zersplittert, getroffen von ihren eigenen Verbündeten. Getroffen von zwei Blitzen. Die Wucht der Explosion wirbelt mich durch die Luft. Das Dach kommt näher. Irgendwie versuche ich mich, auf den Aufprall vorzubereiten, drehe mich wie eine Katze in der Luft, aber es hilft nicht besonders viel. Ich krache auf den Beton, schlittere und wetze meine Haut auf, aber ich liege außerhalb ihrer Scheinwerfer. Bin für einen Moment sicher.

Ich kann mich noch nicht bewegen, als die Drohne in das Gebäude kracht und zerschellt. Metallsplitter und Feuer fliegen mir um die Ohren.

Ich suche Hope und sehe sie, ihre Tattoos strahlen und funkeln. Sehe die Schwarzhaarige, wie sie springt, sich in Sicherheit bringen will, vor dem Feuer, der umherfliegenden Wrackteile, dann schlägt ein Blitz neben ihr ein und ein zweiter schießt in ihre Richtung, und es ist wie ein unwirklicher Alptraum als ich sehe, wie er sie treffen wird. Hope reißt die Arme hoch. Zum Schutz. Schützt sich mit ihrer Barriere. Dennoch rast der Blitz mitten in ihre Brust.

Sie wird wie eine Puppe von der Stelle weggerissen und bleibt zehn Meter weiter reglos auf dem kalten Beton liegen. Ihre Tattoos erlischen, dann sehe ich nur noch die brennende Drohne. Alles vergeht wie in Zeitlupe. Hope wurde getroffen.

»Nein!«, will ich schreien. Ich kann mich nicht hören.

Ich

stehe

auf.

Mein rechtes Bein steht unnatürlich zur Seite ab. Ist das mein Bein, das ich da hinter mir herschleife. Ich humple auf einem weiter. Bewege mich. Irgendwie. Zu Hope.

Die Scheinwerfer erfassen mich jetzt, aber das ist mir egal. Hope? Ich kann mein rechtes Bein nicht mehr spüren, es hindert mich am Vorwärtskommen. Kann ich es mir nicht einfach abschneiden, damit ich schneller bin. Meine Gedanken sind glasklar, aber ich wünsche mir, ich wäre nicht bei Sinnen. Ich bin wie auf Autopilot. Meine Sinne sind messerscharf. Mein Gehirn läuft auf Hochtouren. Meine Ängste foltern mich. Quälen mich zu Tode. Hope?

Ich habe jetzt die Aufmerksamkeit beider Drohnen. Ich habe nichts mehr entgegenzusetzen, schmecke Blut auf meiner Zunge, fühle, wie der Schmerz in meine Glieder kriecht. Ich höre weitere Explosionen aus der zerstörten Drohne und dann noch etwas Anderes. Neues. Stimmen.

Ich sehe Vollstrecker aus der anderen Richtung aufs Dach kommen. Einer feuert auf mich. Ein anderer reißt ihm die Waffe aus der Hand. Was soll das? Spielt das noch eine Rolle?

Ich bin hellwach und doch taub, nicht mehr in der Lage Furcht zu empfinden. Aber ich weine. Weine um Hope. Dann höre ich die Männer. Irgendwie unbeteiligt, verständnislos reiße ich meinen Kopf hoch und kann sehen wie die Drohnen inne halten. Dann davonfliegen. Abkommandiert.

Ich mache weiter. Immer weiter. Schleife mich weiter, bin gleich da. Bei ihr.

Die Vollstrecker rennen über das Dach. Ihre Schweinwerfer erfassen jetzt auch Adam. Sie schießen nicht. Feuern nicht auf ihn.

Endlich. Ich habe es geschafft, bin bei Hope. Sie liegt auf dem Rücken, die Augen geöffnet. Ich sehe keine Angst in ihnen und sie sind wunderschön, einzigartig, wie Sterne.

Der Wind zieht an Hopes und meinen Haaren. Verweht die restliche Hoffnung in mir, dass sie noch am Leben sein könnte.

Die Stimmen kommen näher. Ich halte Hope im Arm, schließe ihre Augen, doch sie öffnet sie wieder. Sie lebt?!

»Hope? Geh nicht. Die Welt braucht dich. Ich brauche dich!«

Sie kann nicht sprechen, aber ich sehe sie lächeln und ihre Lippen bewegen sich. Ich beuge mich vor und möchte ihre Stimme hören. Ich hoffe nicht ein letztes Mal.

»Bitte Hope. Bitte. Bitte«, weine ich.

»Frei-ja«, sagt sie leise und schwach und trotzdem, wie schön sie klingt und dann spüre ich ihre Finger auf meiner Haut, in meinem Gesicht. Ihre Haut, die Tattoos flammen auf, für eine Sekunde, dann spüre ich, wie ihr Körper in meinen Armen erschlafft.

»Neiiiin. Hope, nein. Bleib bei mir!« Ich vergrabe mein Gesicht in ihrer Brust.

Es ist nicht mehr als ein Flüstern, das über meine Lippen kommt. Kein Gesang, nur gesprochene Worte. Aber ich bin mir sicher, sie kann mich hören.

Ich singe ein Lied, das einzige Lied das ich singen kann. Ihr Lied und ich ende mit dem letzten Refrain:

Ich gebe dir meine Seele, ich gebe dir alles von mir

Aus der Tiefe meines Herzens, ich werde immer bei dir sein

Aus der Tiefe meines Herzens, ich lass dich niemals gehn

Ich drücke sie an mich. Fest. Fest.

Ganz fest. Und dann.

Dann kann ich es spüren.

Ihr Herz. Es schlägt.

Ich will zerspringen vor Glück.

Ihre Augen. Sie öffnen sich wieder.

Ich bin im Himmel.

»Ver-flucht…e Schei-ße ich wus-ste… da gib…t es mehr… als schnell ren-nen und die Lu-ft an-halten«, krächzt sie leise.

»Oh Gott. Oh Gott, Hope!«, keuche ich.

Dann.

Ein Arm berührt meine Schulter.

Ein Gewehrlauf meinen Hinterkopf.