Violet - Die 7. Prophezeiung - Buch 1-7

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Kapitel 11

Jemand ist hier in den Gängen, hat mich gesehen und hat mich angesprochen.

»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich wollte das nicht. Ich meine, dass Sie sich zu Tode fürchten.« Habe ich mich aber - fast.

Wer ist er? Wie kommt er hier rein? Was will er? Was macht er hier, mitten in der Nacht?

Und warum ist das Licht nicht an?

»Geht es Ihnen wirklich gut?«

»Mir? Ja! Ist alles gut. Ich lebe noch.« Ich höre ihn schmunzeln, sehen kann ich es nicht. Jemand sollte das Licht anmachen. Ich kann ihn im Dämmerlicht der Notbeleuchtung kaum erkennen. Er ist groß, sehr groß. Mindestens zwei Köpfe größer als ich. Und ich bin nicht klein.

»Was machen Sie hier?«, frage ich.

»Das Gleiche frage ich Sie.« Seine Stimme ist klar, schneidend, gebieterisch.

»Wer sind Sie?«

»Und wer sind Sie?«

»So kommen wir nicht weiter«, sage ich nach einer Pause, in der keiner etwas sagt. Er nicht und ich auch nicht.

»Da fürchte ich, haben Sie recht.«

»Also gut, ich wollte gerade ins Bett.« Er mustert mich, das weiß ich, obwohl sein Gesicht im Dunkeln verborgen liegt.

»Andere stehen um diese Zeit auf!«, sagt er.

»Ich benötige nicht besonders viel Schlaf!«

»Wie ist Ihr Name. Mädchen?«

»Freija«, sage ich und meine Stimme hört sich nicht so an wie die eines Mädchens.

»Freija?« Er saugt die Luft ein. Ich kann das hören. »Sie sind ausgebildet im Nahkampf. Und…«, er macht eine Pause. »Mir wurde gesagt, ich soll mich vor Ihnen in Acht nehmen.«

»Vor mir? In Acht nehmen?« Wer ist er? Ein Gesandter? Was sonst.

»Ja genau. In Acht nehmen. Nicht blenden lassen. Man hat mir gesagt, Sie sind gut, eine der Besten.«

»Ich bin nicht die Beste!«

»So, meinen Sie? Haben sie denn schon andere gesehen?«

»Nein, natürlich nicht. Das ist nicht möglich. Wir waren nie in einer anderen Sektion.«

»Ich schon!« Okay, er ist ein Gesandter!

»Sind Sie ein Gesandter?«, frage ich. Ich kenne die Antwort, trotzdem frage ich ihn.

»Wenn das so wäre, dann würde ich das Zeichen der Gesandten tragen. Und wenn die Geschichten über Sie, Freija, wahr sind, dann sind sie verdammt hübsch.«

Wieder entsteht eine Pause. Eine Schweigeminute. Gedenkminute? Ich komme mir seltsam vor, weil er mich zum Grinsen bringt.

»Ich schlage vor, wir machen das Licht an und finden es heraus«, sage ich und höre ihn leise schnauben. Er flirtet mit mir im Dunkeln. Und ich gehe darauf ein. Bin ich verrückt?

»Nein, wir lassen es aus. Nicht, dass ich enttäuscht werde«, sagt er. Ich bin sicher, dass ein verschmitztes Lächeln über seine Mundwinkel zieht.

»Sie haben recht. Nicht, dass ich bei Ihrem Anblick doch noch vor Schreck zu Tode komme.«

Er lacht. Er lacht so laut, dass ich schon fast befürchte, uns könnte jemand hören. Uns könnte jemand beim Flirten ertappen. Aber die anderen schlafen eine Etage höher. Unwahrscheinlich, dass es sein Lachen bis zu ihnen hinauf schafft. Aber was ist mit den anderen Gesandten? Sind die auch schon hier? So früh? Ich mache mir zu viele Gedanken, um in sein ausgelassenes, sympathisches Lachen mit einzustimmen.

Außerdem tut meine Verletzung an meinem Bauch weh. Und das noch schlimmer als vorhin. Vielleicht habe ich mir heute Nacht doch zu viel zugemutet.

Asha hat mir verboten zu lachen, nicht dass die Wunde wieder aufreißt. Sie hat mir nicht verboten, die halbe Nacht durchzumachen. Das hätte sie wohl besser tun sollen. Ich fasse mir an den Bauch und spüre warme klebrige Feuchtigkeit. Ich blute.

»Sie machen mich neugierig«, sagt er. Das bin ich auch, sage es ihm aber nicht. »Die Prüfungen beginnen heute. Ich habe die Einteilung gesehen und finde es schade, dass Sie erst am letzten Tag dran sind.«

»Sie haben sich über mich ja gut informiert.« Wieder klagt mein Bauch. Autsch! Ich sollte jetzt dringend ins Bett gehen. Oder zu Asha in die Krankenstation.

»Ich bin nur wegen Ihnen hier!«

»Was?« Er kommt mir jetzt ganz nah, zu nah für einen Flirt mit einem Unbekannten, zu nah für einen Gesandten. Er riecht vertraut und gut! Was um Himmels Willen geht hier vor sich? Ich stoße ihn weg! Und er weicht zurück, nicht weil ich stärker bin, nur weil er es zulässt. Autsch, mein Bauch!

»Oh Gott tut das weh!«

»Was ist?«, er hört sich besorgt an und der Flirt ist zu Ende. Schlagartig.

Kapitel 12

Meine Wunde brennt wie flüssiges Metall auf meiner Haut, meiner Bauchdecke, und wirft mich mit dem Rücken an die Wand. Ich stütze mich unbeholfen ab und presse einen Laut über meine Lippen, der sich nach Shit und Autsch anhört.

»Alles okay mit Ihnen? Was haben Sie, Freija?«

»Ja, ja, alles in Ordnung.« Wieder dieser unerwünschte Laut, der mich schwach klingen lässt. Aber ich bin doch schwach, fühle mich schwach, kann mich plötzlich kaum noch auf den Beinen halten. Warum will ich es nicht zugeben? Da fällt es mir ein.

Das 7. Gebot. Du sollst keine Schwäche zeigen.

»Nein, ist es nicht« sagt er. Das Licht im Korridor geht an. Er hat es angemacht. Warum eigentlich erst jetzt? Fanden wir beide den Flirt im Dunkeln etwa angebracht? Fast so, als hätten wir beide etwas zu verbergen. Oder einfach nur, weil es Spaß gemacht hat?

»Gott, du bist verletzt!« Er sieht gut aus. Zu gut für einen Gesandten. Ist zu jung für einen Gesandten. Viel zu jung. Höchstens zwei Jahre älter als ich. Er ist tatsächlich riesig und er spricht von Gott. Noch nie habe ich das Wort Gott aus dem Mund eines Gesandten gehört. Und? Er hat »du« zu mir gesagt. Es klang als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen.

»Du musst sofort zum Arzt!« Er ist jetzt wieder ganz nah bei mir. Ich kann ihn riechen. Er duftet, als hätte es gerade aufgehört zu regnen. Er duftet gut! Zwischen den Fingern auf meiner Hand spüre ich noch mehr warme Feuchtigkeit. Ich brauche nicht hinzuschauen. Ich weiß auch so, was es ist.

»Himmel, du blutest wie ein Schwein.« Ich schließe meine Augen. Ich stoße ihn nicht weg. Dieses Mal nicht.

»Entschuldige, das wollte ich so nicht sagen.«

Ich werde nie wieder Schwein essen. Was geht mir nur für wirres Zeug durch den Kopf? Ich spüre seine kräftigen Arme, die mich tragen, als wäre ich ein Kind, ein Mädchen. Er trägt mich irgendwohin.

In der Ferne höre ich seine Schritte, seinen Atem und dann eine andere Stimme.

Asha.

Das Licht ist jetzt noch heller. Es blendet mich durch meine geschlossenen Lider. Künstliches Licht. LEDs. Ich weiß, dass ich mich auf der Krankenstation befinde. Nirgendwo sonst ist es so hell. Vielleicht direkt in der Sonne?

»Was ist passiert? Was haben Sie mit ihr gemacht?« Das ist Asha. Niemand stellt ihre Autorität hier, in ihrem Reich, in Frage. Auch nicht dieser Gesandte.

»Ich? Überhaupt nichts! Ich habe Sie gefunden und hergebracht.« War das ein Zittern in seiner Stimme?

»Gehen Sie da rüber! An den Kühlschrank und holen Sie drei Beutel heraus. Nehmen Sie die, auf denen AB pos drauf steht. Stopp! Warten Sie! Ich habe es mir anders überlegt. Nehmen Sie zuerst die, auf denen Für Freija drauf steht. Alle! Schnell, Mann. Sie braucht Blut!« Ich spüre ein Kitzeln in der Armbeuge. Seltsam, dass ich Ashas Kanüle spüre, meinen Bauch aber nicht mehr. Ich öffne die Augen und lächle meine kleine Schwester - Krankenschwester - an.

»Danke«, flüstere ich und das Wort ist nicht mehr als ein Lufthauch.

»Bedank dich nicht zu früh. Das sieht schlimm aus! Wo bleibt das Blut?«

»Das hier?«

»Ja, geben Sie es schon her! Sie haben wohl noch nie Blut gesehen?«

»Nicht so viel auf einmal«, gesteht er. Ich höre, Asha meine Bluse bis oben hin aufschlitzen, sehe ihr dabei zu, als wäre das hier nicht echt, nur ein Traum.

»Hier, nehmen Sie das und tupfen Sie alles auf!« Er rührt sich nicht. »Mann, ich brauch Ihre Hilfe. Es ist außer uns keiner hier. Machen Sie schon! Wischen Sie das Blut weg! Ich muss sehen, was da los ist. Oder haben Sie auch noch nie eine nackte Frau gesehen?« Meine Wangen würden rot anlaufen, hätte ich nur noch ein bisschen mehr Blut in meinen Adern.

»Die Tattoos? Sie ist es!«, sagt er und ich höre in seiner Stimme eine Zufriedenheit, so als ob er einen Schatz gefunden hätte.

»Sie ist gleich tot, wenn Sie nicht mit anpacken, Sie Dummkopf! Hier halten Sie das!« Asha arbeitet wie eine Wilde, gibt Befehle wie ein Admiral und er macht mit und ich bleibe bei Bewusstsein, was ein gutes Zeichen ist. Hoffe ich.

Kapitel 13

Ich gönne mir etwas Ruhe und schließe die Augen, für eine Weile. Eine Weile. Eine kleine Weile.

»Endlich, wir haben die Blutung so gut wie gestoppt. Gut gemacht!«, das war Asha. Sie spricht zu dem Fremden, dem Gesandten. Ist er tatsächlich ein Gesandter? Wie viel Zeit war vergangen? Ein paar Minuten, mehr nicht, denke ich.

»Du hast so ein verdammtes Glück, dass ich schon auf der Station war. Ich weiß nicht, ob du es sonst geschafft hättest. Was hast du nur gemacht?«

»Gar nichts«, flüstere ich.

»Gut gemacht, Mädchen«, sagt der Fremde.

»Wer sind Sie überhaupt?«, das war wieder Asha. Sie erkennt nicht, dass er ein Gesandter ist. Warum nicht? Plötzlich hat sich ihre Stimme verändert. Plötzlich ist sie nicht mehr der Admiral, plötzlich ist sie das kleine Mädchen, das sich fürchtet, das seine Eltern vermisst, das um mein Leben gebangt hat.

 

»Wer sind Sie?«, fragt Asha wieder, weil er keine Antwort gibt.

Er schaut mich an, deckt mich zu. Ich lag immer noch fast nackt auf dem Bett.

»Ich nehme dich mit. Du brauchst keine Prüfungen zu bestehen. Das, was du brauchst, ist eine medizinische Versorgung, die du hier nicht bekommst. Du blutest noch immer und es gibt nur noch einen Beutel, auf dem Für Freija steht. Wir fliegen heute Morgen noch ab.«

»Abfliegen? Wohin? Wo wollen Sie Freija hinbringen? Ich bin eine gute Ärztin, ich kann mich um sie kümmern. Ich….« Asha verstummt.

»Da bin ich mir ganz sicher. Aber egal, was du machst, es wird ihr nicht das Leben retten. Du hast nicht genügend Blut im Vorrat, um sie beim nächsten Aufbruch der Verletzung am Leben zu halten. Sie wird verbluten, bis auf den letzten Tropfen, und du wirst ihr dabei zusehen müssen, wie sie stirbt. Ich nehme sie mit. Wir haben Möglichkeiten, ihr zu helfen, die deine Vorstellungen überfordern, Mädchen.« Er nennt Asha ein Mädchen? Er hat recht.

»Die Wunde wird nicht mehr aufbrechen, dafür sorge ich.«

»Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst! Ich nehme sie mit. Und wenn dir ihr Leben lieb ist, dann lass sie gehen, damit wir ihr helfen können.«

»Von wem sprechen Sie? Wo wollen Sie sie hinbringen? Wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich nehme sie mit zur Sektion 0.«

Sektion 0? Ich höre den beiden zu, ohne mich an der Diskussion beteiligen zu können. Es geht um mich und ich kann nichts tun. Sektion 0? Davon wird in der Geschichte der Gesandten berichtet. Eine Stadt, von der niemand weiß, wo sie liegt. Shaco vermutet, sie wurde unter der Erde gebaut, um sich vor den Bestien zu verstecken. Flavius behauptet, sie schwebt über den Wolken, weil die Bestien nicht fliegen können. Aber neben allen Spekulationen steht wohl eins fest. Sektion 0 ist die Stadt der Gesandten, die Hauptstadt des Widerstandes, das Capitol der Menschen, der Sehenden, die über alles Bescheid wissen. Von dort kommen die Gesandten, von dort kommen die Gebote. Der Oberste Gesandte? Auch er sitzt dort irgendwo auf seinem Thron und lenkt die Geschicke seines Volkes. Sein Volk, zu dem auch ich gehöre. Und dort soll ich hin. Muss keine Prüfung bestehen, werde nicht exsektioniert, sondern wieder ganz gesund. Geheilt. Ich darf gehen und mein Team muss zur Prüfung. Ist das fair?

»Ich gehe mit!«, höre ich Ashas Stimme plötzlich und merke, dass ich einen Teil der Unterhaltung verpasst haben muss, während ich in den Tiefen meiner Gedanken versunken war.

»Unmöglich. Du musst deine Prüfung bestehen und hierbleiben. Das ist deine Aufgabe.«

»Aber wir gehören zusammen! Wir sind Schwestern!« Asha ist den Tränen nahe, ihre Stimme zittert, sie spricht viel zu laut. Viel zu laut, weil er ein Gesandter ist. So spricht man nicht mit einem Gesandten. Aber er ist nicht verärgert. Er ist nicht, wie ein Gesandter sein sollte.

»Schwestern? Bist du dir sicher?« Oh Gott Asha, sag nein. Du darfst keinen Gesandten anlügen.

Sag nein. Sag nein. Sag nein!

Ich kann nicht sprechen. Himmel, ich kann ihr nicht helfen.

»Ja, das sind wir und wir müssen zusammen bleiben!«, sagt Asha. Sie hat es getan. Sie hat gegen das 6. Gebot verstoßen. Das kann er nicht durchgehen lassen, auch wenn er anders ist. Das kann er nicht, darf er nicht!

»Ich werde das prüfen. Prüfen müssen«, sagt der Gesandte. Ich höre seine Stimme, seine Zweifel, seine Traurigkeit über die Entscheidung, die er zu treffen hat, wenn er erst einmal weiß, dass sie lügt. Dass sie ihn angelogen hat, einen Gesandten angelogen hat.

»Ich gebe euch eine Stunde, bis alle anderen wach sind. Macht euch für die Abreise fertig.« Er verlässt den Raum und lässt uns allein. Eine, die gegen das 6. Gebot verstoßen hat, und eine, die dem Tod näher als dem Leben ist.

Ich kann nicht sprechen, was nicht nötig ist, denn Asha beugt sich über mich und sagt das, was ich denke. Sie ist kein dummes Mädchen.

»Er gibt mir eine Stunde, um zu verschwinden.«

Nein, sie sagt doch nicht das, was ich denke! Jetzt, wo ich sie höre.

Er gibt uns eine Stunde. Dir und mir. Aber kein Ton kommt über meine Lippen. Kein Flüstern huscht aus meinem Mund. Meine Stimmbänder sind schon tot. Ich schüttle den Kopf und bin mir nicht sicher, ob er sich bewegt hat.

»Ich habe einen dummen kleinen Fehler gemacht. Weil ich dich so brauche. Nur ein dummer kleiner Fehler. Tut mir leid.« Ich würde sie gerne in die Arme nehmen, etwas zu ihr sagen.

»Die machen dich wieder ganz gesund, wirst schon sehen. Er hat recht. Ich kann dir nicht so helfen, wie die das können. Bitte suche mich, wenn du wieder gesund bist. Ich weiß, dass du mich finden wirst. Bitte suche mich.« Ich versuche zu nicken. Ich glaube, mein Kopf hat sich etwas bewegt. Asha sieht mir in die Augen. Sie sind ganz feucht. Die Tränen laufen in zwei Rinnsalen über ihre zarten, rosa Wangen. Die Wangen eines Mädchens.

»Ich kann mich gut verstecken. Aber du wirst mich finden. Du hast es mir versprochen. Es tut mir so leid.« Sie küsst mich auf den Mund. Ganz weich, ganz nass.

Asha verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich höre sie Dinge zusammenpacken. Schränke öffnen sich und schließen sich wieder. Wasser plätschert und versiegt wieder. Es vergeht Zeit. Zeit, die sie nicht hat. Zeit, die sie braucht um zu fliehen, sich ein Versteck zu suchen. Dann ist es still.

Asha erscheint wieder über mir, ich kann sie sehen. Sie hat sich verändert. Ihr Gesicht?

Alle Tränen sind fortgespült. Sie hat sich geschminkt, dezent hübsch, wie eine junge Frau. Ihre Augen sind stark, ihr Mund selbstbewusst. Ihre Haare? Was ist mit ihren Haaren passiert? Sie hat sie gefärbt! Violett. Ihre Lieblingsfarbe.

»Ich werde stark sein, bis du mich gefunden hast. Das ist mein Versprechen.« Sie küsst mich noch einmal. Ihre Lippen auf meinen. Nicht mehr weich und nass. Kühl und fest sind sie.

Und, sie drückt meine Hand, bevor sie geht.

Buch 2 - Versprochen

Die reine Beobachtung ist die Energie, die das, was ist, verwandelt. Wer das versteht, der wird sehen, dass er vollkommen frei von Ängsten ist.

Frei nach Krishnamurti

Kapitel 2.1

Ich bin nicht allein.

Er ist bei mir.

Er, der Asha dazu gebracht hat, zu fliehen, weil sie ihn angelogen hat. Er, der mir heute Nacht im Skygate begegnet ist. Der mit mir geflirtet hat und ich mit ihm.

Er, von dem ich nicht weiß, ob er ein Gesandter ist. Er trägt kein Zeichen des Obersten! Das sehe ich jetzt, weil es mir wieder besser geht. So schnell die Wunde aufbricht, so schnell schließt sie sich auch wieder, wenn nur genügend Blut in meinen Adern fließt. Und er? Er ist nur wegen mir zu den Prüfungen gekommen.

Warum?

Er sitzt mir gegenüber und beobachtet mich, ohne dass es mir möglich ist, in seinem Gesicht, seinen Augen zu lesen.

Ich bin gefesselt!

Zwei Gurte pressen mich in den nussschalenförmigen Sitz, der kalt ist und nach Kunststoff riecht. Die Geräusche sind mir so nah und so fremd. Nie war ich Rotorblättern, die durch die Luft schneiden wie Messer eines Riesen, so nah. Noch nie saß ich im Innern eines Helikopters, der sich wie ein Insekt durch die Luft schraubt.

Ich bin noch nie geflogen.

Wir entfernen uns schon seit Stunden vom Skygate.

Von Asha.

Schon lange sehe ich nur noch Wolken unter uns, um uns herum. New York, Sektion 13, Zone 1 und Asha sind in unerreichbare Ferne gerückt. Für den Moment.

Jesse hat es nicht verstanden und die anderen auch nicht. Niemand hat es verstanden, warum Asha fort ist, warum er mich mitnimmt. Ich habe nicht mehr gesprochen, seitdem Asha meine Lippen geküsst hat, meine Hand gedrückt hat, seit sie verschwunden ist. Ich spüre noch immer ihre Körperwärme auf meiner Haut, sehe noch immer die Entschlossenheit in ihren Augen, ihre blonden Haare, violett gefärbt.

Was soll ich in Sektion 0?

Bringt er mich dorthin, um mich zu heilen, damit ich wieder ganz gesund werde, damit die Verletzung nicht mehr aufbricht? Ich am Leben bleibe? Ist das alles?

Ich bin eine der Besten, hat er heute Nacht zu mir gesagt?

Können sie dort auch meine anderen Verletzungen heilen? Die, die nicht bluten?

Ich erinnere mich an den Abschied, hasse es, Abschied zu nehmen.

Jesse wollte mich auch küssen. So wie Asha, das habe ich gespürt. Aber er hat sich nicht getraut. Wie ich es hasse.

Werde ich ihn je wiedersehen? Werden wir uns jemals küssen? Fast schon bin ich darüber traurig, dass wir es nie versucht haben. Genügend Gelegenheiten gab es, aber ich habe ihm nie eine Chance gegeben, das Gefühl gegeben, dass ich für ihn erreichbar bin. Ist es jetzt zu spät? Bekommen wir noch eine zweite Chance? Was wird aus den anderen? Gouch, Trish, Shaco und Flavius? Flavius? Er ist jetzt mitten in der Prüfung und mein Team und die Gesandten sind auch bei ihm.

Außer er. Was will er von mir? Die Frage führt nirgendwohin! Ich habe sie so oft in meinem Kopf gestellt und nie eine Antwort erhalten. Vielleicht kann Sektion 0 die Lücke schließen.

Die Wolken fliegen auseinander wie ein Schwarm weißer Vögel, aufgeschreckt durch den Helikopter. Ich sehe den blauen Himmel. Er ist wunderschön. Ich kann einfach zu ihm hinschauen und fühle mich leer und frei.

Da! Plötzlich sehe ich etwas Tolles, Glitzerndes neben dem Helikopter. Silbernes Metall in der Sonne, das die Form einer Raupe beschreibt. Eine Raupe ohne Augen, ohne Beine. Eine Raupe aus Metall, die ohne Flügel fliegen kann.

Ich sage nichts, aber er hat es auch gesehen. Er beugt sich über mich und spricht. Ich rieche den Duft seines Körpers und höre den Klang seiner Stimme.

»Das ist eine Kampfdrohne! Sie bewacht die Grenze. Nichts und niemand kommt herein oder hinaus, ohne dass die Drohnen es bemerken.« Er macht eine Pause. Ist immer noch ganz nah bei mir. Über mir. Er duftet so vertraut. Ich bin mir plötzlich ganz sicher, wir begegnen uns nicht das erste Mal.

»Sie ist wunderschön. Findest du nicht?« Ich sehe aus dem Fenster, sehe die Kampfdrohne, die neben dem Helikopter wacht. Er spricht weiter, flüstert mir ins Ohr: »Sie ist wunderschön, gefährlich und tödlich. Sie ist perfekt, genauso wie du.«

Kapitel 2.2

Die Drohne lässt uns passieren, weil sie uns erkennt, erklärt er mir. Weil alle Privilegierten in Sektion 0 einen Sender implantiert haben, der ihren Standort markiert und ihre Lebenszeichen überwacht.

Wir überfliegen Sektion 0. Sie ist nicht im Entferntesten so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Das Bild von Sektion 0, das bisher in meinem Kopf war, ist vollkommen anders. Ich kann die Stunden nicht zählen, in denen ich sie in meinem Kopf gemalt habe, mit dem Pinsel meiner Phantasie und den Farben meiner Gefühle, wenn ich an diesen Ort dachte. Abends in unserem Loft, wenn ich mit Jesse vor unserer Fensterfront saß und wir auf das New York der unwissenden Nunbones hinabsahen.

In meiner Phantasie war kein Raum für eine Umgebung, die Leben zuließ. Kein Platz für Pflanzen, Tiere oder Menschen, die einander lieben konnten. Kalte Wände aus Stahl und Beton bestimmten die Atmosphäre. Sektion 0 war für mich ein Bunker, aus dessen Schießscharten Befehle schossen. In meiner Phantasie lebten dort nicht einmal viele Menschen. Nur die Gesandten und ein paar Wissenschaftler, Ärzte, Elitekrieger und die Vollstrecker. Die Vollstrecker, in ihren kitschigen blutroten Uniformen, die die Drecksarbeit für die Gesandten erledigen, wenn wir uns nicht an die Sieben Gebote halten. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich nur an sie denke. Bestien in Menschengestalt, das und nichts anderes sind sie.

Mehr gab es in Sektion 0 nicht. Kein Ort, den man besuchen wollte. Nicht im Frieden und nicht im Krieg.

Mit Jesse habe ich mich oft über Sektion 0, den Stützpunkt des Widerstandes, unterhalten und wir haben unsere Gedanken und unsere Bilder im Kopf ausgetauscht wie Sammelkarten, die den Besitzer wechseln.

Jesses Bilder strotzten nur so von technologischen Waffen, gepanzerten Fahrzeugen und Kampfhubschraubern, die nur auf den richtigen Zeitpunkt für den Gegenschlag warten.

Sektion 0 war für ihn der Stützpunkt der Armee der Guten. Er wollte immer schon hierher. Als Soldat, als Elitekrieger. Ich hoffe nicht als Vollstrecker!?

 

Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich daran gedacht, dass ich Sektion 0 vor ihm sehen würde. Ich schaue aus dem kleinen Seitenfenster des Helikopters. Schaue mit Adleraugen hinab und meine Bilder in meinem Kopf und die von Jesse werden übermalt, fortgewischt. Wir haben uns beide von Grund auf geirrt.

Ich habe noch nie eine so schöne Landschaft, so viel Grün gesehen. Ich beobachte den Schatten des Helikopters und bin atemlos. Die Schönheit der Landschaft unter mir raubt mir den Atem. Der Helikopter fliegt wie ein winziger Käfer über Wiesen, Hügelketten und sich wild windende Flüsse. Dort, in einiger Entfernung, stehen Bäume dicht zu einem Wald zusammengedrängt, als fürchten sie sich vor dem Lärm der Rotoren.

Keine Bunker! Kein Beton! Kein Stahl und keine Waffen! Statt Panzer raufen Hasen auf einer Wiese miteinander.

Wir überfliegen kurz darauf die grünen Hänge und ich sehe niedrige Wolken entlang der Bergflanke ziehen. Ich bin dem Boden, dem Grün so nah, fast kann ich nach ihm greifen. Die Grashalme werden von dem Wind der Rotoren auseinander gepeitscht und wir steigen und steigen und schrauben uns hoch in den Himmel, erreichen den höchsten Punkt, schweben über ihn hinweg und gleiten in einiger Höhe über einen kristallklaren See. Ich stelle mir vor, dass man in ihm bis zum Erdinneren tauchen könnte.

Ich lehne meine Wange auf die Scheibe, um mit meinen Augen in seinen Tiefen abzutauchen und erstarre. Die Scheibe hat das verursacht, sie hat mich erschreckt. Sie ist eiskalt.

»Gefällt dir der See?«, fragt er. Ich atme seinen Geruch ein, der mich an frischen Schnee und knackendes Eis erinnert. Ich habe aufgrund der Naturwunder fast vergessen, dass ich nicht der einzige Passagier bin. Ein paar endlos lang erscheinende Sekunden schaue ich ihn schweigend an. Ich entscheide mich, ihm nicht zu antworten und er akzeptiert es.

»Der See liegt direkt im Krater eines Vulkans. In Sektion 0 gibt es einige davon. Aber keine Angst, sie sind seit Menschengedenken erloschen. Manche sagen, eine unterirdische Höhle führt vom See direkt in das Meer. Das finde ich jedes Mal zum Fürchten, wenn ich mir das vorstelle.« Das finde ich auch, sage aber nichts. Schweige ihn weiter andächtig an.

Es bleibt nicht bei diesem einen Berg, der vor vielen tausend Jahren einmal Feuer gespuckt hat. Und plötzlich kommt mir die Landschaft bekannt vor. Als erinnere ich mich an einen vergessen geglaubten Moment. Ich war schon einmal hier! Ich spüre einen kalten Schauer, der meinen Nacken überfällt.

Was war das? War es tatsächlich eine Erinnerung? Kann das möglich sein?

Nie gab es auch nur ein winziges Kräuseln auf dem totenstillen Ozean meiner Vergangenheit. Meine Vergangenheit schwieg, war ruhig, alle Erinnerungen erloschen, unabrufbar gelöscht, weil sie sie mir genommen haben. Bis dieser scheinbar Fremde aufgetaucht ist.

Seine Anwesenheit hat mich erinnern lassen. An etwas aus der Zeit vor der smaragdgrünen Flüssigkeit, die sie mir in den Kopf gespritzt haben und die alle meine Erinnerungen wie Schwefelsäure weggeätzt hat. Aus welchem Grund?

Ich erinnere mich an die Vulkane. Die Erinnerungen sind noch da, sind nicht gelöscht, weggeätzt. Sie sind nur verblasst und warten nur darauf, dass ich einen Weg zu ihnen zurück finde.

Die smaragdgrüne Injektion hat gar nichts gelöscht. Sie hat lediglich den Weg versperrt. Stahltüren in meinen Kopf eingebaut und verriegelt. Ich werde sie in Stücke reißen. Ich werde mich wieder an mich erinnern. Jetzt, da ich weiß, dass sie noch da sind, werde ich mich an alles wieder erinnern. An alles, was war. Wer ich war. Wer ich bin. Wer er ist.

In den Tälern zwischen den Vulkanen entdecke ich nun Dörfer und an den Hängen schier endlose Reihen von Gewächsen, die formlos in den Himmel wuchern.

»Wir nennen diese Dörfer die Vitaminkapseln. Die Vulkanerde ist sehr fruchtbar. Die Wärme ist selbst nach tausend Jahren noch zu spüren. Du gräbst drei Meter tief und kannst dir in dem Loch einen Tee kochen. Hier wachsen die süßesten Früchte und hier reift der beste Wein. Hast du schon einmal Wein gekostet?«, fragt er und ich blicke in seine Augen.

Der Helikopter fliegt einen weiten Bogen und ich habe die Möglichkeit, viel mehr zu sehen von dem Bergdorf, das unter uns liegt. So überschaubar, friedlich und geschützt. Der alte Kirchturm überragt alles andere. Er ist das unangefochtene Zentrum des Dorfgeschehens. Frauen in schwarzen Roben stehen dort auf dem Kirchplatz und schauen zu uns empor. Kinder winken dem Helikopter fröhlich vom daneben liegenden Schulhof zu. Niemand scheint hier vor irgendetwas Angst zu haben.

Plötzlich verändern sich die Scheiben des Helikopters. Werden für meine Augen undurchdringlich, wie das vom Wasserdampf beschlagene Glas unter der Dusche in meinem Skygate.

Was soll das? Jetzt fühle ich mich tatsächlich wie eine Gefangene. Vielleicht bin ich das ja auch. Eine Gefangene, und der Helikopter ist der Gefangenentransport. Und er? Er ist der Aufseher, mein Wächter. Der Aufpasser, damit ich nicht flüchte. Was totaler Quatsch ist. Wie sollte ich das anstellen?

»Nur eine Sicherheitsmaßnahme. Nichts weiter, über das du dir Gedanken machen solltest«, sagt er. Er hat sich mir gegenüber in seinen Sitz geschnallt und sieht mich von unten bis oben an. Seine Blicke sind mir unangenehm.

Ja, ich fühle mich tiefer und tiefer wie eine Gefangene, seine Gefangene oder wie ein erworbener Besitz. Seinen Besitz. Ich schließe meine Augen. Vielleicht hilft es mir dabei, meine desolate Lage auszublenden und ich versuche ein wenig zu schlafen.

Alles bewegt sich. Ich weiß nicht, wie lange ich weg war. Mir kommt es vor wie ein paar Sekunden, aber der Himmel ist schon dunkel. Der ganze Helikopter und seine Passagiere (mich eingeschlossen) werden von heftigen Turbulenzen durchgeschüttelt.

Reine Sicherheitsmaßnahme, erinnere ich mich und blicke durch den schmalen Spalt meiner fast geschlossenen Lider und ich sehe, wie er sich mit seinen Fingern an seinem Sitz festkrallt und seine Lippen aufeinander presst.

Gerne würde ich eine fiese Bemerkung fallen lassen, aber die Turbulenzen rütteln mich durch und ich spüre meine Verletzung wiedererwachen und sie zwingt mich in die Defensive. Es tut höllisch weh!

Ich will den Schmerz einfach runterschlucken, aber es geht nicht. Es ist, als habe jemand ein Feuer in meinem Bauch entfacht, das bis auf mein Bewusstsein alles in die Luft sprengt. Ich schließe meine Augen, beiße mir fast die Unterlippe entzwei und der Schmerz, er droht mich in Stücke zu reißen, mich zu verbrennen, als habe jemand ein Fass Säure auf mich geschüttet, die meine Haut und mein Fleisch durchlöchert und mein Inneres, samt aller Knochen, auffrisst.

Ich bin es gewohnt, Schmerzen zu ertragen, aber meine Schmerzskala, die bis zehn reicht, zerreist es in diesem Moment.

Ich beiße mir auf die Zähne, schone meine Lippen, presse meine Fäuste so krampfhaft zusammen, dass sich meine Fingernägel wie Dolche tief in meine Haut bohren. Jetzt nur nicht losbrüllen, nicht schreien, bloß keine Schwäche zeigen. 7. Gebot! Himmel! Oh Gott, hilf mir, das zu ertragen. Ich sacke zusammen und dann, plötzlich, als habe er mich tatsächlich gehört, fällt der Zeiger um zwei, drei Schmerzpunkte und ich habe Zeit durchzuatmen, mich zu erholen. Meine Kleider (beziehungsweise das, was von ihnen übrig ist) sind schweißnass. Zum Glück ist es Schweiß und kein Blut. Die Naht hält. Asha hat wieder einmal einen guten Job gemacht. Ich muss an sie denken und der Schmerz in meiner Brust, sie im Stich gelassen zu haben, ist fast schlimmer als der meiner Wunde.

Ich wünsche mir jetzt zum ersten Mal, dass wir bald dort sind. Wo auch immer dort ist. Sind wir noch über den Vulkanen? Ich wünsche mir, dass sie sich um mich kümmern, wer auch immer sie sind. Nicht, damit ich überlebe. Zumindest nicht nur deshalb, sondern weil mein Überleben eine Notwendigkeit ist, um mein Versprechen einzulösen. Ich will endlich ankommen, weil ich nicht weiß, wie lange ich diese körperlichen Qualen noch ertragen kann. Gott, bitte hilf mir, denn wie eine Flut bricht der Schmerz erneut über mir zusammen und lässt mein Herz für eine Sekunde aussetzen und mich vergessen, wie man atmet. Meine Knie zittern und verzweifelt versuche ich, mich an das 7. Gebot zu halten. Dann, nach ein paar unendlichen Sekunden, geht der Anfall wieder vorbei.