Die Vigilantin

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Die Vigilantin
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Sonja Reineke

Die Vigilantin

Alte Besen kehren Wut

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort von Ruth Welter

Wie ich Darlan kennenlernte

Darlan und Wolfhardt

Seelenstrip

Auf dem Friedhof

Ego

Darlans erster Mord

Annas Peiniger

Gespräche mit Beate

Der Tod von Annas Peinigern

Migräne und Darlans Schwester

Darlan auf Youtube

Die Entsorgung von Annas Peinigern

Gespräch mit Mahling

Opportunisten

Ein Hündchen für Anna. Volkers.

Schuldgefühle

Ein Abend mit Beate

Extreme

Durchhalten

Endspurt

Der Kampf um das Material

Kampf und Flucht

Der Preis

Info

Impressum neobooks

Vorwort von Ruth Welter

Die Geschichte der Serienmörderin Miriam Darlan hat die Medien in den letzten Monaten in Atem gehalten wie keine andere. Faszination und Abscheu sind die meisten Reaktionen, wenn ich von meinem Buchprojekt erzähle. Sie können sich sicher vorstellen, dass die Faszination überwiegt. Warum ist das so? Warum fesselt uns gerade die Geschichte von Darlan wie keine andere?

Es mag daran liegen, dass sie die erste echte Serienmörderin in Deutschland ist. Weibliche Serienmörder kommen praktisch nicht vor.

Meiner Meinung nach liegt es daran, dass Darlan vor allem Menschen umbrachte, die in unserer Gesellschaft kein hohes Ansehen genießen: Kinderschänder, gewaltbereite Jugendliche. Viele schreiben ihr und es gibt mittlerweile regelrechte Fanclubs.

Wir dürfen bei allem Verständnis, das ihre Taten zunächst in einigen von uns wecken, nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft keine Selbstjustiz billigt.

Zudem dürfen wir auch nicht aus den Augen verlieren, dass Darlan auch Mitmenschen ermordete, die sich nichts zuschulden kommen ließen.

Während der Monate der Arbeit mit ihr habe ich viele Facetten ihres Wesens beobachten können. Warum sie mit mir redete, aber nicht mit den Ärzten, den Gutachtern oder ihrem Anwalt, wird wohl immer ein Rätsel bleiben – so dachte ich. Erst am Ende unserer Gespräche offenbarte sie mir den Grund.

Die drastische Gewalt in ihrem Bericht hat mich selbst mit Ekel erfüllt. Ich habe so viel wie möglich davon entschärft. Dennoch werden Ihnen einige Passagen gewiss sehr extrem vorkommen. Ich habe mich dafür entschieden, diese Passagen im Buch zu belassen. Frau Darlan sollte ihre Geschichte vollständig erzählen dürfen.

Aber lassen wir sie zum Schluss selbst zu Wort kommen:

„Ich bin der Idee dieser Gesellschaft entsprungen wie Pallas Athene der Stirn des Zeus. Ihr habt mich erschaffen. Ich bin ein Kind dieser Zeit. Stempelt mich ruhig als verrückt ab, wenn es für euch so viel einfacher und vor allem erträglicher ist. Schiebt mich in irgendeine Zelle ab, stopft mich mit Pillen voll und vergesst mich. Aber ich bin immer da. Ich existiere in jedem Einzelnen von euch. Verdrängung ist ungesund, sagen mir die Ärzte hier. Wenn Verdrängung so ungesund ist, warum verdrängt ihr dann mich?“

Ruth Welter

Wie ich Darlan kennenlernte

1

In den folgenden Kapiteln wird vor allem Frau Darlan zu Wort kommen. Daher möchte ich sie und die Umstände, die zu diesem Buch führten, im ersten Kapitel beschreiben und dann ihr das Wort überlassen.

Ich hatte Miriam Darlan nie live erlebt, aber den Aufruhr vor dem Gericht schon. Es war eine meiner letzten Versuche, wieder eine echte Story zu schreiben. Also verschob ich mein nur mäßig interessantes Interview und fuhr zum Gericht.

Man hätte meinen können, die Beatles sollten wegen Mordes verurteilt werden. So viele Menschen auf einen Haufen hatte ich jedenfalls vor dem Bielefelder Gericht noch nie gesehen. Sie wurden von Polizisten mit Hunden in Schach gehalten, die Stimmung war ziemlich aggressiv. Sogar ein Wasserwerfer fuhr gerade vor, als ich eintraf. Was für ein Spektakel. Die Menge hatte sich in zwei Gruppen gespalten. Die eine schwenkte Schilder und skandierte: „Freiheit für Darlan!“ Die andere verlangte genau das Gegenteil.

Mehrere Kollegen vom Fernsehen umdrängten eine Frau, die steinernen Gesichts direkt vor dem Eingang stand. Es war Tatjana Wolfhardt. Sie trat als Nebenklägerin auf.

„Am liebsten wäre es mir, sie bekäme die Todesstrafe! Leider haben wir die nicht mehr!“, blaffte sie auf die Fragen der Reporter, deren Mikrofone gierig in ihr verweintes Gesicht stießen.

„Sie hat meinen Bruder umgebracht! Mein armer kleiner Bruder.“ Sie brach in Schluchzen aus, die Kameras zoomten näher heran. Ich hatte mich in der Zwischenzeit mühsam an sie herangekämpft und schoss ein paar Fotos. Der Schnapsgeruch, den Frau Wolfhardt ausdünstete, machte mich ganz benommen. „Dein Bruder war ein Schwein!“, gellte eine weibliche Stimme aus der Menge, die Darlans Freilassung forderte, „er schmort jetzt in der Hölle!“ Die andere Gruppe begann zu toben. Erste Handgemenge entstanden. Was für ein großartiger Stoff für die Abendnachrichten. Ich bedauerte nur, nicht Fotos von Darlan selbst zu haben. Ingo war drinnen und lichtete Darlan ab und schrieb wohl auch einen Leitartikel über den Prozess. Ich hatte sie noch nie zu sehen bekommen. Ich wusste nicht, dass sich das bald ändern sollte.

Wieder in der Redaktion bereitete ich mich auf Ärger vor, da ich meinen Interviewtermin verschoben hatte und jetzt mit Fotos ankam, die ich gar nicht hätte machen dürfen. Das gehörte jetzt zu Ingos Aufgaben. Die Fotos wurden zwar genommen, aber es war so, wie ich befürchtet hatte: Den Artikel dazu schrieb ein anderer. Ich sollte wieder brav in meinen Bereich zurück. Da gab ich es auf.

Als mein Chefredakteur mich Monate später zu sich rief, war ich auf vieles gefasst, aber nicht auf den Auftrag, den er für mich hatte.

Er stand mit hochgekrempelten Ärmeln am Fenster seines Büros und sah erschöpft aus. „Ruth“, sagte er ernst, „ich habe eine E-Mail bekommen, die für unsere Zeitung die Chance ist, eine Exklusivstory über Darlan zu bekommen.“

Ich musste schlucken. Darlan redete mit niemandem, las aber fleißig die ihr zugesandten Fanbriefe, so hieß es. Sie war allen ein großes Rätsel. Journalisten aus aller Welt schlugen sich darum, mit ihr ein Interview machen zu können. Auch die Redaktion unserer Zeitung hätte dafür gemordet, wenn auch nicht unbedingt das Ressort, in dem ich tätig war. Das passte hinten und vorne nicht. Wie kamen wir zu der Ehre? Ich fragte ihn.

„Sie hat nach Ihnen verlangt. Es steht in der Mail der Vollzugsanstalt. Warum weiß kein Mensch. Scheinbar hat sie mal einen Artikel von Ihnen gelesen, und der hat ihr gefallen. Jedenfalls hat sie explizit Ruth Welter angefordert.“

Ich blinzelte. „Namentlich?“, fragte ich und fühlte mich beinahe wie Clarice Starling in „Das Schweigen der Lämmer.“

„Namentlich. Fragen Sie sie selbst, warum. Ab Montag dürfen Sie sie jeden Tag für ein paar Stunden besuchen. Ich bin über diese großzügige Regelung selbst etwas überrascht, aber wahrscheinlich erhoffen sich die Anstaltsärzte ein paar Antworten.“

Natürlich war ich über dieses Angebot verblüfft und erfreut zugleich. Und so kaufte ich eine Menge Batterien für meinen Rekorder und besuchte Miriam Darlan in ihrer Anstalt.

Darlan und Wolfhardt

2

Ein bisschen fühlt man sich tatsächlich an die Szenen in „Das Schweigen der Lämmer“ erinnert, wenn man durch die Sicherheitsschleusen der Anstalt, oder vielmehr des psychiatrischen Krankenhauses Bergenbeck, geführt wird. Es ist ein altes Gebäude, in dem es nach Desinfektionsmitteln und altem Mauerwerk riecht – und nach Wahnsinn. Das behauptet jedenfalls Darlan selbst. Sie sitzt wenigstens im alten Trakt, wo die meisten Zellen leer stehen, sodass mich wenigstens niemand anzischt, dass er gewisse Körperteile riechen kann. Den anderen Teil des Gebäudes hat man renoviert und ausgebaut. Das U-förmige Gemäuer erinnert mich auch an meine alte Schule: cremefarbene Wände, dunkelgrüne Türen, hohe Decken. Echos von zuschlagenden Türen und klappernden Absätzen hallen durch die Gänge. Ein uniformierter Wärter mit schwarzem Schnauzbart eskortiert mich zu dem kleinen Besuchszimmer, das man für unsere Gespräche auserkoren hat. Das Mobiliar besteht aus einem völlig zerkratzen Tisch mit eingeritzten Obszönitäten und zwei Stühlen. Der von Darlan steht gegenüber der Tür, vor dem vergitterten Fenster. In der Tür ist ein Guckloch, vor dem sich der Wärter, ein gewisser Herr Mahling, positioniert. Er wird uns keine Sekunde aus den Augen lassen, was mich wenigstens etwas beruhigt. Darlan erwartet mich bereits. Sie sitzt mir gegenüber, mit strähnigem, dunkelblondem Haar, einem kurzärmeligen, verwaschenen T-Shirt und einer dunkelblauen Trainingshose. Sie schlägt das linke Bein über das Rechte, hat eine dampfende Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, zieht aber so gut wie nie daran. Die Arme stützt sie auf den wackelnden Tisch und wechselt oft die Sitzposition. Zuerst dachte ich, es wäre eine Nebenwirkung der Medikamente oder ein Symptom ihrer Psychose, aber der Grund dafür ist äußerst trivial: Die Stühle sind hart und höllisch unbequem. Ich selbst rutsche auf meinem hin und her und weiß kaum, wie ich sitzen soll.

 

Ich sehe sie neugierig an. Fotos habe ich jede Menge von ihr gesehen, aber so nahe bin ich nie an sie herangekommen. Auf den Fotos sah man eine frische, gut gekleidete, attraktive Frau mit einer pfiffigen Frisur. Der Aufenthalt in der Anstalt hat ihr zugesetzt, denn ihre Haut hat einen fettigen Glanz und wirkt viel faltiger als zuvor. Die Augen sind tiefblau, die Nase ist klein und ein wenig zu breit. Alles in allem ist es ein freundliches, offenes Gesicht, das mir genauso gut beim Bäcker, beim Arzt, im Supermarkt oder im Kino begegnen könnte. Bei einem Serienmörder glaubt man immer, man müsse es ihm – oder in diesem Fall ihr – irgendwie ansehen können. Ich kann nicht zählen, wie oft ich zu hören bekommen habe: Aber das sieht man doch schon an den bösen Augen! Das stimmt nicht. Viele Serienmörder wirken freundlich, vertrauenerweckend. Auch Miriam Darlan könnte mich irreführen. Aber ich verliere nicht eine Sekunde aus den Augen, was sie getan hat und wie sie es getan hat. Ich baue das Mikrofon vor ihr auf und bereite den Rekorder vor.

„Manieren haben Sie … hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man erst mal ‚Guten Tag’, sagt, wenn man einen Raum betritt, und dass man sich vorstellt?“ Irritiert sehe ich zu ihr herüber. Sie meint das todernst. Eine steile Falte erscheint zwischen ihren Augenbrauen und ihre Mundwinkel zeigen einen grimmigen Zug nach unten.

„Es tut mir leid“, sage ich, „mein Name ist Ruth Welter, Guten Tag!“

„Ach, am Arsch“, schnaubt sie, „Sie können sich Ihr herablassendes Getue sparen. Wenn Sie meinen, Sie können über mich urteilen, mich analysieren und sich aufs hohe Ross setzen, vergessen Sie die Sache. Packen Sie ihren Scheiß zusammen und verpissen Sie sich.“ Sie sagt es ganz sachlich, und auch das meint sie todernst. Sie bricht das Interview ab, bevor es überhaupt angefangen hat, und ignoriert meine schriftlichen Entschuldigungen und Bitten um einen neuen Termin – für volle sechs Wochen.

Als ich das nächste Mal wieder vor ihr sitze – diesmal nach einem freundlichen „Guten Tag“ und einer artigen Vorstellung – fragt sich mich schlicht: „Wissen Sie jetzt, wer hier am längeren Hebel sitzt?“

Ich weiß es.

Der Rekorder läuft, und sie scheint es kaum abwarten zu können. Denn noch, bevor ich die erste Frage stellen kann, legt sie schon los: „Sie wollen doch bestimmt wissen, wie und warum ich meine Morde geplant habe, oder?“

Ich winke ab. „Lassen Sie uns lieber mit Ihrer Kindheit anfangen.“ Sie schnaubt verächtlich. „Wir sind nicht hier, um über meine Kindheit zu palavern, und Ihre Leser interessiert das einen Scheißdreck.“ Am liebsten möchte ich ihr sagen, dass sie das mir überlassen soll, aber sie sitzt ja am längeren Hebel. Also schweige ich. Aber auch das passt ihr nicht.

„Meine Kindheit … klar, die war scheiße. Muss sie ja auch, oder? Mein Stiefvater war ein Arsch. Reicht das nicht?“ Ich ziehe die Schultern hoch. „Arsch, inwiefern?“, frage ich. Sie rutscht auf dem Stuhl herum. „Es gibt Fotos von mir und ihm“, sagt sie schließlich. „Fotos, wo ich mit ihm in der Badewanne sitze. Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, ein neunjähriges Kind zu zwingen, mit einem zu baden, oder? Außer dem einen Grund natürlich. Und dabei wollen wir’s belassen.“ Sie sieht finster auf den Tisch und zündet sich eine weitere Zigarette an, obwohl die andere Kippe noch im Aschenbecher vor sich hin schmort.

Ich belasse es also dabei. Nur eine Frage habe ich noch.

„War das … also das Baden … der Grund, ihn umzubringen?“

„Na, was denn sonst? Aber Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht. Er ist nicht tot.“

„Doch“, erwidere ich trocken, „das ist er. Sie haben ihn zwar ins Koma geprügelt, aber dann ist er gestorben. Vor drei Wochen wurde er beerdigt.“

Überrascht sehe ich, dass diese Nachricht sie nervös macht. Sie hat wohl doch Schuldgefühle, obwohl sie bisher bei keiner ihrer Taten Reue gezeigt hat. Ich frage sie danach. Sie lacht kurz auf, ein bellender, heiserer Laut.

„Nein, ich hatte nur gehofft, er müsse noch lange leiden. Da habe ich wohl zu hart zugeschlagen … oder einmal zu viel. Es ist schwer zu dosieren mit einem Baseballschläger, wissen Sie. Da schießt ihm das Blut aus der Nase und man schlägt weiter zu … Dann kommt es aus den Ohren und man denkt: Halt! Aufpassen! Sonst ist er hinüber! Und man lässt den Schläger sinken … und dann kommt der Sack wieder auf die Füße und taumelt davon, und man muss ihm doch noch eins über die Rübe geben … und dann kracht etwas, er fällt um wie vom Blitz getroffen und der Schädel ist nur noch ein 3 D Puzzle, bei dem schon ein paar Teile fehlen … und man hat das ganze Blut im Gesicht, das spritzt wie Sau … ja, mit dem Baseballschläger ganze Arbeit zu leisten, ist eine Kunst … geht’s Ihnen nicht gut?“

Ich wische mir kurz mit dem Ärmel über die Stirn. „Geht schon.“

Wenn sie glaubt, mich mit Kaltschnäuzigkeit und Detailverliebten Berichten schockieren zu können, hat sie Pech. Ich arbeite bei einer Zeitung, und ich sehe fern. Gewalt in allen Einzelheiten ist heutzutage nichts Besonderes mehr. Nur ihr Plauderton hat mich etwas aus der Bahn geworfen. Das wird mir nicht noch einmal passieren.

„Zäumen wir das Pferd nicht vom Schwanz auf“, schlage ich vor und sehne mich insgeheim nach etwas frischer Luft. Aber die Fenster in diesem Raum kann man nicht öffnen. Bergenbeck ist eine psychiatrische Klinik, die für Darlan ein eher ungeeigneter Ort ist: Hier verbüßen Mörder und Kinderschänder ihre Sicherheitsverwahrung. Darlan in eine weniger gut bewachte Einrichtung zu stecken, wäre aber niemandem in den Sinn gekommen. Erstens ist sie nicht dumm, zweitens haben sich zwei ihrer Fanclubs zum Ziel gemacht, sie zu befreien, und drittens ist sie ein Präzedenzfall. Die Entscheidung, wo man sie unterbringen soll, ist den Verantwortlichen nicht leicht gefallen. Sie wird streng bewacht, hat keinerlei Zugang zu Werkzeugen, Stricken oder Medikamenten und darf mit keinem der anderen Insassen mehr reden. Man wird den Eindruck nicht los, dass unsere Regierung mit ihrem Fall hoffnungslos überfordert ist. Wohl vor allem deswegen, weil die Bevölkerung sich so sehr auf ihre Seite schlägt, und weil Miriam Darlan etwas völlig Neues ist: eine Hausfrau, die beinahe Amok gelaufen wäre. Nach ihrer Festnahme fand man in ihrem Keller in einer Kiste mit Weihnachtsschmuck Pläne zur Sprengung des Brandenburger Tors, komplett mit aus dem Internet ausgedruckten Anweisungen zum Bombenbau. Das sollte ihr neuestes Projekt werden, nachdem sie ihre Todesliste abgearbeitet hatte. Einige Namen stehen noch aus. Wobei „Namen“ eigentlich zu viel gesagt ist. Die Polizei rätselt noch darüber, wer Guy in red Parka und Schlampe, die sich vorgedrängelt hat, sein mögen.

„Fein“, sagt sie jetzt und fummelt mit dem Feuerzeug herum. Sobald sie wieder in ihre Zelle muss, wird es ihr abgenommen. Man geht bei ihr keinerlei Risiko ein.

„Warum fangen wir nicht bei Ihrem ersten Mord an? Wann sind Sie ausge … wann hatten Sie die Nase so voll, dass sie Blut sehen wollten?“

Sie wirft den Kopf zurück und lacht. „Sie gefallen mir, Ruth. Ich glaube, Sie werden ein prächtiges Buch schreiben. Na gut, fangen wir also mit dem Arschloch an, das zuerst dran glauben musste.“

„Christian Wolfhardt“, sage ich und sehe sie aufmerksam an. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Mörder oft ihre Opfer entmenschlichen und sich weigern, die Namen zu nennen, damit sie für sie nicht zu einem Individuum werden, sondern ein Objekt bleiben. Darlan lächelt spöttisch, und ich habe das mulmige Gefühl, dass sie mich durchschaut.

„Ja, der. Also, das war so … Ich war einkaufen. Nur ein paar Kleinigkeiten für das Mittagessen und etwas aus dem Sportfachgeschäft für mich. Felix hatte Frühschicht und kam so gegen halb drei nach Hause. Gulasch sollte es geben, daran kann ich mich noch erinnern. Fleisch, Paprika und eine große Gemüsezwiebel habe ich eingekauft. Dann ging ich hinter dem Supermarkt in Richtung Park. Es war so ein schöner Tag im Frühling, sonnig aber noch etwas kalt, und ob man durch den Park nach Hause geht oder an der Engerschen Straße entlang, macht eigentlich zeitlich keinen Unterschied. Dort, wo der Park anfängt, ist der Weg für ein paar Meter ziemlich abschüssig, und die Fahrradfahrer benutzen diese paar Meter meistens, um so richtig Fahrt aufzunehmen. Das ist nicht so ganz ungefährlich. Ich hatte diesen Hügel schon hinter mir gelassen, da fuhr auch tatsächlich so ein Penner an mir vorbei, an meiner linken Seite, ohne zu klingeln und so dicht, dass er mich fast umgefahren hätte. Ich denke, sie schätzen mich meiner Taten wegen so ein, dass ich den gleich vom Rad gerissen und zur Sau gemacht habe, aber damals war ich noch anders: Angepasst, schüchtern. Ich sagte nichts, meckerte nur leise vor mich hin. Aber wegen ihm sah ich nach links und das war der Beginn von allem. Links ist nämlich ein großer Spielplatz. Ein wirklich schöner. Sandkasten, Schaukeln, was zum drauf Herumklettern. Und Bänke, damit die Begleitperson sich gemütlich hinsetzen kann. Auf einer der Schaukeln saß ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Sie schaukelte nicht, sondern schurrte mit ihren Füßen im Matsch unter der Schaukel herum. Sie sah dabei auf ihre Stiefel. Ihr Haar war dunkel und zu kleinen Rattenschwänzen gebunden, sie trug einen blauen Anorak und hatte einen Schulranzen am Pfosten der Schaukel stehen. Sie war allein. Ich wollte weitergehen, da sah ich, dass sie doch nicht so allein war: Auf einer der Bänke saß ein Mann.“

Sie streckt die Beine aus, wirft die Zigarette in den Aschenbecher, dreht sich auf dem Stuhl halb um und sieht aus dem Fenster. Sie sieht traurig aus, verstört. Zum ersten Mal sehe ich eine Art Emotion in ihr. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und erzählt weiter. Aber sie starrt immer noch blicklos aus dem Fenster.

„Man könnte sich natürlich denken: Gut, da ist Papi, er hat klein Vanessa oder Sandra von der Schule abgeholt und ihr eine halbe Stunde auf dem Spielplatz bewilligt, aber etwas an seinem Blick störte mich. Da war etwas Dunkles in ihm, etwas, das ich vielleicht nur sehen konnte, weil ich einen ähnlich dunklen Kern habe. Oder es war das Verhalten des Kindes an sich, denn sie wirkte irgendwie … verstört und unbehaglich, so als ob sie sich weit wegwünschte. Also sah ich genauer hin. Und bemerkte, dass der Kerl seine Hände nicht einfach im Schoss gefaltet hatte. Er bewegte sie. Er onanierte. Mitten am Tag saß er im Park am Spielplatz, sah einem Kind auf der Schaukel zu und holte sich einen runter. Ich konnte es kaum glauben.“ Sie dreht sich so ruckartig wieder zum Tisch um, dass ich erschreckt zusammenfahre. Dann legt sie den Kopf in beide Hände und erzählt weiter.

„Er spürte wohl meinen Blick, denn er drehte den Kopf, sah mich, und ließ die Hände so im Schoss liegen, als ob nichts wäre. So, als ob er nur dasitzt, mit im Schoss gefalteten Händen und sich die Vögel am Himmel ansieht, oder die Enten auf der Wiese. So völlig abgebrüht. Und ich fragte mich, wie viele Leute, die an ihm vorbeigekommen waren, sich davon wohl schon haben foppen lassen und einfach weitergingen, ohne etwas Ungewöhnliches zu bemerken.

 

Ich war in diesem Augenblick ähnlich abgebrüht. Eigentlich hätte ich wie vor den Kopf geschlagen stehen bleiben müssen. Aber ich drehte nur langsam den Kopf weg, lächelte dem Mädchen mit zitternden Mundwinkeln kurz zu und ging weiter. Gleich neben dem Spielplatz ist ein großes Gebüsch, das den restlichen Park vom Spielplatz abtrennt. Dahinter blieb ich stehen und versuchte, mich wieder unter Kontrolle zu bringen.

Ich kann mir denken, dass sie meinen, die Darlan, die Mörderin, schlug sofort zu. Aber die gab es damals noch nicht. Ich wollte das tun, was ein aufrechter Bürger in dieser Situation wohl macht: Das Handy zücken und die Polizei rufen. Aber das Schicksal entschied es anders. Sehen Sie, ich hatte immer, immer mein Handy dabei. Egal ob ich weit wegfuhr oder nur zum Mülleimer ging: Ich nahm mein Handy immer mit. Das war so ein Tick von mir. Aber an diesem Tag, zum ersten Mal, hatte ich es zu Hause gelassen. Der Akku war leer, und so schloss ich es an das Ladegerät an, als ich zum Einkaufen ging, und dachte noch dabei: Lass es doch ruhig hier, der Marktkauf ist nur `ne Viertelstunde weg, du wirst es eh nicht brauchen.

Da stand ich also nun hinter dem Gebüsch und konnte niemanden holen. Und da war da noch eine kleine, sachliche Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüsterte, dass sie schon oft genug im Fernsehen davon gehört hatte, dass diese Arschlöcher, die sich an Kindern aufgeilen, nicht mal bestraft werden. Wenn ich die Polizei geholt hätte, der Kerl hätte einfach die Hände schnell aus der Hose genommen und behauptet, er hätte doch nichts gemacht. Und am nächsten Tag hätte er wieder dort gesessen und auf die Kleine gewartet … oder auf eine andere, die von der Schule nach Hause geht. Das sagte mir also diese Stimme, und sie hatte recht. Ich war auch wütend: Warum war die Kleine allein unterwegs? Warum holte sie niemand ab? Oder war diese Sau am Ende tatsächlich der Vater? Oder eher Erzeuger; kein Vater würde so etwas tun.“ Sie knetet sich die Stirn. „Ich war sehr durcheinander. Ich wusste nur eins: Ich musste etwas tun. Niemand sonst war im Park, vielleicht weiter hinten, in Richtung Obersee, aber nicht hier. Und weggehen und eine Telefonzelle suchen wollte ich auch nicht. Er hätte sich die Kleine ja schnappen und verschwinden können. Außerdem gibt es ja fast nirgendwo mehr Telefonzellen. Und wenn man mal eine findet, ist sie kaputt.

Wie ich noch da stand und überlegte, was ich tun sollte, stand das Mädchen schnell auf, griff sich ihren Ranzen und ging den Weg weiter entlang, in meine Richtung. Wahrscheinlich fühlte sie sich sicher, weil ich an ihr vorbeigegangen war, und wollte in meiner Nähe bleiben. Bestimmt wohnte sie Richtung Pfarracker. Ich warf ihr einen Blick zu, als sie an mir vorbeiging, und sie starrte mich einen Augenblick lang erschrocken an, als sie an dem Gebüsch vorbeikam und mich dahinter stehen sah. Dann ging sie schneller und sah noch einmal furchtsam zurück. Aber nicht auf mich, sondern in Richtung Spielplatz. Sie rannte. Und ich drehte den Kopf und sah den Mann, der von der Bank aufstand, hastig seinen Hosenstall richtete, und auf den Weg zuging, der an mir vorbeiführte. Er kam auf mich zu, ohne zu wissen, dass ich da stand. Und da holte ich das aus meinem Einkaufsbeutel, was ich unten in dem Sportfachgeschäft gekauft hatte.“

3

„Denken Sie, dass auch das Schicksal war?“, frage ich kritisch. Sie will mir hoffentlich nicht weismachen, dass ihre mörderische Karriere ein Fingerzeig Gottes war.

Sie lacht wieder kurz, beinahe mitleidig, auf. „Nein, es war nicht Schicksal … aber ein netter Zufall. Ich wollte abnehmen. Wieder so ein Phänomen unserer verrückten Gesellschaft. Da haben wir um die zwanzig verschiedene Joghurtsorten im Regal, riesige Truhen mit Fisch, Fleisch und Sahnetorten, auf der anderen Seite der Welt verhungern die Menschen im Sekundentakt, und wir, die wir vor Überfluss nicht wissen wohin, werden immer fetter und bekommen von den Medien gleichzeitig eingebläut, dass nur ein extrem schlanker Mensch schön und erfolgreich ist. Also geht man an all dem Überfluss vorbei und gönnt sich nur noch light Produkte und klagt jedem traurig: Nein, bitte keinen Kuchen für mich, ich bin auf Diät. Und woanders verhungern die Kinder. Aber ich schweife ab. Ich wollte also abnehmen, und weil ich aber gleichzeitig unmöglich auf mein leckeres Essen verzichten mochte, dachte ich, ich versuche es mal mit Muskelaufbau. Deswegen hatte ich die Hanteln gekauft.

Ich kann nicht sagen, dass ich in dem Augenblick, als er auf das Gebüsch zueilte, um das Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren, einen Plan fasste. Oder, dass mir irgendeine Stimme etwas zuflüsterte. Ich reagierte einfach. Ich zog eine von den Hanteln aus dem Leinenbeutel. Sie war klein und mit blauem Plastik überzogen. Er kam weiter auf mich zu. Ich bin Linkshänder, also nahm ich die Hantel in die linke Hand und hielt den Einkaufsbeutel in der Rechten. Es ging alles so schnell … Er kam auf mich zu, die Augen weit aufgerissen, er ging immer schneller, weil er das Mädchen zu verlieren drohte … ich erinnere mich genau an ihn. Er trug eine blaue Jacke und Jeans, auf dem Kopf eine Baseballkappe … ich glaube, er war nicht älter als Mitte dreißig. Eigentlich sah er sympathisch aus, wie jemand, den man nach der Uhrzeit fragt oder wie man am besten zum Hauptbahnhof kommt. Ich warf einen Blick auf seine Jeans. Da war eine Beule nahe seiner linken Hosentasche. Und ein kleiner feuchter Fleck. Wenn ich vorher noch gezögert hätte, jetzt nicht mehr. Er kam an mir vorbei, sah mich da stehen, erschrak – und ich schlug zu. Ich war damals alles andere als ein Profi. Ich hätte ihn besser an der Schläfe getroffen, aber die Hantel erwischte ihn etwas dahinter, mehr schon am Hinterkopf. Er keuchte kurz etwas, das wie ein überraschtes „Öhh?“, klang, und wich instinktiv nach rechts aus, weg von mir, und hob gleichzeitig den Arm vors Gesicht. Da schlug ich noch mal zu. Und da ging er zu Boden. Und ich dachte den einzigen klaren Gedanken, den ich während der ganzen Sache hatte: Ich will nicht, dass er wieder aufsteht.

Ich sah mich um, aber der Park war noch immer leer. Und da war das Gebüsch. Nicht nur neben mir, auch hinter mir. Denn dahinter fängt gleich der Schildescher Friedhof an. Und das war natürlich ungeheuer passend.

Erstaunt stellte ich fest, dass ich immer noch die Einkaufstasche umklammert hielt, und ließ sie fallen. Dann nahm ich seine Füße und zog. Er war ein ziemlich schlanker Mann, aber so leblos war er schwer wie ein Sack voll Blei. Vielleicht war er auch schon tot von dem zweiten Schlag, dachte ich. Jedenfalls zerrte ich ihn in das Gebüsch hinter mir und zog ihm das T-Shirt aus, denn das war weiß und leuchtete förmlich durch die Zweige. Und das Risiko war groß, dass ihn jemand fand. Der Park war zwar momentan relativ leer, aber der Friedhof war gut besucht. Wenn der Frühling kommt, kommen auch all die Witwen und bepflanzen die Gräber neu, stellen frische Kerzen auf und gießen und jäten und machen und tun. Ein weiteres Problem tat sich auf: Da war ein rostiger Maschendrahtzaun mitten im Gebüsch. Und die Bäume und Sträucher blühten alles andere als üppig. Wenn ich ihn hier liegen ließ, wurde er in null Komma nichts gefunden. Also ging ich auf den Friedhof und sah mich in den Kompostbehältern zu. Zum Glück hatten schon einige Omis diese Grababdeckungen für den Winter, Tannenzweige und dergleichen, da hineingeworfen. Ich nahm mir also zwei Armvoll und schlich zurück zum Gebüsch. Da hätte man mich leicht entdecken können … ich musste durch den Eingang zum Friedhof, da ist ein gusseisernes Tor, und durch das musste ich auch wieder zurück … die Arme voll mit vertrockneten Tannenzweigen. Ich war überzeigt, dass das irgendwem aufgefallen war. Aber bis heute hat sich kein Augenzeuge gemeldet. Das ist der Vorteil, wenn die Gesellschaft einen zum Wegsehen erzieht.

Ich bedeckte die Leiche mit den Tannenzweigen, vor allem die Teile, die einem ins Auge fallen konnten: Das Gesicht, die Hände … sie waren so schon hell, und ein Leichnam wird mit der Zeit noch blasser. Zudem wusste ich nicht, ob er sich irgendwie komisch verfärben würde, falls er tot war. Woher hätte ich das auch wissen sollen? Jedenfalls ging ich kein Risiko ein. Als er komplett bedeckt war, schlich ich aus dem Gebüsch heraus. Aber weiter hinten, wo ich ihn auch niedergeschlagen hatte. Da ist ja noch der große Strauch, der mich vor ihm verborgen hatte. Der schützte mich auch jetzt vor Blicken, die von weiter oben kommen konnten. Da führte ja noch ein weiterer Weg lang, und ein paar Häuser und Gärten sind da auch. Ich kam also hinter dem großen Strauch hervor, als hätte ich nichts weiter getan, als auf dem Spielplatz auf der Bank zu sitzen. Und ich hatte meinen Einkaufsbeutel wieder. Mit dem Gulasch. Und den Hanteln.

Ich ging nach Hause. Wie im Traum. Alles um mich herum war so … so surreal. Und ich hielt den Kopf krampfhaft geradeaus, als ich an dem Gebüsch vorbeikam. Aber an der Stelle, wo er lag, konnte ich nicht anders und wandte den Kopf. Mein Herz blieb einen Augenblick stehen, als ich einen Zipfel seines Ärmels sah. Ein kleiner Fleck Blau in all dem dunklen Grün und Braun der Zweige. Mein Herz blieb zwar stehen, ich aber nicht. Meine Füße trugen mich automatisch weiter. Eine alte Dame kam mir entgegen. Sie war auf dem Friedhof gewesen, hatte sich aber so sehr mit dem Gießen der Blumen beschäftigt, dass sie mich gar nicht gesehen hatte. Mein Herz schlug jetzt wie wild. Was, wenn sie etwas sah? Wenn sie den Ärmel im Gebüsch entdeckte? Es war nur ein kleiner Fetzen. Man musste schon genau wissen, wonach man suchte, um ihn zu sehen. Und so viel Müll lag überall herum, auch im Gebüsch: leere Bierflaschen, kaputt oder intakt, Getränkekartons, Eispapier. Wieso sollte jemand ihn bemerken?