Irrungen und Wirrungen Europas

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Gegenüber der Vielfalt von Träumen und Wünschen der modernen Selbstverwirklicher zeigt die politische Herrschaftselite eine gewisse wohlwollende Haltung. Das kommt allerdings nicht von ungefähr. Zunächst sind diese Menschen für die Schaffung der für den Umverteilungswahn der Politik nötigen Substanz erforderlich, und zweitens leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Ideologie der Elite und verleihen ihr die notwendige Legitimität. Ob man diese Massenmenschen als nützliche Idioten oder als Kollaborateure im Fortschritt bezeichnet, ist inhaltlich irrelevant. Die verhängnisvollste Leistung dieses Menschenschlages ist der illusorische Stallfriede, ein Zustand, den die politische Lautlosigkeit durch Vermassung der erschöpften, stressgeplagten, labilen und verunsicherten Individuen charakterisiert.

Das Credo der zeitgenössischen europäischen Politik ist der Abschied von Tradition und Religion und die Durchsetzung der Idee der Selbstverwirklichung; an der Durchsetzung der Letzteren hat der radikale Feminismus erheblich mitgewirkt. Als Aufpasser in diesem Prozess kommt die berüchtigte Political Correctness zum Zuge. Diese geistige, kulturelle und politische Befreiung der angeblich durch Tradition und Religion verführten Menschen oder jener, die sich dazu bereitwillig verleiten ließen, trägt maßgeblich zur Formung des geistigen Klimas sowohl in der ganzen Gesellschaft als auch in den kleinen Lebenskreisen wie der Familie bei, die normalerweise Träger jeder Gesellschaft sein müssten. Besonders schwer wiegt die Situation in Bezug auf Kinder. Aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Eltern und des dadurch entstandenen Zeitmangels bleibt die der natürlichen Ordnung entsprechende Erziehung der Kinder vorerst ein frommer Wunsch. Die antiautoritäre Erziehung und die kaum verständliche Schonung der Kinder vor übertriebenen Belastungen stellen eine folgenschwere Vernachlässigung der Vorbereitung der jungen Menschen auf das künftige Leben dar. Das resultiert in der Entstehung einer Gesellschaft der ewigen Kinder. Im Erwachsenenalter werden sie oft zu Hilfsbedürftigen, die einerseits als Rechtfertigung für die sozialistische Politik der Umverteilung dienen, anderseits mit ihren kontinuierlich steigenden Ansprüchen diese Politik in Schwierigkeiten bringen. Das Problem der Kinder ist also das Problem der Erwachsenen. Um sich in der Gesellschaft (ihrer Meinung nach) gut zu positionieren, denken sie nicht im Traum daran, sich dem Zeitgeist zu widersetzen. Durch den Schrei nach sozialer Verantwortung der Politik, die sich in der totalen Versorgung bei äußerst geringen Gegenleistungen widerspiegelt, werden der Wille zur alleinigen Gestaltung des eigenen Lebens gelähmt, die wahre Verantwortung umgangen und die Gefühle abgestumpft. Die Steigerung der Zahl der unerfüllten Wünsche, die man als Anspruch an Politik und Gesellschaft gelten lässt, negiert jede persönliche Verantwortung und endet mit dem Verlust der Freiheit.

Der Staat übernimmt auch solche Aufgaben, für die er weder zuständig noch geeignet ist, wie zum Beispiel die Erziehung der Kinder. Die Politik der Bevormundung verstärkt die Passivität der Bevölkerung. Im Zeitalter des Relativismus und der strengen zivilreligiösen Einseitigkeit meidet man unzensierte Wege. Die zeitgenössische Kultur des Ephemeren und Temporären duldet nur einen Vertrag auf begrenzte Zeit. Das unbekannte Morgen macht Angst, genauso die wahre Freiheit. Die herrschende Mentalität der Halbreifen in der heutigen Gesellschaft liebt die Freiheit wie ein Minderjähriger: Alles ist erlaubt. Es ist klar, dass Verantwortung, die immer einen gewissen Verzicht in sich trägt, oft als eine ungerechte Belastung empfunden wird. Falls man dem Heranwachsenden nicht das gibt, was er will oder worauf er ein Recht zu haben meint, wird er widerspenstig, kann jedoch durch Geschenke schnell zur Räson gebracht werden. Diese in kleinen Lebenskreisen entwickelte Mentalität wurde mittlerweile auf den großen Lebenskreis übertragen, auf die Gesellschaft; zuerst wird Mama schon alles richten, später übernimmt diese Rolle Papa Staat. Bezüglich der Rolle des Staates bei der Überversorgung der in Not Geratenen – wobei betont werden muss, dass Not oft willkürlich definiert wird – sei gesagt, dass es sich dabei weder um Altruismus der herrschenden politischen Klasse noch um eine gerechte Umverteilung der Güter handelt, sondern ausschließlich um die Sicherstellung von Wählerstimmen. Die Tatsache, dass eine solche politische Einstellung zur Abschaffung des Leistungsprinzips führt, stört weder die Politik noch die Masse der Bevölkerung sonderlich. Hauptsache ist, es wird damit ein von beiden Seiten akzeptierter Burgfriede hergestellt. Dieser Umstand wirkt auch entsprechend auf das Verhalten des Individuums gegenüber der politischen Macht und auf die Gestaltung des gesamten heutigen politischen Klimas in der Massengesellschaft.

Im Prozess der Entstehung des konformen Verhaltens der Bevölkerung, auch dann, wenn sie mit der politischen, wirtschaftlichen und geistigkulturellen Lage nicht zufrieden oder einverstanden ist, spielt neben der Angst noch ein anderer Faktor eine wichtige Rolle: die Bequemlichkeit. Erzogen in einer Welt der wissenschaftlich-technischen Denkweise meint der Mensch in der Gesellschaft der massendemokratischen Spätmoderne, buchstäblich alles wissenschaftlich erklären zu können. Nicht nur das: Er will alles leicht haben, nicht nur die Lösung des Problems, sondern sogar das Problem selbst. Das tut er aber nicht aus Angst, weil er sozusagen von oben gezwungen wäre, sondern weil er aufgrund des weit verbreiteten allgemeinen Konformismus jede ethisch erhabene Beständigkeit als eine unerträgliche Belastung empfindet. Mancher geht dabei so weit, dass er Belastung sogar im Prinzip für eine Ungerechtigkeit hält. Er nimmt nur wahr, was er sieht oder hört; will er die Wirklichkeit nicht haben, wie sie ist, dann wird er blind und taub. Für den heutigen Massenmenschen ist die wirkliche Welt nur jene, die nach seinem persönlichen Gusto als Weltbild in seinem Kopf existiert.

Der Staatenverbund Europäische Union funktioniert auf Grundlage des Gehorsams der Bevölkerung, der durch die politische Autorität der Brüsseler Bürokratie und die Macht der repressiven Organe der Mitgliedstaaten gesichert wird. Durch das Drohpotenzial der herrschenden politischen Klasse wird der ordnungsgemäße Ablauf des Staatsgebildes sichergestellt, nicht aber die Freiheit des Einzelnen verwirklicht. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Gehorsamkeit der Menschen, die sich auf die Regeln und Gesetze des Staates bezieht, auf der Grundlage jener Werte fußt, die in den Tugenden der positiven Religionen und dem ethischen Gut der europäischen Tradition wurzeln. Das setzt aber sowohl die kulturelle Homogenität des Volkes in der EU als auch den kontinuierlichen Übergang von Tradition zu Modernität voraus. Diese Voraussetzung stellt gleichwohl das große Problem Europas dar. Es ist nämlich illusionär, über die Homogenität eines Volkes zu sinnieren, das es überhaupt nicht gibt; die Europäische Union hat zwar circa 450 Millionen Einwohner, aber keinen Europäer im nationalen Sinne. Was den Übergang zur Modernität betrifft, so muss betont werden, dass dieser eine zerstörte Brücke zwischen dem Gestern und dem Heute darstellt. Die ethische Reinheit ist keine Charakteristik der Europäischen Union. Schwächen oder Untugenden wie zum Beispiel Feigheit, Trägheit oder Egoismus werden nicht mehr als Laster, sondern als Ausdruck der Autonomie des Individuums, als autonome Moral empfunden. Diese geistig-moralische Wende mit der Autonomie des Eigennutzes an der Spitze wird von der Obrigkeit geduldet, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie für die politische Klasse ungefährlich bleibe. Die Entwicklung Europas in diesem Geiste wurde durch viele unterschiedliche Faktoren beeinflusst; ohne den wirtschaftlichen Aufschwung und die darauffolgende Ausdehnung der Sozialindustrie wäre sie in diesem Ausmaß nicht möglich.

Dieser erbärmliche Prozess ist mittlerweile so erfolgreich abgeschlossen, dass ein Aufstieg aus der zurzeit herrschenden Kultur des Relativismus und der Bequemlichkeit kaum vorstellbar ist. Die durch die Philosophie der Aufklärung und auf Grundlage der wissenschaftlich-technischen Denkweise aufgebaute westliche Gesellschaft hat es geschafft, das tägliche Leben im rein physischen Sinne weniger anstrengend zu gestalten. Der im Vergleich zur übrigen Welt recht hohe Lebensstandard des Westens trug aber zur Entstehung eines Zustandes bei, der ohne Weiteres als Zustand des niedrigen Leidensdruckes bezeichnet werden kann, in dem der Grenzwert zur Auslösung von Unzufriedenheit und Revolten ziemlich hoch liegt. Diese gute Laune hat allerdings einen stattlichen Preis: Der materielle Nachschub für den erwähnten Zustand der Langmut muss gesichert sein und ist teuer.

Im Zustand der fragilen Interdependenz, die sich primär auf die Versorgung mit materiellen Gütern bezieht, tobt ein heftiger Kampf um die Deutungshoheit bezüglich der Frage, was dabei gerecht oder ungerecht, gut oder böse, Wirklichkeit oder Fiktion ist. Der durch den Auflösungsprozess der Ganzheit, die staatliche Gängelungserziehung und die wohlfahrtsstaatliche Ausgabenpolitik erzogene Mensch der heutigen Massengesellschaft ist viel zu bequem geworden, um sich anzustrengen, die Struktur und Zusammenhänge der Wirklichkeit richtig zu analysieren und zu begreifen, um auf diese Weise der Freiheit zumindest den Boden zu bereiten. Er scheint davon überzeugt zu sein, dass es genügt, im Umfeld des gewachsenen Zusammenseins mit hohen und beständigen Prinzipien zu leben, merkt dabei aber nicht oder will nicht merken, dass er nur als ein Anonymus in einem seelenlosen, teils repräsentativen, teils administrativen System, das man Demokratie nennt beziehungsweise für solche hält, existiert. Diese Künstlichkeit verleitet den einzelnen Menschen dazu, anzunehmen, er sei zugleich Schöpfer und Geschöpf im irdischen Paradiesgarten der Freiheit. Die Bequemlichkeit wirkt aber weiter: Was ihm die Wissen vermittlenden modernen Massenmedien präsentieren, verschlingt er buchstäblich ohne jegliches Hinterfragen. Das derartig dauerhaft verfestigte Kind, für welches einst Mama alles getan hat, sieht später im Wohlfahrtsstaat den Treuhänder für seine Wünsche und Bedürfnisse. Diese Menschen, deren Lebenssinn auf materiellen Wohlstand reduziert ist, haben im wirtschaftlich-sozialen Mythos ihre Droge gefunden. Solange dieser Wohlstand nach ihrem Maßstab ausreichend vorhanden ist, sehen die in der lähmenden Bequemlichkeit eingelullten Menschen keinen Anlass für irgendeinen Zornausbruch. Auch für die Flucht aus dieser Sucht im Falle einer erheblichen Verknappung der Warenmenge braucht man eine schöpferische Idee und einen einfallsreichen Therapeuten, nämlich eine Politik der gesunden, natürlichen Ordnung, die es aber zurzeit nicht gibt. Also bleiben sie lieber bei ihrer Sedierung. Anstatt sich an die Tatsachen zu halten, genießt der moderne Massenmensch lieber sein Wunschbild der Gegenwart und Zukunft. Er spürt zwar, dass das alles irgendwie nicht stimmt, aber hat keine Kraft, um den Ketten seines träumerischen Optimismus entfliehen zu können. Die erhoffte Ewigkeit des geliebten Schlaraffenlandes ist sein zivilreligiöses Gebet. Man mag das Arrangement mit dem Bestehenden oder freiwillige Unterwerfung nennen, das Resultat für die Gesamtgesellschaft bleibt jedenfalls das gleiche.

 

2) Zusammensetzung der Gesellschaft

Die verschiedenen Versuche des Umbaus der zeitgenössischen Massengesellschaft in einen Einheitsbrei gleichartiger anonymer Massenmenschen haben nur teilweise zum Erfolg geführt. Der erwähnte Erfolg ist allerdings überwiegend auf der sogenannten apolitischen Ebene zu finden, so zum Beispiel in der Homogenisierung der Sitten und der Mode, in standardisierten Freizeitbeschäftigungen und so weiter. Trotz aller politischen Versuche, totale Gleichheit zu erlangen, bleibt die gegenwärtige Gesellschaft in sich vielfältig, was aber seitens der Politik unter den Teppich gekehrt wird. Zunächst kann man die heutige Massengesellschaft im machtpolitischen Sinne zweiteilen: in die politische Klasse und die übrige Bevölkerung. Obwohl man nach dem Zerfall des real existierenden Sozialismus und der Beseitigung der Diktaturen aller ideologischen Prägungen davon ausgegangen war, dass durch den Sieg der Demokratie der Unterschied zwischen Macht und Untertanen langsam verschwinden und sich die Freiheit ausbreiten werde, ist die Kluft zwischen der politischen Klasse und der übrigen Bevölkerung im „befreiten“ Europa keinesfalls geringer geworden, sie hat sich eher vertieft. Für die Belange dieser Abhandlung ist es von Nutzen, die zeitgenössische Massengesellschaft grob in sechs relevante Gruppen einzuordnen. Diese Teilung sollte nicht zu genau genommen werden, weil es trotz der evidenten Unterschiede häufige Verbindungen zwischen den einzelnen Gruppen (abgesehen von der Gruppe der politischen Klasse) gibt.

Die erste Gruppe stellt die herrschende gesellschaftliche Schicht dar, die unter dem Begriff politische Klasse bekannt ist und hauptsächlich aus Berufspolitikern besteht. Im Falle dieser Gruppe handelt sich um keine homogene oder kongruente Gemeinschaft, sondern um eine Schar von Menschen, deren gemeinsames Merkmal die Beschäftigung mit der Politik ist, die aber in viele Parteien gegliedert ist, die entweder miteinander koalieren oder konkurrieren und nicht selten verfeindet sind. Aufgrund ihrer politischen Willensstärke und ausgeprägten Machtbesessenheit wie auch ihrer Neigung zum Totalitarismus ist die Demokratie in der Europäischen Union zur Parteienherrschaft geworden, einer Partitokratie. Zur Mentalität der Partitokratie gehört die fortwährende Ausweitung ihres Zuständigkeitsbereiches auf Kosten der Bevölkerung. Die politische Klasse ist eng mit dem Staat verbunden und versucht, zum Zwecke der Machterhaltung alle Register zu ziehen, inklusive unaufrichtiger Methoden der Wählermanipulation. Laut der Verfassung der Europäischen Union und der Grundgesetze ihrer Mitgliedstaaten stellen die politischen Funktionäre im Staate die legitimen, in freien Wahlen gewählten Vertreter des Volkes dar, die sich aber in Wirklichkeit von diesem abkapseln und von den Interessen der Bevölkerung, des eigentlichen Souveräns, weit entfernt sind. An dieser Stelle werfen wir einen kurzen Blick auf die Aufgliederung der politischen Klasse in der EU nach Weltanschauung und Zielen.

Das EU-Parlament besteht in der Legislaturperiode 2019–2024 aus 751 Abgeordneten in mindestens sieben Fraktionen; es gibt im Parlament 180 unterschiedliche Parteien aus 28 Mitgliedstaaten. Die Europäische Volkspartei (EVP) stellt mit 182 Abgeordneten die größte Fraktion dar. Die Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D) stellt mit 154 Abgeordneten die zweitgrößte Fraktion. Die Fraktion der Liberalen, RENEW EUROPE, ist mit 108 Abgeordneten die drittstärkste Kraft im Parlament. Der Fraktion der Grünen/Europäische Freie Allianz gehören 75 Abgeordnete an. Identität und Demokratie (ID) gehören 73 Abgeordnete aus verschiedenen rechten und nationalistischen Parteien an. Die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) stellen 62 Abgeordnete. Die Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) hat 41 Abgeordnete; es gibt darüber hinaus noch 57 Abgeordnete des Europäischen Parlamentes, die keiner der erwähnten Fraktionen angehören. Ob es auch in Zukunft noch so viele Parteien im europäischen Parlament geben wird, ist unklar, da seitens der großen Parteien Versuche laufen, den kleinen Parteien durch die Einführung einer Sperrklausel den Parlamentseinzug zu verwehren. Neben den europafreundlichen Parteien, die von Anfang an die Arbeit im europäischen Parlament bestimmt haben und noch immer die parlamentarische Mehrheit bilden, verbuchen in letzter Zeit die EU-kritischen Parteien große Zuwächse, da infolge der zahlreichen Krisen europaweit das Vertrauen in die EU abgenommen hat, und das nicht nur unter der Bevölkerung, sondern auch innerhalb der politischen Klasse. Aufgrund der Unausgeglichenheit ihrer Standpunkte ist ihr Einfluss im EU-Parlament begrenzt. Ihre Bedeutung machen sie vor allem auf nationaler Ebene deutlich und geltend; ihre Einwirkung auf die Europäische Union ist daher eine indirekte.

Die zweite Gruppe besteht aus Personen, welche jene gesellschaftliche Kaste bilden, die das herrschende politische System im Wesentlichen bejaht und mit der politischen Klasse kooperiert, ohne dass sie selbst formell zur politischen Klasse gehört; viele Politikwissenschaftler betrachten diese Gruppe als Teil der politischen Klasse im weiteren Sinne. Unter den höher- und hochgebildeten Menschen, aus denen diese Gruppe zweifellos besteht, findet man viele Staatsbeamte, Angestellte im öffentlichen Dienst, leitende Funktionäre in Wohlfahrtsverbänden sowie Beschäftigte in sozialen Institutionen, die mit dem Staatsapparat zwar nur indirekt verbunden sind, jedoch ohne Weiteres zu den Profiteuren der Sozialindustrie und des politischen Systems gezählt werden können. Besonders öffentlichkeitswirksam sind die Journalisten der Massenmedien. Diese Menschen leisten dem Staate und der politischen Klasse wertvolle Dienste. Als Universitätsprofessoren, Künstler, gesellschaftspolitische Wissenschaftler, Journalisten, Lehrer oder hohe Beamte verkaufen sie dem Volk mit beinahe zauberkünstlerischer Leistung sogar die irrtümlichsten und groteskesten Ideen der herrschenden Politik als Sieg des Fortschritts. Sie entwickeln auch politische Ideen, meistens konform mit dem Zeitgeist, ohne politische Verantwortung zu übernehmen. Diese Intellektuellen denken und handeln scheinmoralisch und nutzen ihren Ruf als Gebildete, um die haltlose und zersplitterte Masse für die Ziele und den Geist der herrschenden Politik zu gewinnen. Die Zuneigung dieser Gruppe zum Geld ist evident, doch die meisten dieser Menschen verachten alles Ökonomische, weil ihre Leistung, die sich von Wirtschaftsleistung wesentlich unterscheidet, nicht einmal ein Trottel bezahlen wollte, so er denn die Wahl hätte. Die Sitze in vielen gut bezahlten Ämtern, Ausschüssen und Kommissionen haben sie nicht in einem freien und fairen Wettbewerb durch ihre Fähigkeiten erworben, sondern von der politischen Klasse erhalten, was sie entsprechend zurückzahlen müssen. Zusammen mit der politischen Klasse bilden sie in der modernen westlichen Gesellschaft den Kreis der Profiteure. Ihre Gruppe gehört zu den unerlässlichen Lakaien des herrschenden politischen Systems, zum verlängerten Arm der politischen Klasse, der dem Staate die nötigen Definitionen liefert, welche die Machthaber für ihre Legitimation in der Gesellschaft brauchen. Die verbreitete Amnesie der Bevölkerung, die durch den enormen Informationsfluss mit seinen Unmengen von falschen oder suspekten Botschaften entstanden und den Mächtigen willkommen ist, stellt die Frucht der Arbeit dieser Gruppe dar. Die politische Klasse ist mit ihr zufrieden, kontrolliert die Gruppe aber trotzdem – um die unerwünschte Entwicklung zu verhindern, dass der besagte Arm zu lang wird. Es stimmt zwar, dass sich die Beamtenschaft in der modernen westlichen Gesellschaft inzwischen ziemlich verselbstständigt hat, aber alle Institutionen, die das politische Denken gestalten und das Verhalten der Bevölkerung kontrollieren, stehen weiterhin unter politischer und staatlicher Kontrolle, etwa durch die Auswahl der hohen Beamten und die Besetzung der wichtigen Ämter. Wenn man ein Mitglied dieses Kreises wird, dann gibt es kein Zurück mehr, da jede Abweichung von der vorherrschenden Ideologie hart bestraft wird. Die auffälligste Eigenschaft dieser Gruppe ist ihre Überheblichkeit gegenüber den Untertanen, auf deren Kosten sie doch leidenschaftlich gerne lebt. In moralischer Sicht nähert sie sich dem Typus der gefallsüchtigen Schranze. Kurzum: Diese Gruppe ist eine wichtige Stütze der herrschenden politischen Macht in der Gesellschaft. Mit freiwilliger Unterwerfung hat diese Gruppe nichts am Hut, abgesehen von der Tatsache, dass sie für die Anderen den Weg dorthin vorzeichnet. Diese Intellektuellen sind in allen Ländern der Europäischen Union vertreten und beschäftigt, ihr Zentrum ist allerdings Brüssel: die berüchtigte Brüsseler Bürokratie.

Historisch am jüngsten, aber politisch sehr engagiert ist die dritte Gruppe: jene der gesellschaftlichen Minderheiten. Diese Gruppe verleiht dem geistigen, kulturellen und politischen Antlitz der Europäischen Union ihr Gepräge und stellt den wesentlichen politischen Faktor dar, der für die geistig-kulturelle und politische Diskontinuität in der Entwicklung Europas bestimmend ist. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um jede beliebige Minderheit in der Gesellschaft; damit ist nur eine Minderheit gemeint, die von der politischen Klasse als politisch korrekte Gruppe anerkannt wird. Dazu gehören niemals Menschen und Gruppen, deren Weltanschauung mit der politischen Philosophie und Ideologie der Machthaber nicht kompatibel ist. Derartige Menschen und Gruppen trifft die Quarantäne für politisch Aussätzige. Dank der Politik der positiven Diskriminierung, die ein außerordentlich wichtiges Anliegen der zeitgenössischen Politik darstellt, haben die erwähnten Minderheiten – vor allem die Homosexuellen – es geschafft, von gesellschaftlichen Randstellungen auf mächtige Positionen im kulturellen und politischen Leben der Gesellschaft voranzukommen. Positive Diskriminierung, ein Begriff aus den USA (affirmative action), bezeichnet durch die politische Klasse gedeckte Maßnahmen, welche die echte oder vermeintliche soziale Diskriminierung im Sinne einer Benachteiligung von Gruppen durch Vorteile für diese Gruppen vermindern bzw. ausgleichen sollen. Dass durch diese Maßnahmen andere negativ diskriminiert werden oder die Bereitschaft jener Menschen, die nicht zu einer der begünstigten Gruppen gehören, steigt, sich als solche auszugeben, interessiert die Verantwortlichen überhaupt nicht. Die Beziehung zwischen dieser Gruppe und der politischen Klasse ist eng und für beide Seiten vorteilhaft, sodass man von einer Interdependenz sprechen kann. Die dritte Gruppe lobt leidenschaftlich die Vielfalt der Gesellschaft, die moderne Diversity, die sich ihrer Meinung nach aus sich selbst heraus rechtfertigt. Nach den rassistischen und chauvinistischen Ausbrüchen der europäischen Vergangenheit ist der Schutz der Minderheiten verständlich und vor allem gerechtfertigt. Der Enthusiasmus in Bezug auf die Gleichheit in Vielfalt bleibt allerdings nur eine theoretische Begeisterung, da er durch seine ausgeprägte Rechthaberei eine verhängnisvolle Einseitigkeit erzeugt hat. Es ist auffällig, dass sowohl diese Gruppe als auch die politische Klasse sich als Gegner von Vorurteilen präsentieren, dies allerdings ausschließlich in eine Richtung: Ihr eigenes Vorurteil ist eine objektive Begutachtung, das Vorurteil der Anderen eine Missetat. Das politische Ziel dieser Gruppe ist die Weiterentwicklung der Gesellschaft im Sinne einer Auflösung der Mehrheit und der totalen Beseitigung der Reste der natürlichen Ordnung. Sie geht bei der Abrechnung mit Andersdenkenden äußerst hart vor und beeinflusst dadurch das Verhalten der Bevölkerung im öffentlichen Raum.

 

Die vierte Gruppe ist vielfältig, nicht leicht zu bestimmen und wird als apolitisch bezeichnet, weil der Großteil dieser Gruppe nicht aktiv am politischen Leben der Gesellschaft teilnimmt. Es muss aber betont werden, dass „apolitisch“ nicht gleich „unpolitisch“ oder „gesellschaftsverweigernd“ bedeutet. Die Gruppe ist weder an einer politisch-philosophischen Lehre noch an einem geschlossenen politischen System, sondern hauptsächlich an den wirtschaftlichen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens interessiert. Ihre Angehörigen stehen zwar dem politischen Geschehen innerhalb der Gesellschaft relativ gleichgültig gegenüber, identifizieren sich aber stark mit Materialismus und Hedonismus, den dominierenden Einstellungen in der zeitgenössischen Massengesellschaft. Sie betrachten sich sozusagen als Anhänger eines ethischen Materialismus. In Bezug auf die politische Klasse verhält sich diese Gruppe, überspitzt gesagt, opportunistisch. Die Angehörigen dieser Gruppe sind sogenannte Emporkömmlinge; manche lehnen sie ab und bezeichnen sie spöttisch als Parvenüs, nicht aber die politische Klasse, die sich ihrer Unterstützung des liberal-demokratischen Systems bewusst ist. Diese Gruppe begreift das rasende Tempo des weltweiten Wandels und stellt jene Fraktion dar, die den Glauben an einen materiellen und letztendlich auch gesellschaftlichen Aufstieg durch eigenen Fleiß nicht verloren hat. Sie passt sich an, bewegt sich im Rahmen der politischen Korrektheit und versucht, daraus einen Vorteil für sich zu ziehen. Als sicherer Verbündeter kommt sie kaum in Frage. Die vierte Gruppe besteht aus begeisterten Anhängern der Ideologie des Konsums, weswegen ihr an einer stabilen politischen Situation und geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen liegt; daher rührt ihr Opportunismus. Im Strom der modernen Massenkultur schwimmt sie sehr gut und hat wenig gegen die Ideologie der Gleichheit einzuwenden, allerdings nur auf einer massenkulturellen Ebene, keinesfalls auf der Ebene der Wirtschaft. Wenn Geld im Spiel ist, verstehen diese Menschen keinen Spaß. Sie sind glühende Befürworter des Kapitalismus; öffentliche Angelegenheiten stellen nicht ihre Lieblingsbeschäftigung dar. Im Volke werden die Angehörigen dieser Gruppe – viele von ihnen sind sogenannte Wendehälse – als Neureiche bezeichnet; sie sind die modernen europäischen Tellerwäscher, allerdings in einem sehr pejorativen Sinne. Die vierte Gruppe ist überzeugt, die Gesellschaftselite zu sein, sozusagen eine Art Überklasse. Sie neigt zu egozentrischem Verhalten, leidet an Selbstüberschätzung, verachtet Tradition und altehrwürdige Sittenordnung. Der wachsenden Dominanz des Individualismus und dem Verfall des traditionellen Familienmodells steht diese Gruppe nicht ablehnend gegenüber. Grundsätzlich ist sie der politischen Klasse nicht unwillkommen, die Sympathie währt aber nicht ewig, da die Mitläufer nach dem Ablauf der Phase ihrer Nützlichkeit ausgebootet und marginalisiert werden. Diese Gruppe stellt ein instabiles Sammelsurium von Einzelnen dar, welche untereinander weder über eine organische noch über eine institutionelle Bindung verfügen und deren Beweggründe ausschließlich in wirtschaftlichen Aspekten zu suchen sind.

Die fünfte Gruppe ist die zahlenmäßig kleinste Gruppe, deswegen allerdings nicht die unbedeutendste. Vorab ist zu sagen: Sie ist weder eine Gruppe der Opportunisten noch eine politisch korrekte Ansammlung von Jasagern; sie ist weder apolitisch noch unpolitisch. Sie ist eine durch und durch intellektuell-politische Gruppe. Die Angehörigen dieser Gruppe stellen sich den zentralen Herausforderungen der Zeit, allerdings nicht im Sinne des von den Machthabern inszenierten politisch korrekten Theaters. Diese Gruppe politisch denkender Menschen ist intellektuell stark besetzt, hat mit der Entourage und dem Wesen der bereits erwähnten Intellektuellen im Dienste der Politik jedoch überhaupt nichts gemeinsam. Intellektuelle der fünften Gruppe sind geistig redlich und betrachten die Wirklichkeit nicht durch die Brille ideologischer Zwänge. Diese Intellektuellen wollen weder schweigen noch alles hinnehmen, was die politische Klasse erdenkt, sondern ihre Meinung und ihren Unmut über die politische Lage in der Gesellschaft laut aussprechen. Die fünfte Gruppe ist ein metapolitisches Bataillon der Gegner der politischen Klasse. Diese Menschen wissen genau, dass sie dadurch das Hauptangriffsziel der berüchtigten politischen Korrektheit verkörpern und dass der Durchsetzung ihrer Visionen und Ideen zurzeit wenig Chancen eingeräumt werden können. Das lässt sie keinesfalls kleinmütig werden. Die kritischen Einlassungen dieser kleinen Schar mutiger Gegner der aktuellen Politik sollte man nicht mit dem geflüsterten Meckern der übrigen Bevölkerung verwechseln.

Obwohl das angesprochene Meckern wie fundamentale Kritik an der politischen Klasse klingt, hat es damit sehr wenig zu tun. Die meckernde Kritik stellt lediglich das trotzige Jammern eines verwöhnten Kindes dar, welches meint, von Papa und Mama zu wenig bekommen zu haben. Hinsichtlich der Entwicklung und Zukunftsgestaltung der Gesellschaft stellen die mutigen Intellektuellen trotz ihrer evidenten Unterlegenheit einen sehr wichtigen Faktor dar. Die Schwäche dieser Gruppe liegt wesentlich in ihrer mangelnden Gefolgschaft, was zwar bedauerlich, jedoch nicht überraschend ist. Mut, Selbstdisziplin und Gradlinigkeit sind herausragende Attribute dieser Gruppe, Eigenschaften, die heute eher verpönt als beliebt sind. Die Meinungsfreiheit gilt für diese Gruppe nicht immer, vor allem nicht prinzipiell, nach dem Motto Saint-Justs: Keine Freiheit den Feinden der Freiheit. Obwohl die Mehrheit der Angehörigen dieser Gruppe der inkriminierten Meinungen und Äußerungen ideologisch eher rechts steht, sind in ihr doch alle Weltanschauungen vertreten, einschließlich der linken. Sie alle kritisieren die aktuelle politische Situation, allerdings aus verschiedenen Perspektiven sowie mit unterschiedlichen Zielen und Intentionen. Als freiwillig unterwürfig lässt sich diese Gruppe keinesfalls bezeichnen.

Die mit Abstand zahlenmäßig größte ist die sechste Gruppe. Bezüglich der geistigen, kulturellen, politischen und religiösen Eigenschaften ihrer Vertreter stellt auch sie eine durch und durch diverse Gruppe dar; sie ist sozusagen eine Gruppe von Gruppen. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Tatsache, dass sie mit keiner anderen Gruppe vergleichbar ist; sie ist sozusagen die eigentliche Bevölkerung. In politischer Hinsicht kann diese Gruppe als die der Wähler bezeichnet werden, da sie aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit den entscheidenden Faktor bei den Wahlen darstellt, was für die politische Klasse sehr wichtig ist. Man findet in dieser großen Gruppe alle Arten von Menschen, von sachlichen Kritikern über unzufriedene Egoisten bis hin zu infantilen Querulanten. Es wird viel und oft kritisiert, beklagt, polemisiert und gelegentlich auch protestiert; die Bandbreite ihrer Stimmungen ist sehr groß. Es gehört zum Charakterbild dieser Gruppe, dass sie mehrheitlich die Gedanken und Ideen der vierten Gruppe versteht, sie oft heimlich aufnimmt, sich aufgrund ihrer Bequemlichkeit und ihres ordinären Materialismus jedoch ziemlich ruhig verhält. Die eigene Meinung, die oft in Richtung der mutigen Kämpfer aus der vierten Gruppe tendiert, wird verborgen. Es ist festzustellen, dass die Grenze des für die politische Elite Erträglichen fast nie übertreten wird. Dadurch wird der Anschein erweckt, es handele sich hier um die Gruppe der braven Bürger. Brav ist die Gruppe schon, aber nicht aufgrund von Zufriedenheit, sondern infolge ihrer Haltlosigkeit und Mutlosigkeit. Das ist eine Folge der Kontamination mit den modernen Untugenden. Alle sind auf Freiheit fixiert. Da der zeitgenössische Massenmensch das Denken in Dimensionen der Ganzheit verlernt hat, wird auch die Tugend der Freiheit einseitig betrachtet, fast ausschließlich im materialistisch-utilitaristischen Sinne. Obwohl die Autonomie des Einzelnen und die Gleichheit aller einander widersprechen, wird beides angestrebt, womit gesellschaftliche Konflikte vorprogrammiert sind. Diese große, zersplitterte Schar der politischen Einsiedler stellt für die herrschende politische Klasse zurzeit eine relativ leicht zu kontrollierende Masse dar, bleibt wegen ihres nicht zu unterschätzenden Veränderungspotenzials jedoch ein für alle unberechenbarer Faktor. Sie weiß sehr gut, dass die zeitgenössische Machtelite keine ernst zu nehmende politische Konkurrenz hat. Die sechste Gruppe bildet das Reservoir der Nichtwähler. Sie sucht nach Wegen des Arrangements mit der offiziellen Sittenlehre, wodurch die Machthaber einerseits den nötigen moralischen Kitt erhalten und anderseits der Weg in die geistige Sklaverei und politische Unterwerfung geebnet wird. Die Passivität der verschiedenen Vertreter dieser Gruppe ist verständlich und liegt an der Angst davor, durch unbedachtes Verhalten alles zu vermasseln. Zur herrschenden politischen Klasse pflegt sie gemeinhin keine Gefühle der Zustimmung, aber durch ihr ambivalentes Verhalten trägt sie zu deren Machterhalt nicht wenig bei. Sie gehört in keiner Weise zur politischen Klasse, was jedoch nicht bedeutet, dass sie apolitisch wäre. Ihr Politisches ist eine Mischung aus Interesse an den subtilen Fragen der politischen Anschauungen und Grundsätze sowie dem utilitaristischen Handlungsprinzip, was sich an der Diskrepanz zwischen dem privat ausgesprochenen Wort und dem öffentlichen Tun deutlich ablesen lässt. Es kann nicht geleugnet werden, dass trotz der immer größeren Unzufriedenheit mit der politischen Situation, welche die Angehörigen dieser Gruppe bei vielen Gelegenheiten unmissverständlich zeigen, die überwältigende Mehrheit der Wähler, die zu dieser Gruppe gehören, mit großer Zustimmung eben die herrschende politische Klasse wählt. Es wäre aber verkehrt, diese Art der Verhaltensschizophrenie ausschließlich mit Angst zu erklären. Die Ursachen für ein solches zwiespältiges Verhalten unserer Zeitgenossen sind vielfältig und komplex.

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