Zwischen Wüste und Meer

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Ein neues Leben beginnt

»Das ganze Leben ist ein ewiges Wiederanfangen.«

- Hugo von Hofmannsthal -

So sehr die Scheidung von meinem Mann schmerzte, so gut tat nach einiger Zeit die Freiheit. Endlich konnte ich wieder mehr oder weniger tun und lassen, was ich wollte. Ich musste niemandem Rechenschaft ablegen und konnte mich vollkommen frei bewegen. Als Erstes besuchte ich meine Freundin Jessica in Nuweiba, eine gebürtige Schweizerin, die ebenfalls mit einem Beduinen verheiratet war und schon einige Jahre länger als ich im Sinai lebte. Ich verbrachte einige schöne Tage in ihrem Camp am Meer.

Gemeinsam mit ihrem Mann besuchten wir am Ende meines Aufenthalts ihre Schwiegermutter. Sie lebte in einer wunderschönen Oase, in der Nähe von Ain Umm Ahmad. Am frühen Morgen machten wir es uns im Jeep bequem und fuhren schon bald von der asphaltierten Straße in ein Wadi. Jetzt wurde es unbequemer, denn der Geländewagen musste ein gewisses Tempo haben, um nicht im Sand steckenzubleiben. Der Ausblick entschädigte uns für die Mühen. Abwechselnde Steinformationen in allen Farbtönen von beige bis schwarz zogen sich rechts und links an dem ausgetrockneten Flussbett entlang.

Nach kurzer Zeit sahen wir das erste Wasser. Ein schmales Rinnsal sorgte für ein paar kleine Palmen am Berghang. Wir legten eine kurze Rast an einer Stelle ein, an der sich das Wasser sammelte, wuschen uns den Staub aus den Gesichtern und reckten unsere Glieder. Unsere Jungs machten sofort eine Wasserschlacht und wollten erst gar nicht wieder in den Jeep einsteigen. Eine große Tüte Chips, die ich in Nuweiba besorgt hatte, half mir, sie schnell umzustimmen. Weiter ging die Fahrt durch tiefe Schluchten über Stock und Stein. Die Jungs kreischten zwischendurch vor Vergnügen, wenn der Jeep richtig Fahrt aufnahm und dadurch sicher seinen Weg durch den teilweise vorkommenden tiefen und feinen Sand meisterte. Mousallim war ein sehr guter Fahrer.

Es ist ein atemberaubender Anblick, wenn man nach der langen Tour durch die unterschiedlichen Beigetöne plötzlich eine größere Ansammlung leuchtend grüner Palmen erblickt, die in einem herrlichen Kontrast zu den Bergen stehen. Wir hatten unser Ziel erreicht und wurden sehr herzlich begrüßt.

Mousallims Mutter war eine sehr kleine Frau mit einer leicht gebückten Haltung. Die Sonne hatte tiefe Furchen in ein Gesicht gebrannt, aus dem mich funkelnde tiefbraune Augen seit meiner Ankunft freundlich anlächelten. Jessicas Schwiegermutter hatte einen kleinen Garten angelegt und bereitete uns einen Eintopf aus frisch geernteten Zucchini und dem frisch geschlachteten Huhn, das wir mitgebracht hatten. Wir wollten ihr ein wenig zur Hand gehen, aber das ließ die Dame des Hauses natürlich nicht zu. Obwohl Jessica zur Familie gehörte, waren wir für heute ihre Gäste.

Die Behausung bestand aus zwei einfachen, aus Natursteinen gebauten Räumen mit einem Dach aus Palmblättern. Eine mannshohe Mauer aus groben Zementblöcken schützte die Bewohnerin im Winter vor dem kalten Wind. Draußen vor dem Hof waren ihre Ziegen und Schafe in ebenfalls ummauerten Gehegen untergebracht. Jessicas Schwiegermutter lebte meist allein dort, ganz abgeschieden in den Bergen. Ihr Mann war bereits verstorben und nur hin und wieder kamen ihre Kinder oder deren Frauen für ein paar Tage oder Wochen zu ihr. Ich bewunderte ihren Mut, hier die meiste Zeit allein zu verbringen, denn sie schien sehr zufrieden mit ihrer Situation.

Ich ging mit Jessica ein wenig die Gegend erkunden und wir genossen es außerordentlich, durch die hügelige unbewohnte Landschaft zu laufen und die vielen Pflanzen an den steilen Berghängen zu bewundern.

Auf dem Weg entdeckten wir ein paar reife Kapernfrüchte. Grellgelb leuchtete das Fruchtfleisch im farblichen Gegensatz zu der knallroten Schale, die bereits aufgeplatzt war. Ich pflückte eine, pustete die Ameisen, die darauf herumkrabbelten beiseite und ließ mir genüsslich das herzhaft süße Fruchtfleisch schmecken. Die kleinen, scharfen Kerne, auf die ich zwischendurch biss, ergänzten angenehm kontrastreich den erfrischenden Gaumenschmaus. Für Jessicas Familie und meine Jungs hatte der Strauch ebenfalls noch ein paar reife Früchte anzubieten. Einige Kerne spuckten wir in den Sand, damit die Pflanze die Chance behielt, sich zu vermehren. Auch einige unreife Früchte hingen noch an den Zweigen. Diese sammelten wir, um sie zurück in Nuweiba mit viel Salz und geriebenem Ziegenkäse in Wasser einzulegen. Diese salzig-säuerlich und recht scharfe Mixtur nahmen die Beduinen bei Erkältungskrankheiten, aber auch als schmackhafte Zutat zu einigen Speisen. So wurde sehr gern Maadus, ein Gericht aus Linsen und Reis damit verfeinert oder ein Schuss dem Salat zugegeben. Wenn die Kinder oder ich im Winter mal einen etwas rauen Hals gehabt hatten, war dies meine bewährte und liebste Medizin dagegen.

Ich hatte dieses Hausmittel immer parat und Jessicas Mutter zeigte uns sofort ihren eigenen Vorrat, als sie sah, was wir mitgebracht hatten.

Wir alle waren von der Hitze sehr müde und hielten nach dem Essen Siesta. Meine Kinder schliefen recht schnell ein. Die Ruhe hier oben in den Bergen war fantastisch. Weit und breit kein Laut, außer dem gelegentlichen Meckern der Ziegen. Ich selber mochte nicht schlafen. Leise nahm ich mir einen kleinen Teppich und entfernte mich etwas von dem Haus der Schwiegermutter. Ich nutzte die Zeit, um mal wieder ausgiebig zu meditieren. Das gelang mir unter diesen Umständen ganz besonders gut.

Die Stille war noch immer etwas Besonderes für mich und ich bereute mal wieder, kein Kamel mehr zu besitzen. Unsere Wüstenschiffe waren leider alle während Samirs Drogenzeit verkauft worden.

Ich meditierte zum Loslassen und da ging es vor allem um meinen Ex-Mann. Ich konnte ihm alles vergeben und positiv in meine Zukunft sehen.

Als alle anderen wieder erwachten, fühlte auch ich mich frisch, erholt und voller Tatendrang. Ich freute mich auf Dahab und mein neues Leben dort.

Etwa zwei Monate später heirateten Sahi und ich. Wenn wir nicht in einem arabischen Land gelebt hätten, wäre ich sicherlich nicht so schnell auf eine Heirat eingegangen. Aber in Ägypten ist es verboten, mit einem Mann ohne Trauschein zusammenzuwohnen. Wir unterschrieben vorerst nur ein Papier bei einem Anwalt. Eine richtige Heirat, die auch von den deutschen Ämtern anerkannt wird, ist ein sehr langwieriger Prozess und mit einem Ehefähigkeitszeugnis und einigen Fahrten nach Kairo verbunden. Für uns und die Behörden reichte der sogenannte Urfivertrag vom Anwalt.

Zur Feier lud ich nur einige meiner guten Freundinnen ein und verzichtete gern auf eine der großen beduinischen Hochzeitsfeiern. Bei den Beduinen tun sich üblicherweise einige Paare zusammen. Diese Feste sind berauschend und gehen über drei Tage. Oft finden sie in einem der umliegenden Wadis statt. Jeder, der kommen möchte, ist dazu eingeladen und daher kosten diese Feste ein Vermögen, welches wir derzeit nicht hatten. Außerdem wollten wir nicht auf solch einen Termin warten. Wir feierten daher ganz bescheiden bei Sahis Schwestern.

Schon am frühen Morgen wurden eine Ziege und ein Schaf geschlachtet. Zahlreiche Gäste aus unserer Nachbarschaft kamen mittags vorbei, aßen mit uns und überhäuften uns mit den allerbesten Wünschen.

Meine Kinder mochten Sahi und seine Familie sehr gern und wurden herzlich von ihnen in die neue Sippe integriert.

Zu meinen zwei Schwägerinnen und meiner neuen Schwiegermutter hat sich schon bald eine sehr vertraute und liebevolle Beziehung entwickelt. Ich verbrachte viel Zeit bei ihnen, während Sahi und ich nebenan unser Haus herrichteten.

Wir besorgten zuerst Holzsparren für das Dach, die Fenster und Türen. Gemeinsam bauten wir das Haus erst einmal notdürftig zusammen, damit ich die nicht mehr anfallende Miete in die Renovierung stecken konnte. Das bedeutete, ich begnügte mich anfangs mit einem Dach aus Palmwedeln, die eng aneinandergelegt und festgeschnürt wurden. Auch der Verputz der Wände musste vorerst warten.

All das machte mir rein gar nichts aus. Ich war recht anspruchslos geworden und sehr froh, wieder einen eigenen Ort zu haben. Mit der Zeit würde ich es mir schon behaglich einrichten. Der Winter, in dem es regnen könnte, war noch einige Monate entfernt. Bis dahin wollte ich Geld für ein Holzdach zusammengespart haben. Auf das Holz käme dann eine Plane und Zement. Ich hatte schon einmal viele meiner Fotos und Bücher verloren, weil Samir und ich nicht im Haus gewesen waren, als ein starker Regen alle überrascht hatte. Damals hatten wir anfangs auch solch ein Dach aus Palmwedeln gehabt. Als wir von unserem Ausflug wiederkamen, hatte eine unansehnlich dicke braune Soße aus Staub, Dreck und Wasser viele meiner Habseligkeiten unbrauchbar gemacht. Dies sollte mir nicht noch einmal passieren.

Während des Aufbaus aßen wir regelmäßig bei Sahis Schwestern und ich war dankbar, dadurch zusätzliche Zeit nutzen zu können, um an unserem Haus arbeiten zu können. Außerdem war das Essen bei meinen Schwägerinnen einfach köstlich. Sie kochten immer riesige Mengen, denn unangemeldete Gäste fanden sich dort fast täglich ein. Für das Wüstenvolk war es eine Selbstverständlichkeit jeden Besucher am Mahl teilhaben zu lassen.

Am meisten Spaß hatte ich an dem kleinen Garten. Ich besorgte mir von einem fahrenden Händler ein paar Bananenstauden und legte mir einen Gemüsegarten an. Schon nach wenigen Wochen begann es in meinem Garten zu blühen.

Die Kinder waren froh wieder in der Nähe des Meeres zu wohnen und ich konnte sie getrost mit den anderen Kindern an den Strand gehen lassen. Immer waren ein paar ältere Mädchen dabei, die mir versprachen auf meine Jungs aufzupassen. Das Meer vor dem Anwesen von Sahis Familie hatte den Vorteil, dass es dort ein sehr breites Riff gab, in dessen Mitte nur eine einzige, etwa zehn Meter breite, runde Vertiefung mit Meeressand war. Alle Beduinenkinder des Umkreises lernten darin das Schwimmen. So auch einer meiner Jungs. Das überschaubare Loch war immer so voll mit dem Nachwuchs des Dorfes, dass es unmöglich war, dort unbeobachtet zu ertrinken. Die ersten Male war ich noch mit hinunter an den Strand gegangen, aber schon bald stellte ich fest, dass ich erstens die einzige Mutter war, die sich um ihre Kinder sorgte und zweitens, dass diese Sorge vollkommen überflüssig war.

 

Glücklich und zufrieden kamen meine Jungs am frühen Abend zum Abendessen heim und waren kurz danach eingeschlafen. Im Sinai musste ich meine Kinder kein einziges Mal ins Bett schicken. Tagtäglich waren sie so müde vom Herumrennen an der frischen Luft, dass sie abends gern und vollkommen stressfrei einschliefen. Schlafengehen war für meine Jungs dort zu keiner Zeit mit diesem negativen Beigeschmack behaftet, den ich aus Deutschland kannte, wo die Kleinen nie ins Bett wollen. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Kinder kein eigenes Zimmer haben, in das man sie steckt. Hier schliefen sie meist einfach in den Vorhöfen, neben den sich unterhaltenden Erwachsenen, seelenruhig ein. Dazu kam, dass man hier sehr früh aufwachte. Wenn die Sonne aufging, wurde es schnell heiß und spätestens um sechs Uhr war die ganze Bande wach und hielt mich auf Trab.

Endlich wieder frei von den meisten Sorgen lebten wir einige Monate sehr glücklich und zufrieden.

Die einzigen Probleme waren die Schule und dass ich nach wie vor große Sehnsucht nach meiner Familie in Deutschland hatte. Vor allem nach meiner Mutter, die sich nach einer Herzoperation den langen Flug nicht mehr zutraute. Mein Sohn weigerte sich immer hartnäckiger, in die Schule zu gehen. Die Schläge nahmen nicht ab und oft war es nahezu unmöglich, Ghanem morgens zum Losgehen zu überreden. Dass seine Abneigung von Tag zu Tag stärker wurde, verstand ich natürlich, wenn er mal wieder mit Striemen auf den Händen heimkam, weil es eine Kollektivstrafe für die Jungs gegeben hatte. Ich ging nach wie vor oft in die Schule und redete mit dem Rektor, aber meine Einwände brachten immer nur kurzzeitig etwas. Eine schlimme Situation, sowohl für mein Kind als auch für mich. Und ein nicht enden wollender Kampf, den ich oft verlor. Ich wusste jedoch keinen Ausweg aus diesen fatalen Umständen .

Ich besprach mich sehr oft mit Sahi und irgendwann stimmte er zu, mit mir an den Flughafen zu kommen. Wir hofften, man würde vielleicht denken, dass Sahi der Vater meiner Kinder wäre, und mich ausreisen lassen. Mein Ziel war es, in Deutschland zu arbeiten und nur noch die Ferien im Sinai zu verbringen. Zumindest so lange, bis die Kinder die Schule beendet hatten.

Sahi war zwar traurig, dass ich gehen wollte, aber er konnte mich verstehen und hat mein Glück und das meiner Kinder über seines gestellt. Dies ist ein weit verbreiteter Charakterzug in Sahis Familie. Aida, seine älteste Schwester, war da ganz besonders. Sie kümmert sich den ganzen Tag nur um andere und schaut nahezu nie auf sich selbst. Sie scheint am glücklichsten zu sein, wenn andere sich bei ihr wohlfühlen. Ich hatte bis dato nie erlebt, dass Aida auf ihre Bedürfnisse achtete. Es war fast so, als hätte sie keine.

Ich packte ein weiteres Mal all meine Habseligkeiten, die mir besonders am Herzen lagen, zusammen und verabschiedete mich von meinen engsten Freunden. Ich sagte nicht allen Bescheid, da ich wie schon bei den früheren gescheiterten Ausreiseversuchen Angst hatte, Samirs Brüder könnten von meinen Plänen erfahren und meine Ausreise unterbinden.

Nervös fuhren wir in einem Minibus an den Flughafen. Wie zuvor, bläute ich meinen Kindern ein, nur Deutsch zu sprechen und sich bitte nicht zu streiten. Ghanem hielt sich nicht daran, denn er wollte nicht nach Deutschland und brachte seinen Unmut durch Streitereien mit mir und seinem jüngeren Bruder zum Ausdruck. Am Flughafen in Sharm el Sheikh angekommen, war ich mit meinen Nerven vollkommen am Ende, und hoffte, diesmal durch die Kontrollen irgendwie geschickt durchschlüpfen zu können. Sahi blieb draußen bei den Taxis.

Die erste Hürde des Eincheckens war genommen und wir warteten in einer langen Schlange auf die Passkontrolle. Ich hatte Glück, denn nicht ein einziger Beamter, der mich kannte, war in den zahlreichen Glaskästen, in denen die Bediensteten saßen, zu sehen. Ich versuchte, nicht allzu nervös zu wirken, als ich endlich an die Reihe kam. Der betagte Herr nahm sich meinen deutschen Pass, in dem alle meine Kinder als deutsche Staatsbürger eingetragen waren. Er fragte mich nach meinem Mann und mir wurde sehr mulmig zumute. Ich sagte ihm, dass er draußen warten würde. Der Beamte erhob sich und bat mich, ihm zu folgen. In einem Büro angelangt, forderte er mich auf, meinen Mann zu holen. Ich ging und fand Sahi vor dem Eingang in ein Gespräch verwickelt. Mit einem unguten Gefühl folgte er mir. Im Büro angekommen wollte er gerade bestätigen der Vater meiner Kinder zu sein, als ein anderer Mann in den Raum kam. Ich glaubte es nicht. Wieder ein alter Bekannter. Der Beamte, der mich schon einige Male am Ausreisen gehindert hatte. Er begrüßte mich mit einem: »Sie mal wieder, Sie wissen doch, dass Sie den Vater der Kinder mitbringen müssen und wenn ich mich recht erinnere, sitzt Ihr Mann doch nach wie vor im Gefängnis. Oder ist er frühzeitig entlassen worden?«

Das durfte doch nicht wahr sein. Und wie kann dieser Mensch so ein verflucht gutes Gedächtnis haben?

Sahi und ich sahen uns an und wussten beide, dass wir hier in einer brenzligen Lage waren.

Die beiden Beamten unterhielten sich und auch Sahi wurde befragt. Ich verstand kaum einen Satz, da ich dem ägyptischen Dialekt nicht gut folgen konnte und die Männer viele Wörter benutzten, die mir völlig unbekannt waren. Ich zitterte innerlich und hoffte ganz stark, dass Sahi die richtigen Antworten geben würde. Eine ungeheure Angst hatte mich beschlichen, meinen Mann in eine fatale Situation hineingezogen zu haben. Angestrengt versuchte ich immer wieder zu verstehen, was der Beamte fragte, aber ich verstand nur unzureichende Wortfetzen. Doch dann konnte ich mir endlich einen Reim aus Sahis Antworten machen und seinen Worten entnehmen, dass er begriffen hatte, dass meine Reise hier beendet war. Wahrheitsgemäß erzählte er dem Beamten von meiner verzwickten Lage. Der Bedienstete schlug Sahi lachend auf die Schulter und ich wurde wieder etwas ruhiger. Man sagte mir, dass sie mich auch dieses Mal nicht fliegen lassen würden. Sie könnten aber versuchen, mir ein Schreiben auszustellen, damit ich die Tickets erstattet bekäme. Das war ein faires Entgegenkommen, doch leider hinfällig, da mein last minute-Ticket nicht erstattungsfähig war. Ich hatte also wieder viel Geld, das ich hart gespart und mit Brot-und Kuchenverkauf erarbeitet hatte, verloren. Aber immerhin hatten Sahi und ich keine Schwierigkeiten bekommen. Der Beamte wollte mich zwar nicht fliegen lassen, konnte jedoch durchaus meine Lage vom rein Menschlichen her verstehen und war nicht auf Ärger aus. Ich fuhr, anstatt nach Deutschland zu fliegen, wieder mit Sahi zurück nach Dahab. Ghanem und mein Mann freuten sich sehr darüber. Nur mir wurde einmal mehr bewusst, dass ich in diesem Land gefangen war.

Familienleben

»Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen, Unglück oft durch Vernachlässigung kleiner Dinge.«

-Wilhelm Busch-

Mein Vater kam mit seiner Frau und zwei meiner Schwestern zu Besuch. Das war eine willkommene Abwechslung und tröstete mich ein wenig über die misslungene Ausreise hinweg.

Manch einer mag denken, dass ich anhaltend Urlaub im Sinai machte, aber das Gegenteil war der Fall. Auch dort musste man irgendwie Geld verdienen. Ohne Arbeitserlaubnis war es alles andere als einfach, meine drei kleinen Kinder zu versorgen. Ich arbeitete meist im Namen meines Mannes. Brot und Kuchen zu verkaufen, ging problemlos, die Schildermalerei auch, aber ich wollte gern etwas Lukrativeres machen, da ich nach wie vor meine Kinder in die internationale Schule schicken wollte, die ich mir bis dato jedoch nicht leisten konnte.

Die Tage, an denen mich meine Familie oder enge Freunde besuchten, waren aber definitiv dann auch Urlaub für mich. Da konnte ich mit gutem Gewissen alle Arbeit ruhen lassen und mich ganz auf meine Gäste konzentrieren.

Ich organisierte ein großes Festessen in der Wüste. Gemeinsam mit meiner Familie und einigen von Sahis Familienangehörigen fuhren wir in einen Wadi und bereiteten meinen Angehörigen ein opulentes Dinner mit Ziegenfleisch, frischem Brot, Salat, Gemüse und Reis inmitten der wunderschönen Wüstenlandschaft. Die Kinder waren glücklich, endlich mal wieder ausgelassen klettern zu können und ich unternahm einen langen Spaziergang mit meinem Vater durch die vielen kleinen Schluchten. Begeistert zeigte ich ihm die verschiedenen Kräuter und Pflanzen, aus denen meine Hausapotheke bestand. Es war lange her, dass mein Vater und ich Zeit hatten, allein ein paar Worte zu wechseln und ich genoss sein Dasein sehr. Ich erzählte ihm auch von dem missglückten Versuch, nach Deutschland zu kommen. In diesem Punkt konnte er mir jedoch nicht weiterhelfen. Es tat ihm sehr leid um mich und vor allem um die Schulsituation von Ghanem, das war deutlich aus seinen Worten und aus seiner Stimmung zu lesen. Recht betrübt gingen wir tiefer in die Wüste. Ich spürte, dass es meinen Vater sehr traurig machte, dass ich kein glückliches und zufriedenes Leben führte und versuchte ihn mit all den schönen Seiten, die es hier gab, zu überzeugen, dass es mir doch in vielen anderen Bereichen gut ging.

Wir schlenderten zurück in die Richtung unseres Platzes und schon von weitem hörte ich meine Jungs lauthals lachen. Sie waren an einer Wasserstelle und bespritzten sich gegenseitig mit der kühlenden Erfrischung. Ausgelassen rannten sie voreinander weg und machten ihre Späße. Das war genau das Richtige, um meinen Vater wieder auf bessere Gedanken zu bringen. Schon bald überzogen tiefe Lachfalten sein eben noch sorgenvolles Gesicht und ließen ihn meine Probleme für einen Moment vergessen.

Das Essen war fertig und wir setzten uns alle um die großen Platten auf die Erde. Die Familie hatte eigens für meinen Besuch die schönsten Teppiche mitgenommen und sogar einige Kissen, um es sich etwas gemütlicher zu machen. Meine beiden Schwestern versuchten, mit den Fingern zu essen, wie die Beduinen es taten, und hatten viel Spaß dabei. Alle waren begeistert von dem Mahl, das uns Sahis Schwestern kredenzt hatten. Herrlich satt genossen wir den Tee, der uns wie üblich nach dem Essen gereicht wurde. Ich war nie der typische Teetrinker, aber nach solch einem üppigen Essen in der Wüste tat eine Tasse des süßen Tees immer besonders gut. Fast wie ein Nachtisch beglückte er unsere Gaumen. Langsam bereiteten wir alles für die Rückfahrt vor. Ich beschloss, mit meinen Schwestern etwas vorzugehen und uns später vom Auto einsammeln zu lassen. Wir waren gerade einige Minuten unterwegs, als sich meine Idee auch schon gelohnt hatte, denn eine riesige Agame von etwa einem halben Meter Länge kreuzte mit ihrem lustigen Gang unseren Weg. Wir verfolgten sie ein wenig und bestaunten ihre wunderschönen Grüntöne, die sich bei jedem Lichteinfall ein wenig veränderten.

Meine Familienmitglieder übernachteten in ihrem Hotel in Dahab City und wir fuhren zurück ins Dorf. Als ich spät abends unter dem Himmel mit tausenden blinkender Sternen lag, fragte ich mich, ob ich mir selbst etwas vorgemacht hatte bei dem Gespräch mit meinem Vater.

War ich wirklich noch so glücklich hier?

Freiheit, das höchste Gut der Menschen. Mein höchstes Ziel schien unerreichbar. Eine heile Familie hatte ich ja mittlerweile irgendwie, aber es wurde immer offensichtlicher für mich, dass ich Sahi doch nie so tief lieben würde, wie ich anfangs gehofft hatte. Die Beduinenfrauen hatten mir oft erzählt, dass Liebe sich mit der Zeit entwickeln würde, aber zwischen Sahi und mir war nach wie vor nicht mehr als eine ganz enge Freundschaft. Mir fehlte die Leidenschaft von meiner Seite aus, die sich nicht einstellte. Das merkte natürlich auch mein Mann und ich wusste, dass er darunter litt.

›Hey, du kannst eben nicht immer alles haben wollen‹, sprach die Vernunft.

›Genau, sei doch einfach mal mit dem zufrieden, was du hast‹, wurde sie sofort von der Genügsamkeit unterstützt.

›Ja, ja‹, trotzte die Sehnsucht, ›ich werde versuchen, mich zurückzuhalten. Aber kann sie sich nicht wenigstens wieder mehr Zeit zum Malen nehmen, wenn ich schon in der Liebe solch Rückschritte machen muss?‹

 

Die Muse war beglückt: ›Eine famose Idee!‹, rief sie aus und ich nahm mir vor, in den kommenden Tagen endlich mal wieder mehr Freiraum für die Malerei zu schaffen.

Außerdem hatte die Genügsamkeit recht. Ich hatte endlich Frieden gefunden. Sahi war sehr lieb zu mir und auch mit meinen Jungs gab er sich die größte Mühe. Er war weder eifersüchtig, noch schrieb er mir in irgendeiner Weise vor, was ich zu tun oder zu lassen hatte. Er hörte mir zu und hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Sahis Familie war so hilfsbereit und zuvorkommend, wie ich es noch nie bei anderen erlebt hatte. Ich sollte glücklich und zufrieden sein.

Ich fing also wieder an zu malen und fing nebenbei an unser Badezimmer zu renovieren. Wie damals in meinem Haus am Strand wollte ich es mit Bruchfliesen verschönern und mir eine Badewanne installieren. Damit war ich, nachdem meine Familie abgereist war, gut beschäftigt und meine Gedanken kamen wieder zur Ruhe. Solange ich kreative Arbeiten verrichten konnte, war ich glücklich. Gestalterisch tätig zu sein war wie Meditation für mich. Da konnte ich ganz bei mir sein und das Gefühl, etwas Schönes und Neues zu erschaffen, gab mir Ausgeglichenheit.

Natürlich waren schon nach zwei Tagen meine Fingerkuppen, wie schon bei den letzten Aktionen mit ägyptischem Zement, offen und wund. Aber ich versuchte, den stark brennenden Schmerz zu ignorieren und zog meine Arbeit in einem durch. Danach war das Badezimmer definitiv der schönste Ort in unserem Haus. Anschließend war die Küche dran. Ich besorgte neue Regale und ließ den Boden zementieren, der vorher nur aus einer dicke Lage Kies bestanden hatte. Zur Einweihung des neuen Bodens backte ich einen leckeren Apfelkuchen. Ich liebte es, die Küchenabfälle direkt aus dem Fenster in den Trog im Ziegenstall werfen zu können und meine eigene Ziege in solch illustrer Gesellschaft zu sehen, machte mich glücklich. Meine inzwischen schon recht alte Meckerliese, die ich von Samirs Mutter zu Ghanems Geburt geschenkt bekommen hatte, fühlte sich pudelwohl in der großen Herde, die Sahis Mutter und seinen Schwestern gehörte. Da sich Ghanima, meine Schwiegermutter, so rührend um die Tiere kümmerte, überließ ich ihr gern die Milch und die Jungen meiner Ziege. Ziegen waren, wie ich feststellte, nicht meine bevorzugten Haustiere. Auch die Milch mochten meine Söhne und ich nicht wirklich gern. Sahis Mutter hatte hingegen eine ganz hinreißende Beziehung zu ihren Ziegen und Schafen. Wenn ich zu ihr ging, sah ich sie fast immer in irgendeine Beschäftigung für ihre Tiere vertieft. Mal zerstieß sie alte, harte Brötchen, welche die Beduinen von den Hotels kauften, mal fütterte sie liebevoll ein junges Schaf, dessen Mutter nicht genügend Milch hatte, mit der Flasche. Sie saß an einem schattigen Plätzchen des großen Vorhofs und zerschnitt Melonenschalen in mundgerechte Stücke oder vermischte alten Reis mit genügend Wasser. Wenn man den Ziegen den Reis ohne das vollständige Aufquellen geben würde, bekämen sie einen Blähbauch und ihnen würde zu viel Wasser entzogen werden, erklärte sie mir. Das wusste ich zwar schon, aber sie sprach eben gern über ihre geliebten Vierbeiner. Für Ghanima waren die Ziegen wie ihre eigenen Kinder. Nie zuvor und auch nicht später traf ich irgendjemanden mit solch einem großem Herzen für seine Tiere. In der Zeit, als sie eine junge Frau war, waren Ziegen eine der wenigen Einnahmequellen der Beduinenfrauen gewesen. Sie verkauften ihre Tiere oder webten große Zeltbahnen, Teppiche und Satteltaschen aus deren Haaren. Auch die Felle verarbeiteten die Frauen damals sehr häufig. Sie wurden gern als warme Teppiche für den Winter genutzt. Gegerbt und enthaart machte man aus ihnen Behälter für Wasser oder Butter. Heute werden diese traditionellen Arbeiten immer weniger ausgeführt. Man benutzt Plastikbehälter für das Wasser und gewebt wird meist nur noch von den Frauen in den Bergen, da sie dort nicht so viel Abwechslung haben, wie die Frauen in unserem großen Dorf. Für die Familien, die tief in der Wüste lebten, war es schwerer, Geld zu verdienen und so verkauften sie ihre Webarbeiten an die Familien nah der Küste, die mit Fisch oder Touristen ihren Unterhalt bestritten. Oftmals tauschten sie auch ihre Waren. Das ist auch heute noch so. Vor allem die jungen Männer fangen und trocknen gern Fisch, um ihn dann gegen schöne Satteltaschen für ihre Kamele einzutauschen. In El Arisch gibt es ebenfalls viele Frauen, die noch die Kunst des Webens aufrecht erhalten. Ihre Erzeugnisse werden durch fahrende Händler unter die Leute gebracht. Die unzähligen Souvenirläden an den Promenaden von Dahab und Sharm el Sheikh bekommen ebenfalls viele wunderschöne Webarbeiten aus El Arisch, einer Stadt im Norden des Sinai. Für das Geld, das die Frauen für ihre Ziegen und deren Produkte bekommen, kaufen sie Gold. Heute meist in Form von Armreifen oder Ohrringen. Früher erwarben sie oftmals kleine ziselierte Plättchen aus Gold und Silber, die an ihre Gesichtsschleier genäht wurden. Ich hatte gerade von einer sehr alten Frau aus den Bergen ein äußerst wertvolles und wunderschönes Exemplar dieser Schleier bekommen, um es für sie gewinnbringend zu veräußern. Es war reich verziert mit Stickereien, Steinen, Muscheln und Perlen. In einen schönen Rahmen gespannt, wurde es später zu einem edlen Wohnzimmerschmuck an der Wand meiner Freundin. Solche alten Prachtstücke fand man selten und waren daher bei den Touristen sehr beliebt.

Eines Tages bestaunte ich wieder einmal die Heilmethoden der Beduinenfrauen. Ich kam dazu, wie Ghanima einem ihrer Tiere eine Flasche Sprite zu trinken gab. Dazu schüttelte sie eine der kleinen Glasflaschen, die es in Dahab noch gab, und hielt dem Tier den Mund auf. Das Flascheninnere ergoss sich mit gehörigem Druck in den Schlund der Ziege. Ich gesellte mich später zu ihr und fragte, wofür diese Prozedur gut sei und ob tatsächlich Sprite in der Flasche gewesen wäre. Meine Schwiegermutter bejahte die Frage und erzählte mir, dass die Ziege schon einige Tage Magenprobleme hätte und die Beduinen irgendwann festgestellt hatten, dass Sprite mit Kohlensäure Linderung oder sogar vollkommene Heilung verschafft. Es schien zu stimmen, denn als ich mich zwei Tage später bei ihr erkundigte, erzählte sie mir zufrieden, dass es der Ziege wieder gut gehen würde. Einmal mehr bewunderte ich den Einfallsreichtum der Beduinen.

Anstatt meine Ziegenherde zu vergrößern, beschloss ich, mir Geflügel zuzulegen. Ungeduldig wartete ich auf den Wagen der fahrenden Händler. Ich hatte Glück, schon ein paar Tage später hörte ich den mir bekannten Ruf des Ägypters, der mit einer Glocke und lautem Ausrufen sein Herankommen kundtat. Ich ging hinaus und erstand vier Hühner und vier junge Enten. Jeweils drei Weibchen und ein Männchen. Die Enten waren noch winzige Küken und meine Kinder verliebten sich sofort in sie. Wir bauten ihnen ein Gehege neben dem Ziegenstall, in dem sie sich augenscheinlich sehr wohl fühlten.

Stückchen für Stückchen wurde mein Haus immer heimeliger und ich lernte nach und nach die Beduinenfrauen um mich herum besser kennen. Oftmals kamen sie auf ein Glas Tee bei mir vorbei oder ich ging zu ihnen. Glücklicherweise wurde ich überall wunderbar und ungezwungen in die Gemeinschaft um mich herum aufgenommen. Sahis Bruder wohnte ebenfalls in der direkten Nachbarschaft und hatte einen Sohn mit Handicap. Schon als Baby hatte er Kinderlähmung bekommen und kroch daraus resultierend die meiste Zeit auf dem Boden herum. Seine Beine hielten sein Gewicht immer nur für eine kurze Zeit. Ich nahm mich des Jungen an und half ihm, wann immer ich ihn zu Gesicht bekam, sich wieder zu erheben. Für ihn war es durchaus machbar, längere Strecken zu laufen, wenn er sich irgendwo festhalten konnte. Daher hatte ich den Einfall, ihm meinen Kinderwagen zur Verfügung zu stellen. Ich machte ihm klar, dass er seine Muskeln stärken musste, wenn er besser laufen lernen wollte. Er trainierte die nächsten Tage sehr fleißig. Es machte ihm Spaß, den Kinderwagen durch die Gegend zu schieben. Mit den großen Reifen dieses Modells kam man leicht durch den Kies und den Sand, der an den Rändern der Wege lag. Manchmal sah ich ihn von weitem, wie er sich wieder auf dem Boden bewegte, doch sobald er mich sah, hangelte er sich schnell zu einer Wand und versuchte zu gehen. Seine Freude und das Lachen in seinem Gesicht waren mir ein wunderbares Geschenk und langsam verbesserte sich sein Gang etwas. Ich traf ihn immer öfter in aufrechter Position. Diesen Jungen betreffend fand ich seine Eltern sehr pragmatisch. Sie hatten sich einfach damit abgefunden, wie ihr Sohn war und förderten ihn nicht mehr, was er meines Erachtens jedoch am nötigsten brauchte. Da für mich solch ein Verhalten unverständlich war, besprach ich mich mit ihnen. Ich glaubte, ihnen war gar nicht bewusst, dass die Situation ihres Sohnes verbessert werden konnte. Ein anderer Aspekt war, dass der Junge sich von seinen Eltern längst nicht so motivieren ließ wie von mir. Sie hatten ihm Krücken besorgt, aber wenn die Mutter ihm sagte, er solle sie benutzen, schaltete er auf stur und verzog sich einfach. Traf ich ihn allein, war er wie ausgewechselt. Ich hatte damals noch nicht so viel Erfahrung mit Kindern und wusste nicht, dass es ganz normal war, dass Kinder besser auf Außenstehende hören, als auf die eigenen Eltern.

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