Zwischen Wüste und Meer

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Würde ich diesen Ort jemals finden, oder war ich ein Mensch, der nie wirklich ankommen sollte? War ich eine ewig Suchende, die nie finden würde, wonach ihr Herz sich sehnte?

Der Trennungsprozess war mit sehr vielen Tränen und tiefem Leid verbunden, aber trotz alledem bekam ich täglich mehr Zuversicht, den richtigen Schritt gegangen zu sein.

Meine Schwiegereltern waren zu Besuch bei Samirs Bruder und Hadia, meine Schwiegermutter, kam am Nachmittag zu mir an den Strand. Sie hatte von meiner Schwägerin erfahren, dass ich ausziehen wollte und so kamen wir recht schnell auf dieses Thema zu sprechen. Hadia versuchte noch, mich umzustimmen, aber merkte schnell, wie entschlossen ich war. Ich fragte sie, ob sie mir garantieren könne, dass ihre anderen Söhne das Haus und das Land nicht selber nutzen wollten. Das konnte sie wie erwartet natürlich nicht. Auch sie hatte von den Plänen der Brüder gehört. Traurig nahm sie meine Entscheidung hin, versicherte mir aber, dass sich an unserem Verhältnis nichts ändern und sie mich nach wie vor wie ihre eigene Tochter ansehen würde. Ich war sehr erleichtert über ihr Verständnis und nahm sie unendlich dankbar in meine Arme. Sie versprach mir, mit ihrem Mann zu sprechen, den ich am nächsten Tag besuchen wollte.

Als ich bei Sabeiha, meiner Schwägerin eintraf, saßen dort mein Schwiegervater und drei seiner Söhne am Feuer. Ich ging vorerst ins Haus und begrüßte Sabeiha und ihre Mädchen. Mona erzählte mir von den Vorkommnissen in der Schule und ihre ältere Schwester berichtete mir stolz, dass sie vorhabe, in Kairo zu studieren. Sie wollte unbedingt Lehrerin werden. Ich sagte meiner Schwägerin, wie klasse ich es finden würde, dass sie den Mädels das Lernen so ans Herz gelegt hatte. Ich spähte durch das Küchenfenster nach draußen. Noch immer waren die Männer in Gespräche vertieft. Ich trank mit den Mädchen ein Glas Tee und sie erzählten farbenfroh von den Plänen ihrer Zukunft. Meine Nichten machten mir Hoffnung für die Frauen dieses Landes. Sie wussten, was sie wollten und auf meine Frage hin, was sie machen würden, wenn ihr Mann dagegen wäre, dass sie später arbeiten, antworteten beide fast gleichzeitig dasselbe: »So einen heiraten wir erst gar nicht«.

Endlich hörte ich, wie zwei von Samirs Brüdern sich verabschiedeten. Jetzt war nur noch Aude, der jüngste Bruder dort. Er war noch ein Jugendlicher und so konnte ich ihn bitten, mich mit seinem Vater alleinzulassen. Ehrfürchtig begrüßte ich den betagten Mann, indem ich ihm meine rechte Hand gab. Mit der anderen Hand drückte ich ihn sachte an der Schulter nach unten, um ihm zu suggerieren, dass er ruhig sitzen bleiben sollte. Normalerweise erheben sich die Beduinen, wenn sie jemanden begrüßen. Doch Samirs Vater hatte schmerzende Gelenke und war sichtlich froh, dass ich ihm suggerierte ruhig sitzen zu bleiben. Ich setzte mich neben ihn auf die am Feuer ausgelegten bunten Teppiche und erzählte ihm von meinem Vorhaben. In einem langen und traurigen Gespräch gab er mir schlussendlich und notgedrungen seinen Segen für meine Entscheidung, auch wenn ihn dies sichtliche Überwindung kostete. Die herbe Enttäuschung über seinen Sohn und die damit verbundenen Umstände machten ihm genauso schwer zu schaffen, wie uns allen. Das konnte man deutlich in seinem verzweifelten Gesichtsausdruck lesen.

Ich war nach diesen zwei Tagen, in denen ich viel Zeit mit der Familie verbracht hatte, unsagbar zornig auf meinen Mann. Denn wieder einmal wurde mir von allen Seiten gespiegelt, wie viel Leid Samir über seine und unsere Familie gebracht hatte. Alle waren verzweifelt und hoffnungslos. Über allen Gesprächen hing eine große dunkle Wolke der Traurigkeit und des Unverständnisses.

Wieder einmal saß ich am Strand und schaute meinen Kindern beim Spielen mit der neuen Schaukel, die ich aufgehängt hatte, zu. Sie lachten herzhaft und ich fragte mich, wann ich endlich wieder so ausgelassen mitlachen würde. Mir war klar, dass ich, solange ich in Samirs Drama gefangen war, mir dies nur selten erlauben würde. Mein Unterbewusstsein schickte mir immer mehr Situationen, die mir sehr deutlich machten, mit der angestrebten Scheidung den richtigen Weg zu gehen.

Samir hatte gerade Halbzeit im Gefängnis, als ich den ersten Pick-up belud, um in meine neue Zukunft umzusiedeln. Noch eineinhalb Jahre hatte ich jetzt Zeit, mir zu überlegen, wie ich es schaffen konnte, dass Samir mir nicht, wie er angekündigt hatte, die Kinder wegnahm. Ich hatte lange nicht mehr meditiert und setzte mich am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang in den groben Kies, schaute auf die Berge von Saudi Arabien und versank mit den Wellenbewegungen des Meeres in eine Vision einer glücklichen Zukunft für uns alle.

Gedanken kamen auf: ›Es findet sich sicher ein Weg‹, versuchte die Zuversicht, mich zu trösten.

›Ganz sicher gibt es eine Lösung‹, untermauerte die Hoffnung und der Glaube sprach ein ruhiges und liebevolles: ›Vertraue!‹

Am Nachmittag kamen zwei meiner europäischen Freundinnen mit ihren Töchtern. Auch sie gaben mir die nötige Unterstützung in meiner Entscheidung.

Als ich gerade die Spielsachen der Kinder unter unserer Arischa zusammenräumte, hielt ich für einen Moment überrascht die Luft an. Ich spürte, dass mich jemand beobachtete.

»Hey!«, ertönte hinter mir eine mir wohlbekannte Stimme.

Ich drehte mich um und sah Sahi auf mich zukommen.

Sahi war der erste Beduine, den ich näher kennengelernt hatte. In meinen Urlauben auf dem Sinai hatte ich immer viel Zeit mit ihm verbracht und er hatte mir beim Kauf meines ersten Kamels geholfen. Ich hatte ihn damals immer meinen kleinen Bruder genannt und großes Vertrauen zu ihm entwickelt. Er war mein bester Freund gewesen bis ich Samir geheiratet hatte.

Meinem Mann war Sahi immer ein Dorn im Auge gewesen. Da es jedes Mal fürchterlichen Streit mit Samir gegeben hatte, wenn Sahi irgendwo aufgetaucht war, hatten wir irgendwann unseren Kontakt gänzlich abgebrochen. Seine Freundschaft hatte mir die letzten Jahre sehr gefehlt.

Ich war unendlich froh, ihn zu sehen. Freudig überrascht sprang ich auf und umarmte ihn stürmisch. Auch ihm war seine Freude, mich zu treffen, deutlich anzusehen.

Ich ging ins Haus und machte uns Kaffee. Schon früher war Sahi einer der wenigen Beduinen gewesen, der auf die Frage: »Tee oder Kaffee«?, immer unüblicherweise »Kaffee« geantwortet hatte. Sahi folgte mir und sofort unterhielten wir uns sehr vertraut über alles, was bei uns die letzten Jahre passiert war.

Irgendwann erzählte ich Sahi auch, dass ich mich von Samir scheiden lassen würde. Seine Freude darüber war ganz deutlich und dies brachte er auch verbal zum Ausdruck. Er vergaß natürlich nicht, zu erwähnen, dass er mich schon damals vor Samir gewarnt hatte. Aber er war andererseits sehr mitfühlend und konnte meine Sorge um meine Kinder durchaus verstehen. Er versprach, sich für mich umzuhören, was ich machen könnte.

Von diesem Tag an schaute Sahi immer mal bei mir rein und ich war froh, endlich wieder eine männliche Person bei den Beduinen zu haben, der ich voll und ganz vertrauen konnte. Sahi war zwar der unzuverlässigste Mensch, den ich je in meinem Leben traf, aber dafür der, zu dem ich bis heute das größte Vertrauen hege, denn wir sind nach wie vor allerbeste Freunde und ich bin mir sicher, dass nichts und niemand das jemals ändern kann.

Noch ein letztes Mal meditierte ich morgens an meinem geliebten Strand und packte nachmittags die letzten Habseligkeiten auf den Wagen. Ich fragte mich erneut, ob ich auch wirklich das Richtige tue. Es tat unbeschreiblich weh, dieses Haus zu verlassen. Solch einen wunderschönen Platz würde ich vielleicht nie wieder besitzen.

Meine Kinder riefen mich und drängten zum Aufbruch. Sie durften hinten auf der Ladefläche mitfahren. Welches Kind liebt das nicht? Sie nahmen es leicht, das war gut. Ich setzte mich mit Soliman neben den Fahrer nach vorn und biss mir auf die Lippen. Erst abends, als die Kinder schliefen, weinte ich bitterlich über den Verlust meines Hauses.

Aus der Traum

»Am Ende gilt doch nur, was wir getan und gelebt-und nicht, was wir ersehnt haben.«

- Arthur Schnitzler -

Das Haus meiner Bekannten war um einiges kleiner als unser Haus am Strand und ich hatte große Probleme, all unser Hab und Gut dort unterzubringen. Ich erinnerte mich, welch befreiendes Gefühl es gewesen war, als ich noch alles, was ich besaß, auf mein Kamel packen konnte. Aber nun hatte ich Kinder und die brauchten Bücher, Spielzeug und jede Menge anderer Sachen. Fließend Wasser wie in meinem Haus gab es auch keines. Ich merkte von Tag zu Tag mehr, dass ich einen großen Rückschritt gemacht hatte, was meine Wut über meinen Mann nochmals verstärkte. Der einzige Vorteil war, dass ich etwas relaxter mit meinen Kindern war. Denn dieses Anwesen hatte eine hohe und alles einfassende Mauer. Ich musste nicht ständig aufpassen, dass einer meiner Söhne allein ans Meer ging.

Einmal war ich im alten Haus beinahe vor Angst wahnsinnig geworden. Ich hatte mich mit Soliman ins Zimmer gelegt, um ihn zu stillen. Ghanem hatte im Vorhof mit Salama gespielt, der jedoch nach kurzer Zeit zu uns kam und sich neben uns legte. Es war ein sehr heißer Tag und Salama schlief schneller ein als Soliman. Als der Kleinste endlich ebenfalls tief und fest eingeschlummert war, schaute ich nach Ghanem, der mir verdächtig ruhig war. Doch Ghanem war verschwunden. Ich rief nach ihm und suchte ihn überall. Für einen Moment dachte ich, er würde sich einen Scherz mit mir erlauben und sich irgendwo verstecken. Ich rief laut, dass dies kein Spaß mehr sei und er herauskommen solle. Er kam nicht. In der Küche stand die Tür nach draußen einen Spalt offen und ich bekam Panik, dass er sich allein herausgeschlichen hatte. Ich suchte den Strand ab. Aber auch da war er nicht. Gerade kam ein mir bekanntes Beduinenmädchen vorbei. Ich fragte sie, ob sie Ghanem gesehen hätte. Sie verneinte. Ich bat sie, kurz hineinzugehen und auf meine Kinder zu schauen, was sie hilfsbereit und zu meiner Freude sofort tat. Ich lief in den kleinen Supermarkt auf der Straße, aber auch dort hatte man meinen Sohn nicht gesehen. Langsam stieg Panik in mir auf. Ich hatte unglaubliche Angst, dass er ins Meer gegangen war und suchte verzweifelt weiter. Ich fragte alle in meiner näheren Umgebung, aber niemand hatte ihn gesehen. Ich war jetzt schon eine halbe Stunde unterwegs und mittlerweile waren wir ein kleiner Suchtrupp geworden, aber wirklich niemand hatte ihn zu Gesicht bekommen an diesem Tag. Keine Spur von ihm weit und breit. Ich lief wieder runter in mein Haus, um nach meinen anderen Kindern zu sehen. Schon als ich durch die Tür trat, fiel mir der große Teppich auf, der immer zusammengerollt an der Hausmauer lag und nur ausgebreitet wurde, wenn viele Gäste kamen. Er war außergewöhnlich dick. Ich schaute ihn genauer an und entdeckte meinen Sohn Ghanem im Inneren. Seelenruhig schlief er voll und ganz in den Teppich eingerollt. Ich brach weinend zusammen. Unendliche Freude trieb mir Tränen der Erleichterung in die Augen.

 

›Unfassbar, auf was für Ideen, diese kleinen Racker kommen‹, resümierte der Verstand das Geschehene.

Ich sagte schnell allen anderen Bescheid, dass ich ihn gefunden hatte. Keiner konnte verstehen, wie er sich in der Mittagshitze in diesen in der Sonne liegenden Teppich hatte einrollen können. Kopfschüttelnd lachten und scherzten alle über meinen Sohn.

Ich verkaufte nach wie vor Kuchen und Brot an die Touristen. Die Arbeit füllte mich aber nicht aus wie zuvor. Vieles machte mir nicht mehr allzu große Freude und ich spürte immer stärker, dass mich der Verlust unserer heilen Familie immens stark getroffen hatte. Zudem hatte ich Haus und Hof verloren und stürzte in eine leichte Depression. Wieder Miete zu zahlen war eine monatliche Belastung, die ich lange nicht mehr gehabt hatte.

In Assala, ziemlich weit hinten im Dorf, fühlte ich mich zudem nicht wirklich wohl. Ghanem konnte nicht mehr allein zu seinen Freunden oder der Familie gehen und wenn wir nun ans Meer wollten, musste man einen richtigen Ausflug planen. Meine Freunde bekam ich immer seltener zu Gesicht, da meine Wohnstätte im Dorf nicht annähernd so anziehend war wie unsere Arischa, der selbst gebaute riesige Sonnenschirm aus Palmzweigen, direkt am Strand.

Allein Sahi kam regelmäßig. Es war sehr vertraut mit ihm und eines Tages sagte er mir, dass er die perfekte Lösung für mein Problem mit den Kindern hätte: Ich solle ihn heiraten.

Ich war nicht verwundert über seinen Vorschlag, denn Sahi liebte mich schon, seit ich ihn kannte. Damals war er mir zu jung und unzuverlässig gewesen, um seinem Begehren nachzugeben. Ich hatte ihn zwar immer sehr lieb gehabt, aber nie wirklich geliebt. Seinerzeit entschied ich mich, trotz Sahis deutlicher Annäherungsversuche für Samir, der mich vom ersten Moment an verzaubert hatte. Samir war, genau wie ich, sehr aktiv gewesen und hatte große Ziele im Leben gehabt.

Sahi erklärte, dass ich mir meiner Kinder sicher sein könnte, wenn ich unter dem Schutz seiner Familie stehen würde. Sowohl Sahis als auch Samirs großer Bruder waren hoch angesehene Mitglieder von ein und demselben Stamm, aber von verschiedenen Familienclans. Beide hatten darin eine Vorstandsfunktion inne und würden alles daran setzen, keinen Streit zwischen den Familien aufkommen zu lassen. Nach einer Heirat würde Sahis Sippe seiner Aussage nach dafür sorgen, dass Samir nichts tun würde, das die Parteien in Zwietracht bringen könnte.

Ich sagte Sahi, dass ich darüber nachdenken würde.

Als ich abends im Bett lag und mir über Sahis Angebot Gedanken machte, wurde dieser, zuerst als absurde Idee angesehene Vorschlag von ihm, immer denkbarer. Da ich zudem die Rückendeckung von Samirs Eltern hatte, war dies durchaus ein Plan, der klappen könnte. Ich wusste zudem, dass die beiden großen Brüder befreundet waren.

Ich hatte Sahi wirklich gern und mochte es sehr, wenn er um mich herum war. Ich liebte ihn zwar nicht, aber er war schon immer mehr als ein guter Freund gewesen. Ich hatte ihm von Anfang an alles anvertrauen können. Außerdem mochte ich auch seine Familie sehr gern.

Meine Liebe gehörte nach wie vor Samir, aber dem Samir, der keine Drogen nahm und der nicht all die Dinge getan hatte, die mich zum Auszug aus unserem Haus und zu der Entscheidung, mich von ihm scheiden zu lassen, veranlasst hatte. Den Samir gab es aber nicht mehr. Und den Samir würde es auch nie wieder geben. Selbst wenn mein Mann doch unerwarteterweise je den Drogenkonsum unterlassen könnte, wäre er nicht mehr der Mann, der er einst gewesen war. Es war einfach zu viel kaputt gegangen in den letzten Jahren. Ich hatte jegliches Vertrauen in ihn verloren.

Und genau dieses Vertrauen gab Sahi mir jetzt. Er war da und wollte an meiner Seite sein. Ich hatte ihn lieb und verbrachte gern Zeit mit ihm. Ich wusste, Sahi würde mir nie meine Freiheit nehmen und mir auch keine Eifersuchtsszenen wie Samir machen. Dafür war er einfach nicht der Typ.

Je mehr ich über seinen Vorschlag in den nächsten Tagen nachdachte, desto besser gefiel er mir.

Sahi lud mich einige Male zu seiner Familie zum Essen ein und auch dort fühlte ich mich so gut, wie schon bei den ersten Besuchen. Vor allem die Frauen dort mochte ich sehr gern. Sahi hatte vor einigen Jahren angefangen, sich ein Haus direkt gegenüber dem Anwesen seiner Schwestern zu bauen. Dies zeigte er mir und bot mir an, dort jederzeit einziehen zu können. Es musste noch viel gemacht werden in dem Haus. Bisher war es nur ein solides Fundament mit Mauern, die die einzelnen Zimmer abtrennten. Fenster und ein Dach fehlten noch. Aber es war ein Haus mit Potenzial. Ein Ziegenstall und ein kleiner Garten waren auch vorhanden. Bis zum Meer waren es zwei Minuten.

Sahi zog ein weiteres Ass aus dem Ärmel und ging mit mir in den großen Garten der Familie. Dies war ein riesiges Grundstück direkt am Meer mit unzähligen Dattelpalmen. Ich hatte mich schon damals, als ich noch Touristin war, in dieses Stückchen Paradies verliebt und Sahi bot mir nun an, dass wir dort ein Restaurant errichten könnten.

Es war alles immens verlockend.

›Aber du liebst ihn nicht‹, sprach die Sehnsucht.

›Ich will auch gar nicht mehr zum Vorschein kommen‹, erwiderte die Liebe, ›das ist alles viel zu verletzend für euch alle. Ihr anderen Gefühle habt so gelitten in den letzten Jahren. Ohne meine Fixierung auf einen Mann geht es euch doch viel besser. Ich gebe das ein für alle Mal auf und sehe es als einen Traum, der nur selten im Leben gewährt wird und nun einfach dahin ist. Ich beschränke mich auf die Kinder und das Dasein an sich. Sehe alle die kleinen Schönheiten des Alltags und erfreue mich daran. Mein großer Auftritt war einmal und kommt vielleicht nie wieder.‹

Der Verstand meldete sich ebenfalls zu Wort und alle anderen Gefühle lauschten gebannt seiner Argumentation: ›Ich denke auch, dass dieser Vorschlag eine richtig gute Idee ist. Die Liebe bringt zwar oft wunderschöne, unübertreffliche und bezaubernde Gefühle, aber in unserem Fall während der letzten Jahre mehr Leid als alles andere. Schaut doch, wo diese Liebe sie hingeführt hat. Sie sitzt mit drei kleinen Kindern ohne verfügbaren Vater in einem fremden Land fest, in dem sie keine Arbeitserlaubnis bekommt, wenn sie keine feste Anstellung in Aussicht hat. Nach Deutschland kann sie ohne die nötigen Papiere ihres Mannes auch nicht. Samirs Liebe war längst nicht so allumfassend, wie sie hätte sein sollen. Viel zu viel vom Ego geleitet, anstatt für Frau und Kinder nur das Beste zu wollen. Seine Liebe war von Anfang an zu stark von Macht- und Besitzdenken durchzogen. Zwei Attribute, mit denen wir noch nie wirklich umgehen konnten und die uns einfach viel zu sehr einschränken. Ich denke Sahi wäre genau der Richtige für sie. Er liebt sie von Herzen, das wissen wir alle, und er würde ihr keinen einzigen Wunsch versagen. Auch das wissen wir.‹

›Ja, genau!‹, bestärkte sie der Freiheitsdrang. ›Sahi ist wohl einer der wenigen muslimischen Männer, der uns genügend Freiraum einräumen könnte, damit wir uns hier richtig wohlfühlen können.‹

Der Pragmatismus ergänzte: ›Zumindest würde Sahis Familie gut auf sie aufpassen. Sie hätte wieder ein Haus und auch die Möglichkeit, zu arbeiten.‹

›Ich glaube es kaum‹, sagte der Verstand, ›sollte ich tatsächlich das erste Mal in unserem Dasein als Gewinner über die Liebe und die Sehnsucht aus dieser Diskussion hervorgehen?‹

›Von mir aus‹, erwiderte die Liebe, ›ich gebe auf.‹

Die Sehnsucht wollte zu sprechen ansetzen, aber sie war mit all den anderen Gefühlen tief genug verbunden um zu spüren, dass sie mit ihrem Bestreben nach der großen Liebe allein auf weiter Flur stand. Niemand glaubte mehr an die Erfüllung ihrer Wünsche und hätte sich mit ihr auf eine Seite gestellt.

Sahi kam unterdessen fast täglich bei mir vorbei und ich genoss es sehr, Zeit mit ihm zu verbringen. Ich lernte ihn immer besser kennen, da mein Arabisch mittlerweile richtig gut war. Wir sprachen über alle Themen, die uns auf dem Herzen lagen.

Ein paar Monate später fragte ich Sahi in einem ernsten Gespräch, ob er wirklich mit voller Überzeugung hinter seinem Vorschlag, mich heiraten zu wollen, stand. Zudem wollte ich wissen, ob er mir versprechen könnte, meine Kinder zu achten. Als er beides bejahte, lachte ich ihn an, nahm ihn in den Arm und wir küssten uns. Es war nicht dieses feurige Prickeln, das ich damals bei Samir verspürt hatte, aber doch wunderschön und bewegte mich mehr als erwartet. Ich hatte ihn schon immer sehr lieb gehabt und hoffte, ihn eines Tages richtig tief lieben zu können.

Dann tat ich jedoch etwas, das wieder einmal zeigte, wie wichtig es ist, dass man sich wirklich mit allen Traditionen eines Landes vertraut machen sollte, bevor man handelt. Denn einige Tage später ging ich zu Samirs großem Bruder und sagte ihm, ich würde mich von Samir scheiden lassen, da ich Sahi heiraten wolle.

Als ich Sahi abends freudig darüber berichtete, veränderte sich sein sonst so gelassener Gesichtsausdruck schlagartig. Stammelnd fragte er mich, ob ich von allen guten Geistern verlassen wäre. Ich wäre immer noch Samirs Frau und bevor ich nicht geschieden wäre, hätte niemand von Samirs Familie von unseren Plänen erfahren dürfen. Jetzt würde sein Clan vielleicht denken, wir wären Ehebrecher. Das waren wir streng genommen schon bei diesem einen Kuss. Samirs Familie hatte damit das Recht, Wiedergutmachung zu verlangen.

Das war tatsächlich ein grober Fehler gewesen.

Schon zwei Tage später kam einer von Samirs Brüdern und fragte mich über meine Beziehung zu Sahi sehr detailliert aus. Ich spürte deutlich, sehr unüberlegt und vorschnell gehandelt zu haben.

Sahi sagte mir am nächsten Tag, dass wir uns bis zu meiner Scheidung jetzt nur noch in der Öffentlichkeit treffen könnten und ungemein vorsichtig sein müssten. Nach beduinischem Recht hätte Samirs Familie uns beide bei einem nachgewiesenen Ehebruch sogar töten dürfen. Solche Methoden waren zwar inzwischen nicht mehr üblich, doch nach dem Brauch der Wüstenbewohner völlig legitim und von allen Seiten respektiert. Meist kam es in solchen Fällen aber eher zu einem Abkommen der beiden betroffenen Familien und wurde mit Geld bereinigt. Diese Summen waren zum Teil so hoch, dass den Familien schwere Jahre bevorstanden und sie ihren Stolz im Stamm verminderten.

Was hatte ich bloß getan?

Sahi bekam großen Ärger mit seinen Brüdern. Sie wussten von uns, aber dachten, wir würden unsere Pläne bis zu meiner Scheidung von Samir geheim halten. Alle spotteten über die Dummheit seiner europäischen Auserwählten und fragten ihn mehrmals, ob er sich das mit der Hochzeit auch reiflich überlegt hätte.

Doch Sahi stand zu mir wie ein Fels in der Brandung und half mir, genügend Geld aufzubringen, um mich ein letztes Mal auf den weiten Weg nach Wadi Natrun aufzumachen.

Mir graute davor, meinem Mann, der dort in Haft saß, zusätzlichen Schmerz zu bereiten. Aber es ging nicht anders. Ich wollte wieder leben, wieder lachen, wieder eine Zukunft haben und vor allem endlich wieder glücklich sein.

Nicht zuletzt hoffte ich, vielleicht doch diese heile Familie zu finden, nach der ich immer suchte. Diesen starken Verbund, den ich damals in Sahis Familie bewundert hatte, als ich noch Touristin war.

 

Ich machte mir auf der zehn Stunden andauernden Fahrt sehr viele Gedanken, wie mein Mann es wohl aufnehmen würde, dass ich mich scheiden lassen wollte. Ich hoffte sehr auf sein Verständnis und seine Zustimmung.

Nach ägyptischem Recht konnte auch ich die Scheidung einreichen, aber einfacher war es, wenn Samir mich verstoßen würde. Ich hoffte, dies könne er schriftlich festlegen.

Die Fahrt zog sich endlos durch die mir heute trostlos erscheinende Wüste. Ihre Schönheit konnte ich durch meine angespannte Gemütsverfassung nicht richtig wahrnehmen. Auch als wir den Suezkanal durchquert hatten und ins Delta fuhren, blieben die grünen Landstriche, die in diesem fruchtbaren Gebiet üppig erblühten, von mir unbeachtet. Ich war in dem mir bevorstehenden Ereignis vollkommen gefangen und konnte an nichts anderes denken.

Als wir im Gefängnis eintrafen und ich mich zusammen mit Mohammed, meinem Fahrer und Vertrauten, erkundigte, verbot man mir, einen Stift mit hineinzunehmen. Ebenso war es nicht erlaubt, dass Samir Schriftstücke, in welcher Form auch immer, unterzeichnete.

Ich beriet mich mit Mohammed und wir kamen auf die Idee, hier jemanden als zweiten Zeugen zu suchen, wenn Samir der Scheidung, wie gehofft, zustimmen sollte.

Wie damals, als ich Samir das erste Mal besucht hatte, mussten wir in einem verdreckten Vorhof des Gefängnisses stundenlang ausharren. Endlich wurde der Name meines Mannes aufgerufen. Wir betraten das trostlose Gebäude. Wenigstens wurde ich diesmal nicht von einer übergriffig

en Ägypterin mehr als unangenehm angefasst. Beim Durchsuchen am Eingang zu den Gefangenen hatte sie mir sehr unsanft und mehrfach über meine Brüste gestrichen. Samir saß mit etwa zwanzig anderen Gefangenen am Boden auf einer Decke und wartete auf seinen Besuch. Er bemerkte bereits bei der Begrüßung, dass etwas anders war und sein Gesichtsausdruck wechselte von freudig auf fragend.

Ich war bis zum Zerreißen angespannt und sehr nervös, dazu emotional so befangen, dass ich kaum ein Wort sprechen konnte. Samir befragte mich nach seinen Söhnen und seiner Familie und ich sagte, dass es allen gut ginge und sie wohlauf wären. Dann hielt ich es nicht mehr aus, denn die Besuchszeit war auf eine halbe Stunde beschränkt und ich hatte viel zu besprechen. Mit großer Trauer im Herzen erzählte ich ihm all das, was mir auf der Seele lag:

»Samir, es tut mir unendlich leid, aber ich kann nicht mehr deine Frau sein. Mousa ist tot und als ich seine Frau, seine Schwester und seine Mutter um ihn weinen sah, wusste ich, ich will und kann das nicht mehr mitansehen. Ich will nicht weiterhin unterstützen, was du getan hast. Ich bin jetzt schon so lange unglücklich, deine Kinder haben so oft mit einer traurigen und verzweifelten Mutter leben müssen. Ich kann das einfach nicht mehr.«

Unerwarteterweise nahm Samir meine Hand und tröstete mich:

»Ich kann dich verstehen, ja Ruhi.«

›Ja Ruhi? Meine Seele? Warum, um alles in der Welt, muss er jetzt dieses Wort wählen?‹, entrüstete sich der Verstand.

›Merkt er denn nicht, wie sehr er ihr Herz schon gebrochen hat? Ist es nötig noch einen obendrauf zu setzen?‹, fragte auch das Mitgefühl.

»Keine Berührungen!«, warf der Polizist, der uns erblickt hatte, kalt und rigoros dazwischen.

Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich merkte wie sich mehr und mehr Tränen in meinen Augen sammelten. So sehr ich auch versuchte sie zurückzuhalten, es entstand immer mehr Druck, der sie von tief unten nach oben drängte.

Ich sah den Schmerz in Samirs Augen und mein eigener brach letztlich alle Dämme und die angesammelten Tränen stürzten wie ein lautloser Bach meine Wangen hinab.

Samir wischte mir einige aus dem Gesicht und sofort wurden wir wieder von dem Beamten ermahnt. Ich dachte, ich müsste hier und jetzt sterben, aber es war nur der Traum der starb. Der Traum mit Samir eine glückliche, heile Familie zu haben. Ich lebte noch und Samir lebte auch. Unsere Ehe lag jedoch in einem großen Scherbenhaufen vor uns. Samir willigte ein, mich von ihm zu scheiden. Er fragte, während ich zu Mohammed ging und ihn zu uns holte, einen Mithäftling, ob er kurz der unschönen Zeremonie als Zeuge beiwohnen könnte. Als beide neben uns standen, sprach Samir dreimal die nötigen Worte aus: »Inti talak, inti talak, inti talak!« Du bist geschieden!

Die beiden Zeugen zogen sich wieder zurück und ich befand mich wie in einer Art Trancezustand, unfähig, zu denken. Samir bat mich, mich gut um unsere Kinder zu kümmern und ich versprach es ihm. Die halbe Stunde Besuchszeit war viel zu schnell um und noch benommen stieg ich in den Minibus, der uns nach weiteren zehn Stunden Fahrt zurück nach Dahab bringen sollte. Samir hatte mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich seiner Schuld voll bewusst war. Er hatte es mir sehr einfach gemacht und unheimlich viel Verständnis gezeigt. Ich war ihm sehr dankbar dafür, wusste jedoch nicht, wie ich das Gefühlschaos in mir bändigen sollte. Die Fahrt über weinte ich die meiste Zeit und Mohammed, der mich gut kannte, sagte mir immer wieder, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Das gab mir zwar etwas Kraft, konnte den Schmerz jedoch nicht lindern. Ich hatte mit der Scheidung meinen Traum endgültig begraben und das war die schlimmste Beerdigung, die ich bis dahin erlebt hatte.