Zwischen Wüste und Meer

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Zwischen Wüste und Meer
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Inhaltsverzeichnis







Titel







Inhaltsverzeichnis







Zurück in Dahab







Eine Entscheidung muss her







Aus der Traum







Ein neues Leben beginnt







Familienleben







Unverhoffter Besuch







Veränderungen







Selbstfindung







Verliebt sein macht blind







Die Revolution







Kairo







Ankunft in Deutschland







Nichtwissen schützt vor Strafe nicht







Schlimmer geht immer







Aufgeben ist nicht







Epilog







Brief an die Leserin, den Leser







Danksagung







Impressum








Zwischen Wüste und Meer





2. Band zu »Fliegende Teppiche«





Simone Wiechern




Für meine Söhne



Alian und Anuar





Zurück in Dahab



»Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.«



- Jean-Jacques Rousseau -





Hinter den Bergen von Saudi Arabien ging gerade die Sonne auf und schickte die ersten spürbar heißen Strahlen in meine sehr kühlen Gedanken. Ich saß am Strand von Dahab auf der wunderschönen Halbinsel Sinai und das unruhige Meer direkt vor meiner Haustür schwappte in stetigen Wellenbewegungen über den Kies. Das Zurückrollen der Wellen nahm immer einige Steinchen mit sich. Das gleichmäßige Geräusch, der sich den Umständen hingebenden Steine, beruhigte mein aufgeregtes Gemüt und ich fand wieder Ruhe in mir. Wie diese Steine würde auch ich mich den Wellen, die auf mich zuzukommen schienen, hingeben. So wie sie würde ich mich dem Schicksal anvertrauen, um dortzubleiben, wo die Wogen des Lebens mich hingespült hatten.





Samir, mein beduinischer Mann war mittlerweile über ein Jahr wegen seiner Drogensucht und dem Verkauf von Drogen inhaftiert und ich fühlte mich sehr allein und verlassen.



Der letzte Versuch, mit meinen drei Kindern aus Ägypten auszureisen, um zurück nach Deutschland zu gehen, war genauso gescheitert, wie die vielen Versuche zuvor. Wie immer hatte man mir am Flughafen gesagt, ich allein könnte gerne fliegen, aber meine Jungs bräuchten die Erlaubnis vom Vater, der zu solch einem Einverständnis schon lange nicht mehr in der Lage war.





Samir hatte eine Haftstrafe von drei Jahren bekommen und ich hasste und liebte diesen Mann in täglichem, manchmal stündlichem Wechsel. Ich liebte nach wie vor den Samir, den ich geheiratet hatte, aber ich verabscheute dieses Monster, das die mörderische Droge Heroin aus ihm gemacht hatte.



Seine Sucht hatte unsere Familie zerstört, unsere gemeinsame Zukunft und vor allem meinen Traum einer heilen Familie, die sich in dem Land, welches einmal mein Paradies gewesen war, ein glückliches Leben aufbauen wollte.



Jetzt saß ich hier allein mit meinen drei Kindern, bekam keine offizielle Arbeitserlaubnis und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Dazu kam, dass es mir deutlich weniger Spaß machte, an unserem Haus weiterzuarbeiten. Immer öfter vernahm ich, dass Samirs Brüder etwas anderes vorhatten, als mir dieses Anwesen zu überlassen. Mein Nachbar, dem ein Hotel gehörte, plante Gerüchten nach, mit ihnen ein Tauchcenter aus unserem Haus machen zu wollen oder eines direkt davor zu bauen. Wenn ich mit den Brüdern sprach, bekam ich keine zuverlässige Antwort, wurde jedoch gefragt, ob ich nicht besser ins Dorf ziehen wolle. Auch der Hotelbesitzer hüllte sich in Schweigen und verwies mich an Samirs Brüder.





Letzten Monat hatte ich mir noch eine sehr ausgefallene Sitzmöglichkeit in meinen Wohn- und Küchenbereich gebaut, die mir mal wieder offene Fingerkuppen beschert hatte. Fliesenkleber war in dieser entlegenen Gegend zwar erhältlich, aber als Luxusgut kaum bezahlbar. Ich benutzte Zement, um die Außenkante der geräumigen “Eckbank“ mit allerlei schönen Steinen, Muscheln oder auch Glasscherben, die ich bei meinen morgendlichen Spaziergängen dort fand, zu gestalten. Meine Kinder, die Renovierungen an unserem Haus und das Malen waren meine Nischen, in die ich mich begeben konnte, um mich von trüben Gedanken abzuhalten.



Ich hatte sehr viel Arbeit, Zeit und Liebe in unser Heim gesteckt, so dass mir die Andeutungen, ich solle meine vier Wände verlassen, seit zwei Wochen schlaflose Nächte bereiteten. Ich liebte dieses Haus und vor allem die Möglichkeit, hier jeden Morgen am Strand den Sonnenaufgang bewundern zu können.



Ich hatte große Angst, nach meinem Mann nun auch noch mein Heim zu verlieren.





Ich nahm den Sack, den ich immer morgens bei mir hatte und sammelte den Müll ein, den das Meer angespült, der Wind hergeweht oder den achtlose Menschen den Abend zuvor zurückgelassen hatten. Etwas zuversichtlicher und mit dem Gedanken wieder ein klein wenig Gutes getan zu haben, ging ich ins Haus, und machte Frühstück für meine drei Kinder.



Friedlich und herzig anzusehen schliefen sie noch fest unter einem großen Moskitonetz in unserem kleinen Innenhof.





Als ich das Frühstück bereitet hatte, wurde Soliman, der jetzt anderthalb Jahre alt war, wach und krabbelte ohne jegliche Rücksicht über seine Brüder. Der Rest meiner Rasselbande beschwerte sich über das unsanfte Wecken. Noch verschlafen setzten sie sich zu mir ans Feuer und machten sich über das frisch gebackene Brot, Joghurt und Käse her.





Ich war gerade mit dem Abwasch beschäftigt, als jemand an die Tür klopfte.



Gudrun stand mit ihrem Hund Jacky davor und hatte ein sehr betrübtes Gesicht. Sie kam gerade von einem langen Spaziergang an der Lagoona und berichtete mir besorgt, etwas würde mit ihrem Hund nicht stimmen. Ich ließ sie herein und tatsächlich verhielt Jacky sich sehr eigenartig. Er hatte feinen Schaum vor dem Mund und lief unruhig im Kreis.



Sofort war mir klar, was vorgefallen war. Jacky war nicht der erste Hund, bei dem ich dieses Verhalten mitansehen musste.



»Ich bin mir sicher, dein Hund hat Gift gefressen. Hast du ihn in der Lagoona frei laufen lassen?«



»Ja«, entgegnete Gudrun und geriet in Panik. »Was soll ich jetzt tun?«



»Komm schnell, wir fahren zu Janet.«



Ich rief meine Kinder zusammen und gemeinsam fuhren wir zu einer meiner Bekannten. Janet kümmerte sich um zahlreiche herrenlose Hunde im Dorf und hatte mindestens zehn eigene in ihrem Garten herumlaufen. Wir hatten Glück und trafen sie an. Sie untersuchte Jacky sofort gewissenhaft und bestätigte meinen Verdacht. Mittlerweile ging es dem Hund so schlecht, dass er immer wieder würgte und stärker als zuvor im Kreis lief.



Janet ging an ihren Kühlschrank und nahm ein Medikament zur Hand. Aus einer Schublade griff sie eine Spritze und zog sie gekonnt auf. Etwas aufgeregt aber dennoch sehr routiniert injizierte sie der schönen Schäferhund-Huskymischung die hoffentlich wirkende Substanz.



»Jetzt heißt es abwarten und hoffen, dass das Gift nicht schon zu viel Schaden angerichtet hat«, sprach sie Gudrun Mut zu und brachte Jacky eine Schüssel mit Wasser.



»Das ist schon der dritte Hund, den ich diese Woche spritze und es ist erst Mittwoch. Mir geht langsam das Geld aus, um solche Mengen an Medikamenten zu beschaffen«, sagte sie mit besorgtem Blick und einer deutlichen Aggression in ihrer Stimme.



»Was treibt Menschen bloß dazu, Giftköder auszulegen?«, fragte ich in die Runde. In einer kurzen Diskussion kamen wir überein, dass der wieder zunehmende Tourismus wohl der Grund dafür sei.



Die wilden Vierbeiner, von denen es sehr viele gab, bellten nachts und das störte die Hotelbesitzer, da sich Gäste darüber beschwerten. Früher hatte die Polizei regelmäßig Hunde erschossen, aber nun ging seit einiger Zeit das Gerücht herum, dass angeblich die Kugeln zu teuer wären, um sie für Streuner einzusetzen.



Es war furchtbar mitanzusehen, wie manche Hunde stundenlang litten, wenn sie Gift gefressen hatten. Ich selber hatte schon einmal einen kleinen Mischling beim Sterben begleitet, dem die Injektion leider nicht mehr helfen konnte.



Jacky hörte etwa nach fünf Minuten auf, im Kreis zu laufen und schleppte sich auf wackeligen Beinen zur Wasserschüssel. Er trank und unsere Helferin deutete dies als gutes Zeichen.

 



Nach etwa einer halben Stunde, in deren Verlauf sich Jackys Zustand langsam aber stetig besserte, verabschiedeten wir uns von Janet. Gudrun gab ihr genug Geld, um mehrere neue Injektionen zu besorgen und beiden war ihre gegenseitige Dankbarkeit deutlich anzusehen.





Gemeinsam fuhren wir zu Gudruns Wohnung und warteten ab. Jacky legte sich auf seinen Platz und kam zur Ruhe.



Bei einer Tasse Kaffee sprachen wir noch immer fassungslos über die Problematik der hier herrschenden Situation. Nach weiteren zwei Stunden, in denen ich meine Freundin mental unterstützte, waren wir sicher, dass Jacky es geschafft hatte. Die Zuckungen in seiner Magengegend waren gänzlich verschwunden und er schlief ruhig und entspannt in seiner auf seiner Decke.



Ich nahm meine Freundin fest in den Arm und verabschiedete mich.



Mein Sohn Salama, der uns unbedingt hatte begleiten wollen, freute sich überschwänglich, denn er liebte Gudruns Hund und war von der ganzen Geschichte sehr mitgenommen. Ich war auch für ihn überaus froh, dass alles ein gutes Ende genommen hatte. Soliman, mein jüngster Sohn, hatte die meiste Aufregung in seinem Tragetuch auf meinem Rücken verschlafen.



Am nächsten Morgen ging ich schon früh zu Gudrun, und Jacky war wieder ganz der Alte. Von nun an würde meine Freundin ihren Hund nur noch mit Maulkorb frei laufen lassen, hatte sie entschieden. Ich bestärkte sie darin, dass dies die einzig vernünftige Lösung war.



Wir saßen in ihrem Garten und erinnerten uns, wie wir uns kennengelernt hatten.



Ich traf Gudrun ein paar Jahre zuvor am Strand in einem Café. Nachdem wir uns sehr interessiert aneinander unterhalten hatten, erwähnte ich, dass ich gerade mein Haus renoviere und auf der Suche nach einem Elektriker sei, der mir Stromleitungen verlegen könnte. Sie erzählte mir daraufhin, dass sie mit ihrem früheren Freund diese Tätigkeit schon mehrfach gemacht hatte und bot mir an, die Arbeit mit einer Freundin zu übernehmen. Sie hatte sich gerade neu hier niedergelassen und suchte dringend nach einem Job. Tatsächlich kam Gudrun schon am nächsten Morgen und meißelte mit ihrer Freundin den Putz auf, um die Kabel zu verlegen. Das Überputzen der gelegten Leitungen übernahm ich dann wieder. Ich hatte große Freude mit diesen beiden jungen Frauen, die etwa in meinem Alter waren, die Arbeit durchaus fachmännisch - in diesem Fall wohl eher fachfrauisch zu bewerkstelligen. (Das Wort fachfrauisch wird gerade leuchtend rot von meinem Korrekturprogramm unterstrichen. Daran sehe ich deutlich, dass die deutsche Sprache in sehr vielen Fällen noch immer sehr maskulin geprägt ist. Das wird in der Bedeutung von herrlich und dämlich ganz besonders anschaulich und rückt auch in anderen Bezeichnungen Frauen oftmals in ein schwaches oder gar dunkles Licht. Der werte Leser/die werte Leserin sollte sich daher nicht wundern, dass ich mir in diesem Buch die Freiheit herausnehme, durchaus ein paar Wortneuschöpfungen einzubauen.)





Ein paar Tage später war die Arbeit vollendet und alle Lichter brannten. Für den westlichen Menschen ist das sicher nichts Besonderes, aber meine Jungs und ich freuten uns wie kleine Kinder an Weihnachten über diesen nützlichen Einzug des Fortschritts. Ghanem war besonders entzückt von der Neuerung und ich musste ihn mehrmals ermahnen, das Licht an-Licht aus-Spiel doch bitte zu unterlassen.





Eine Entscheidung muss her



»Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung.«



-Heraklit-





Bei den Nachbarn fuhren immer mehr Autos auf den Hof. Es war erst neun Uhr morgens und sehr unüblich, dass dort so viele Menschen kamen und nach einer Weile wieder wegfuhren. Ich malte gerade an einem Werbeschild für das Hotel neben mir und bekam das Kommen und Gehen unweigerlich mit.



Eine ehemalige Nachbarin, die mich sah, kam auf mich zu und wir begrüßten uns mit den üblichen Floskeln, bei denen man sich gleich mehrfach erkundigt, wie es allen in der Familie geht. Ich fragte sie, was denn bei den Nachbarn los wäre.



»Mousa, der Sohn von Rabia ist gestern gestorben.«



»Nein, wie ist das denn passiert, er war doch noch so jung«, entgegnete ich tief berührt.



»Diese teuflischen Drogen waren das. Die Familie sagt nichts Genaues, aber zwischen den Worten versteht man es recht deutlich. Wenn nicht bald etwas gegen dieses Teufelszeug unternommen wird, werden noch mehr sterben. In Sharm El Sheikh sind letzte Woche auch zwei junge Männer daran verstorben.«



»Mittlerweile schießen die Beduinen dort ja schon aufeinander«, warf ich ein. »Ich hoffe, dass keine Stammeskriege stattfinden wegen diesem Zeugs und auch, dass Samir im Gefängnis davon Abstand gewinnt.«



Ich biss mir auf die Lippen, um meinen Schmerz zu regulieren, der bei den ausgesprochenen Worten sofort körperlich als auch seelisch in mir zu spüren war.



»Inschah Allah!«, entgegnete Salma. »Aber im Gefängnis soll es auch möglich sein, an Drogen heranzukommen, hat neulich der Neffe meiner Schwester erzählt.«



»Ja, das habe ich auch schon gehört. Du glaubst nicht, wie sehr ich dieses Teufelszeug verabscheue.«



»Ich muss wieder los«, sagte sie und lud mich ein: «Komm doch mal wieder auf einen Tee vorbei.«



»Ja, ich komme gern die Tage mal hoch zu Euch.

Masalama

, gehe in Frieden!«



»

Salamt Allah

, der Frieden ist mit Gott!«, entgegnete Salma und ging zurück zu den Nachbarn.





Sehr tief bewegt setzte ich mich an den Strand und schaute auf die Wellen, die sich sacht an mich ranschlichen und wieder verschwanden, um neuen Wellen Platz zu machen.



Erst jetzt, als ich dort allein für mich das eben Gesagte Revue passieren ließ, kam mir die ganze Tragweite der Worte in mein Bewusstsein. Mousa war ein guter Freund meines Mannes gewesen. Ich mochte ihn früher, aber im Laufe der Zeit war er einer dieser vielen ungebetenen Gäste geworden, die zu jeder Tages- und Nachtzeit an unsere Tür geklopft hatten. Ich wusste, dass auch er heroinabhängig war und dies hatte in mir einen Groll auf ihn entfacht. Jetzt tat es mir sehr leid um ihn. Ich fragte mich, ob Samir vielleicht auch schon tot wäre, wenn er nicht schon so lange im Gefängnis sitzen würde. Die letzte Zeit hörte man immer wieder, dass junge Männer an Heroin gestorben waren oder ins Gefängnis kamen.





Tränen begannen meine Wangen herabzulaufen, denn ich dachte an meinen Mann und diese ganze Situation löste eine unsagbare Traurigkeit in mir aus.



Als Nachbarin musste und wollte ich nach nebenan gehen und den Hinterbliebenen meine Hilfe anbieten, und ihnen mein Mitgefühl entgegenbringen. Ich trocknete mein Gesicht, damit meine Jungs meine Tränen nicht sahen, und sagte ihnen, ich würde sie für eine Stunde zu Farruja bringen. Sie freuten sich auf die Frauen und Kinder dort und gemeinsam gingen wir die paar Minuten durchs Dorf. Es gab auf der Strecke einen kleinen Schleichweg zwischen zwei Häusern, der gerade breit genug war, hindurchzugehen. Ich liebte diese kleine Gasse, denn die Beduinen, die dort lebten, hatten neben ihrem Haus einen herrlichen Garten mit Palmen, in denen zur Freude meiner Kinder immer ein paar Hühner herumliefen, die sie gern anschauten und fütterten. Meine Jungs nahmen daher die Tüte mit altem Brot mit. Wir machten erst die Hühner und dann noch zwei Kamele auf dem Weg dorthin glücklich. Es war fantastisch, dass ich nie Essen wegwerfen musste. Irgendwo gab es immer Tiere, die sich herzhaft über unsere Essensreste freuten. Nichts wurde hier weggeworfen oder verschwendet.





Farruja saß mit ihrem Mann am Feuer und ich gesellte mich dazu. Meine Kinder hatten ihren neuen Fußball mitgenommen und sofort war Mohammed, Farrujas taubstummer Sohn, hellauf begeistert, mit ihnen spielen zu können. Auch Farrujas Familie hatte schon von dem Tod des jungen Mannes erfahren und wir sprachen eine Weile darüber. Meine Freundin war genauso verzweifelt wie ich. Zwei ihrer Brüder nahmen Heroin und sie hatte, genau wie ich, schon lange keine Idee mehr, was man dagegen unternehmen könnte. Ich bat sie, kurz auf meine Kinder zu schauen, was sie wie immer ganz selbstverständlich tat, und ging allein zurück in das Haus unserer Nachbarn.



Etwa dreißig Männer und Frauen waren in dem Haus versammelt, und ich ging zu Mousas Frau, um ihr ein paar tröstende Worte zu sagen. Sie bemühte sich kläglich, nicht zu weinen, doch immer wieder tropften Tränen aus ihren Augen, die sie schnell mit ihrem Kopftuch wegwischte, damit sie nicht auf den Boden fielen.



Die Beduinen sagen, dass jede Träne, die um einen Toten geweint wird und auf den Boden tropft, diesen auf dem Weg ins Jenseits wie heißes Wasser treffen würde. Daher bemühten sich die meisten Menschen hier, entweder weniger zu weinen oder die Tränen sofort wegzuwischen. Da die Beduinen stark an ein Leben nach dem Tod glauben, soll man von ihrem Glauben her, die Verlorenen in Frieden gehen lassen und sich darüber freuen, dass sie nun ins Paradies gehen dürfen.



Aber auch Mousas Mutter schluchzte bitterlich und rieb sich ununterbrochen ihr Gesicht trocken. Ich setzte mich neben sie und sprach ein paar hoffentlich passende Sätze.



Sie schaute mich mit glasigen Augen an und bedankte sich, während sie meine Hände in ihre nahm. »Gut, dass dein Mann im Gefängnis sitzt, dann hört er vielleicht auf mit diesem Heroin«, sagte mir die betagte Frau und drückte dabei fest meine Hände. Mir standen bei diesen Worten wieder Tränen in den Augen und ich wollte nur noch weg aus diesem Haus, weg aus dieser Trauer und weg von meinen Gedanken.



Ich blieb anstandshalber jedoch noch eine Weile und half den Frauen ein wenig in der Küche. Alles war besser als nachzudenken.



Als ich später wieder in meinem Haus war, setzte ich mich ans Feuer und ließ alle Gedanken auf mich zukommen.



›Willst du, dass auch du irgendwann so dasitzt und alle um deinen Mann weinen?‹, fragte mich die Vernunft.



›Aber vielleicht hört er ja diesmal auf‹, entgegnete die Hoffnung.



›Das glaubst du doch selber nicht‹, kam sofort der resolute Einwand der Vernunft. ›Wir wissen alle, wie einfach man im Gefängnis an Drogen kommt, das haben dir genug Leute bestätigt. Samir hat weiß Gott schon genug misslungene Versuche, von der Sucht loszukommen, hinter sich. Wenn du immer hinter ihm stehst und dich nicht von ihm trennst, hat er auch keinen Grund sich zu ändern. Du machst das doch alles brav mit.‹



›Ich bin noch vollkommen geschockt von dem soeben Gesehenen‹, warf das Mitgefühl zwischendrin ein.



›Und ich erst recht!‹, meldete sich auch die Angst.



Ich biss auf meinem Daumennagel herum und spürte tief in mir, dass ich all das nicht mehr wollte.



Ich wollte keine Angst mehr haben.



Ich wollte nicht mehr von Sorgen und Sehnsucht erfüllt sein.



Ich wollte nicht mehr die Quittungen für die Drogensucht meines Mannes bezahlen.



Ich wollte wieder glücklich sein und voller Zuversicht in meine Zukunft blicken.



Ich wollte einen Partner, einen Gefährten neben mir.



Ich wollte, dass meine Kinder gute Vorbilder hatten.



Musste ich meinen Kindern nicht irgendwie zeigen, dass ich so ein Verhalten nicht länger toleriere und als Co-Ahängige weiterhin unterstütze?





Je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde in mir der Wunsch, diese Ehe zu beenden.



Der Schock über Mousas Tod und die Bilder der weinenden Frauen hatten mich sehr tief getroffen und bis ins Mark erschüttert.



Die Hoffnung, die sich in den vergangenen Monaten noch hin und wieder in mir ausgebreitet hatte, wurde von Bergen voller Zweifel so hoch überschüttet, dass kaum noch etwas an die Oberfläche kam.



Ich holte meine Kinder bei Farruja ab und machte ihnen Essen. Danach ging ich direkt zu meiner Freundin und besprach mich mit ihr. Als Psychologin war sie bewandert auf dem Gebiet der Sucht. Auch sie konnte mir keine Hoffnung meinen Mann betreffend mehr machen. Sie kannte Samir und hatte all die letzten Jahre seinen Verfall mitangesehen.





Als ich später meine Kinder in den Schlaf gelesen hatte, setzte ich mich wieder an mein Feuer und starrte in die Flammen.



Feuerzungen stiegen mal hoch und mal breit aus dem schwelenden Haufen empor. Wie die Flammen am Holz hatte Samirs Sucht an meinem einst so stolzen und wunderschönen Wüstenprinzen genagt. Am Schluss war von dem Mann, den ich damals geheiratet hatte fast nichts mehr übrig. So wenig, dass es für ein Dasein als Vater oder Partner nicht mehr ausreichte. Unsere Ehe lag in Schutt und Asche. Der Mann, der so oft mit mir gestritten hatte, weil ich unseren Ruf bewahren und mich mehr als sittsam verhalten soll, weil er stolz auf mich und seine Kinder sein wollte, hatte uns all unseres Stolzes auf ihn beraubt. Fast jeder im Dorf wusste mittlerweile von seiner Abhängigkeit und oftmals wurde mir Mitleid entgegengebracht. Ein Gefühl, dass mich nicht stärker machte, sondern Scham in mir auslöste.

 



In den nächsten Tagen und Wochen wurde der Gedanke, mich scheiden zu lassen, immer klarer. Doch Samir hatte mir nicht nur einmal gesagt, dass er mir, im Falle einer Scheidung meinerseits, die Kinder wegnehmen würde. Das durfte nicht geschehen. Das hätte vielleicht mein Körper, aber sicher meine Seele nicht überlebt. Ich zerbrach mir viele Stunden den Kopf über dieses Dilemma und suchte nach einem Ausweg.





Ich sprach mit Samirs Mutter darüber, die gerade für eine Weile in Dahab war und mich besuchte. Sie konnte verstehen, dass ich mich trennen wollte. Sie hoffte jedoch noch, dass Samir wieder drogenfrei werden würde. Allerdings war auch ihr anzumerken, dass die Hoffnung in ihren Sohn längst nicht mehr die Dimension hatte, die sie sich für sich selbst gewünscht hätte. Es waren auch für sie schon zu viele Versuche gewesen und zu oft war uns die Macht dieser Sucht nach dem Heroin vor Augen geführt worden. Sie versprach mir, sie würde Samir nicht darin unterstützen, mir die Kinder wegzunehmen. Für die Männer der Familie konnte sie mir jedoch keine Gewährleistung für deren Zurückhaltung geben. Es war wieder einmal ein sehr trauriges Gespräch. Immer öfter und stetig zunehmend wandelte sich die Trauer in eine stärker werdende Wut auf meinen Mann. Seit Jahren war ich ständig traurig und zornig auf Samir. Ich weinte um meinen geplatzten Traum einer heilen Familie, um seine verlorene Freiheit, um die Entbehrungen und die Schmach, die meine Kinder zu erleiden hatten. Allgemein schaffte ich es immer weniger, die positiven Dinge und Umstände um mich herum zu sehen und zu spüren. Ich fühlte mich wie eine Halbtote. Und wenn ich schöne Dinge oder Gelegenheiten doch sah oder manchmal sogar spürte, verbot ich mir manchmal regelrecht mich diesem schönen Gefühl hinzugeben.



›Wie kannst du bloß so fröhlich sein, während dein Mann im Gefängnis sitzt‹, sprach zum Beispiel das Gewissen. Der Anstand setzte dann meist mit einem: ›Dein Mann hat jetzt sicher nichts zu lachen‹, noch einen obendrauf.



Ich musste mich dringend befreien aus diesen Gedankenmustern und solch einer Lebensweise. Es war mein Mann, dem unsere gemeinsamen Kinder und unsere Ehe nicht wichtig genug gewesen waren, um von dem Stoff loszukommen. Meine Kinder und ich mussten aufhören zu leiden. Wir hatten das Recht, glücklich zu sein.



Samir tat mir mittlerweile nur noch leid, denn ich ahnte, dass diese Sucht so stark war, dass man es kaum schaffen konnte, davon loszukommen. Nichtsdestotrotz nahm die Wut auf ihn mehr und mehr zu und vergrub langsam die noch vorhandene Liebe.



Ich konnte immer weniger verstehen, wie man überhaupt auf die Idee kommt, solch eine Droge zu nehmen, wenn man Kinder zu versorgen hat. Samir war in höchstem Grad verantwortungslos gewesen und das war es, was ich an meinem Mann am meisten kritisierte und das mir jetzt diese tiefe Enttäuschung bescherte. Vielleicht sogar Verachtung. Ich war, obwohl ich hier schon acht Jahre lebte, immer noch in vielen Punkten eine Fremde. Ich hatte keinen eigenen Familienverband hier und ausreisen konnte ich mit meinen Kindern nicht, da Samir mir nie eine notarielle Erlaubnis dafür ausgestellt hatte, die hier am Flughafen verlangt wurde. Dieser Mann hatte mich all meiner Freiheit beraubt. Das erste Mal in meinem Leben stand mir nicht mehr die ganze Welt offen. Wenn ich meine Kinder nicht verlieren wollte, musste ich die nächsten Jahre im Sinai bleiben. Für mich selber war das wunderschön, aber ich musste dadurch mein Kind den harten Stockschlägen in der Schule aussetzen oder endlich einen anderen Weg des Unterrichtens finden. Meine Gedanken nachts, wenn nichts mehr ablenkte, musste ich allein tragen. Da war keine Schulter mehr, an die ich mich hätte lehnen können. Da war niemand, der mir vor dem Einschlafen sagte, alles würde wieder gut werden. Ich war vollkommen auf mich allein gestellt und immer die Einzige, die den Kindern sagen und vermitteln wollte und musste, dass ich bald eine Lösung finden werde.



Würde ich das?



›Du machst dir etwas vor, wenn du immer noch hoffst, mit Samir eine glückliche Ehe zu führen‹, sprach die Vernunft immer und immer wieder die nächsten Wochen. ›Er wird nicht aufhören können, das hat er dir oft genug gezeigt.‹





Ich hatte fürchterliche Nächte nach dieser Trauerfeier, in denen ich oft bis zum Morgengrauen wachlag.



Nach einer dieser durchwachten Nächte, stand ich morgens völlig gerädert auf. Ich ging in die Küche und machte mir einen Kaffee, mit dem ich mich an den Strand setzte, um dem wunderschönen Sonnenaufgang beiwohnen. Den Wellen lauschend meditierte ich über das Loslassen. Ich musste mich trennen und diese langsam auch mich krankmachende Verbindung endlich kappen, um wieder ein vollständiger und vor allem lebendiger Mensch werden zu können.



Während ich Frühstück machte, wurden Ghanem und Salama gerade wach und fingen direkt an, sich um ein einfaches Legohaus zu streiten. Unverhältnismäßig laut schrie ich die beiden an, sofort aufzuhören mit der ständigen Streiterei. Kurzerhand entriss ich ihnen das Spielzeug, um es in einem hohen Bogen über unsere Mauer nach draußen zu werfen. Augenblicklich wurde ich mir meines unmöglichen Verhaltens bewusst, das absolut übertrieben und falsch gewesen war.



Ich war vollkommen übernächtigt und fertig mit den Nerven. Auch bei der Meditation hatte ich keine Gelassenheit und inneren Frieden finden können. Ich setzte mich zu meinen Kindern und sprach in Ruhe mit ihnen. Wir einigten uns, gemeinsam das Frühstück zu machen und dann an den Strand zu gehen. Es war Freitag und Ghanem hatte keine Schule. Vorerst sammelte ich das in viele Teile zerbrochene Legohaus wieder ein und wünschte mir, dass man mich auch so leicht und einfach wieder zusammensetzen könnte.



Die Vernunft rügte mich mit einem: ›Na da kannst du ja mal froh sein, dass das Spielzeug niemanden am Kopf getroffen hat.‹



›Ich denke auch, du solltest dir langsam mal darüber klar werden, wie es weitergehen soll. Du kennst dich lange genug, um zu wissen, dass keine Entscheidung zu treffen oftmals viel schlimmer ist, als die Falsche‹, bestätigte die Erkenntnis den fordernden Verstand.



›Gute Idee, denn ich würde nur allzu gern mal wieder an die Oberfläche kommen‹, sprach auch die Zufriedenheit.



Ich blieb einen Moment vor der Haustür stehen und schaute auf die Berge von Saudi Arabien. Eine Dunstwolke lag über den Hügeln und man konnte kaum etwas erkennen. So sah es auch in mir aus. Ich wusste um die hohen Berge hinter den Wolken. Wusste, wie wunderschön sie in der Morgensonne erstrahlen können. Das einzig Unklare war der Nebelschleier davor. Ich brauchte Klarheit in meinen Gedanken und meinem Handeln, um meinen weiteren Weg wieder deutlich vor mir sehen zu können.



Als ich wieder ins Haus ging, hatte ich endgültig entschieden, mich von meinem Mann scheiden zu lassen. Ich konnte nicht mehr einfach so weitermachen. Alles was ich jetzt noch herausfinden musste war, wie ich es schaffen könnte, dadurch meine Kinder nicht zu verlieren.



Eine riesige Erleichterung gepaart mit großer Trauer überkam mich. Mit neuer Zuversicht sprang ich die nächsten Tage in wechselnde Gemütsebenen.



Doch meine Gefühle waren wieder rein und kein unverdaubarer Cocktail mehr, der mir ständig sauer aufstieß. Wenn ich traurig war, war ich nur traurig und nicht mehr zusätzlich verzweifelt und zerrissen. Wenn ich erleichtert war, legte sich entschlossener Tatendrang auf meine Unternehmungen. Ich hatte endlich neue Ziele, die ich schon bald umsetzen wollte.



Als Allererstes musste ich mir ein neues Domizil suchen. Ich hatte weder Lust noch die ausreichende Kraft, mich mit Samirs Brüdern auseinanderzusetzen und für dieses Stück Land zu kämpfen. Ein Sieg war meines Erachtens unwahrscheinlich. Mein Mann hatte mich bei einem Besuch im Gefängnis damals gebeten, vor allem auf unser Land und das Haus achtzugeben. Ich hatte ihm gesagt, ich würde es versuchen. Aber wie oft hatte er mir versprochen, er würde versuchen, von den Drogen loszukommen. Ich war zu müde um zu kämpfen und zermürbt von all den Sorgen um meinen Mann und den Folgen seiner Sucht für die Kinder und mich. Alles, was ich jetzt noch wollte, war das Drama meines M