Fliegende Teppiche

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Jetzt oder nie

»Der Ausgangspunkt für die großartigsten Unternehmungen liegt oft in kaum wahrnehmbaren Gelegenheiten.«

- Demosthenes -

Wieder zurück in Berlin war es leider eindeutig zu kalt, um auf dem Balkon zu nächtigen. Ich ging so viel wie möglich nach draußen, da ich mich, in meiner doch eigentlich gemütlichen Wohnung, wie eingesperrt fühlte. Wenn ich am Schreibtisch saß, sah ich direkt gegen eine Wand. Selbst auf dem Balkon wurde mir von umstehenden Häusern die Sicht versperrt. Meine Gedanken konnten nicht schweifen, mein Horizont war zu beschränkt. Der einzige Ort, an dem ich mich noch richtig wohlfühlte, war der Park nahe der Uni.

Dick angezogen saß ich an einem der wenig sonnigen Tage auf einer Bank und öffnete einen Brief von der Freien Universität, den ich am Morgen erhalten hatte. Ich war zusätzlich in Grundschulpädagogik und Politik angenommen worden. Schnell packte ich meine Sachen zusammen, um sogleich Klaus die freudige Botschaft mitzuteilen. Da wir in Ostberlin immer noch keine eigene Telefonleitung bekommen hatten, ging ich auf dem Rückweg in eine Telefonzelle und rief gut gelaunt meinen Vater an. Bisher hatte ich mein Studium selbst finanziert, aber mit drei Studienfächern war dies nicht mehr möglich. Noch war ich überzeugt, er würde stolz auf mich sein. Nachdem ich ihm von der erfolgreichen Immatrikulation berichtet hatte, kam er recht schnell zu dem mir unangenehmen Thema. Er hatte mir schon meine Ausbildung als Bauzeichnerin finanziert und ich konnte seinen Unmut, jetzt wieder für mich zahlen zu müssen, gut verstehen. Die Summe, die er letztendlich bereit war, mir zu geben, reichte jedoch unmöglich aus, in Berlin zu studieren. In Grundschulpädagogik hätte ich viele Praktika zu absolvieren und währenddessen kaum Zeit zum Arbeiten. Das Arabistik-Studium war sehr schwer und kostete mich viel Zeit am Schreibtisch und in der Bibliothek.

Ich war zutiefst niedergeschlagen, da ich keine Möglichkeit sah, gewissenhaft zu studieren und gleichzeitig noch ausreichend für meinen Lebensunterhalt aufzukommen. Mein Herzensfach, die Arabistik aufzugeben, war keine annehmbare Alternative für mich. Einen Kredit aufzunehmen jagte mir höllische Angst ein. Bafögberechtigt war ich nicht, und Schulden zu machen war etwas, das mir schlaflose Nächte bereiten würde. Mich von Klaus aushalten zu lassen ebenfalls. Er riet mir, meinen Vater zu verklagen.

›Ausgeschlossen!‹, rief das Gewissen, ›das könnte sie nie, dafür ist sie ihrem Vater viel zu dankbar, dass er schon ihre Ausbildung ermöglicht hatte.‹

Außerdem liebte ich meinen Vater und hätte das allein aus diesem Grund nie tun können.

Eine Woche überlegte und rechnete ich und kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Ich würde es nicht schaffen. Zumindest traute ich es mir nicht zu. In den kommenden Nächten konnte ich nicht einschlafen und vergoss viele Tränen. Ich ging lustlos zum Frühstück, saß lustlos an der Arbeit und hing lustlos in unserer Wohnung herum. Als ich eines Morgens meine verquollenen Augen im Spiegel sah, traf ich eine Entscheidung, die mein gesamtes bisheriges Leben auf den Kopf stellen sollte.

Eine neue Zufriedenheit und Zuversicht war plötzlich in mein Spiegelbild zurückgekehrt. Ich zog mich in Windeseile an und rannte beinahe zur U-Bahn. Am Kurfürstendamm stieg ich aus und stand ein paar Minuten später vor meinem Ziel. Ich atmete tief durch und sah in den sich spiegelnden Scheiben immer noch die mutige Zuversicht in den Augen, die die letzten Tage so leer gewesen waren.

»Sie schon wieder?«, begrüßte mich der alte, libanesische Reisebürobesitzer herzlich. »Wie geht es Ihnen?«

»Bald wieder richtig gut, hoffe ich«, war meine Antwort. »Wann geht der nächste verfügbare Flug in den Sinai?«

»Moment bitte, ich schau mal nach.«

Er setzte sich suchend vor seinen Computer, während ich aufgeregt von einem Fuß auf den anderen trat. Die Plastikblumen auf dem Tresen erinnerten mich an die Rezeption des Camps in Dahab. Da hatte ein ähnliches Sträußchen den Tisch geziert, genauso kitschig und genauso verstaubt.

»Am 14. November, also in knapp drei Wochen habe ich einen günstigen Platz frei … aber warten sie … nein, da gibt es keinen passenden Rückflug. Dann ...«

»Den nehme ich!«, platzte es aus mir heraus, »ich fliege one way.«

Noch am selben Tag gab ich auf der Arbeit meine Kündigung bekannt, schrieb einen Brief an die Uni zur Exmatrikulation und berichtete Klaus von meinen Plänen. Er war einerseits betrübt, mich gehen sehen zu müssen, andererseits konnte er mich sehr gut verstehen. Meine unstillbare Liebe zum Sinai war oft Inhalt unserer Gespräche gewesen und manchmal glaubte ich, Klaus hatte als einziger eine ungefähre Ahnung, wie stark diese Verbundenheit war. Ich hatte oft erwähnt, dass ich gerne einmal für längere Zeit dort leben würde, aber nie gedacht, den erforderlichen Mut dazu aufbringen zu können. Mein Freund war derselben Meinung: Eine akademische Ausbildung ohne ausreichende finanzielle Mittel sei kaum zu bewältigen und konnte nachvollziehen, dass ich diesen ungeheuren Tiefschlag erst einmal allein verarbeiten musste. Drei lange Jahre hatte ich damit verbracht, neben meinem Job als Bauzeichnerin mein Abitur nachzuholen, immer mit der Vorfreude auf das anschließende Studium ... Und jetzt das!

Meine Freunde hatten für mich eine sensationelle Abschiedsparty veranstaltet und gaben mir viele gute Wünsche mit auf den Weg. Eine meiner besten Freundinnen, die den Sinai schon mal mit mir bereist hatte, fragte mich, ob ich zum nächsten Semester zurückkommen würde. Während ich mit der Antwort lange gewartet hatte, wurde mir bewusst, dass ich darauf keine klare Antwort hatte. Ich sagte ihr, ich wüsste es nicht. Die Enttäuschung, nicht studieren zu können, war allgegenwärtig und niederschlagend. Ich war soweit mir vorzustellen, eventuell gar nicht mehr wiederzukommen. Denn da war zusätzlich diese ganz starke Sehnsucht nach einer Familie, so wie es damals bei meiner Großmutter noch war oder wie ich sie bei den Beduinen kennengelernt hatte. Ich sagte ihr, ich würde das kommende Semester voll ausnutzen, um die Sprache zu lernen und mir Klarheit über meine weitere Zukunft zu verschaffen.

Drei Wochen später stand ich mit 90 Kilo Gepäck am Flughafen.

In Sharm El Sheikh gelandet, entschloss ich mich, von dort aus zuerst nach Dahab zu fahren und Sahi einen Besuch abzustatten. Er war sehr angenehm überrascht, mich schon so bald wiederzusehen.

Was mir in Dahab am besten gefiel, waren die Abende, an denen ich mit anderen Touristen in die nahe liegenden Wadis fuhr, um dort zu übernachten. Es gab für mich nach wie vor nichts Schöneres, als bis spät in die Nacht hinein mit den beduinischen Fahrern zusammen zu sitzen und mir aus ihrem Leben berichten zu lassen. Hungrig nach immer neuen Einblicken in ihre Traditionen und Gebräuche, ließ ich mich mit Informationen füttern. Da die Fahrer sehr begrenzt englisch sprachen, wuchs außerdem mein arabischer Wortschatz recht schnell. Sprachen ließen sich meines Erachtens wesentlich besser lernen, wenn man versuchte, sie zu sprechen. In der Universität war man der Sprache sehr theoretisch begegnet und ich freute mich nun, sie endlich praktisch anwenden zu können.


Abjad

»Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt.«

- Lucius Annaeus Seneca -

Da mein Geld sich rapide verringerte, musste ich mir etwas einfallen lassen, wie ich den verbliebenen Rest sinnvoll einsetzen konnte, um hier über die Runden zu kommen. Vielleicht hätte ich in Berlin besser noch eine Weile arbeiten sollen, um mir ein Startkapital anzusparen, aber ich war so frustriert und trotzig gewesen, dass ich mich von meinen Gefühlen geleitet zu diesem schnellen Abflug entschlossen hatte. Bisher hatte ich es nicht bereut, aber etwas musste geschehen, wenn ich nicht bald betteln gehen wollte.

Seitdem ich Deutschland verlassen hatte und hier, viel mehr mit mir selbst konfrontiert war, kam es immer öfter vor, dass meine Gefühle tief in meinem Inneren aus dem Nichts heraus aufkommende Konversationen abhielten.

›Jetzt wäre es gut, ein Kamel zu besitzen‹, sprach in mir die Abenteuerlust plötzlich, als ich eines Morgens im Wadi gerade meine Sachen verstaute, ›dann könnten wir noch hierbleiben.‹

›Au ja!‹, jubelte die Muse.

›Welch verrückte Idee!‹, konterte der Verstand.

Die Touristen, mit denen ich zum Übernachten in die Wüste gefahren war, drängten jedoch vehement zum Aufbruch an den Strand und unterbrachen meine Gedanken. Ich hingegen schätzte bei diesen Ausflügen besonders die frühen Stunden. Daher wachte ich schon mit dem Sonnenaufgang auf und nutzte die Zeit der morgendlichen Frische, durch die stille Einsamkeit der Wüste zu laufen. Immer weiter die schmalen Pfade hochsteigend, erfreute ich mich an der nahezu unberührten Schönheit der Wildnis, den Farben, Pflanzen und den verschiedenen Steinformationen. Sie inspirierten mich, meine kubistische Ader auf Papier zu übertragen. Wenn ich mich stark auf eine Felswand konzentrierte, sah ich nach einiger Zeit Gebilde, manchmal gar Szenen, die sich aus dem Gestein heraus schälten und mich geradezu drängten sie malerisch festzuhalten. Das Skizzenbuch war mein ständiger Begleiter. Mir wurde nie langweilig, ich konnte wandern, meinen Gedanken freien Lauf lassen, schreiben, oder auch einfach nur den verspielten, schwarz-weißen Vögeln bei ihrer Morgentoilette zusehen. Manchmal meditierte ich und war nicht überrascht, wie viel schneller es mir in der kargen Landschaft gelang, Klarheit aufzubauen. Wenn ich manchmal zu lange wegblieb oder die Abfahrt der anderen Touristen absichtlich nicht wahrnahm, musste ich zu Fuß, circa eine Stunde, zum Ort zurückmarschieren. Ich fuhr immer mit denselben Beduinen in die Wüste und diese wussten inzwischen, dass sie mich ruhig einfach zurücklassen konnten. Ich lief gerne zu Fuß, allerdings ging der Rückweg durch eine wenig einladende, mit Müll überhäufte Ebene, deren Weg sich unbarmherzig in die Länge zog.

 

Auf die Dauer war das nicht erquickend und so schien mir auf einer Rückfahrt, eingezwängt zwischen den Touristen, auf der Ladefläche eines Pick-up sitzend, der abenteuerliche Gedanke, ein Kamel zu besitzen, äußerst praktisch. Außerdem könnte ich mit einem eigenen Wüstenschiff Safaris für die Touristen anbieten, damit Geld verdienen und gleichzeitig endlich auf eigene Faust die wirkliche, tiefe Wüste erkunden. Ich war mit einem Mal wie besessen von meiner spontanen Idee und kannte mich gut genug; wenn mich einmal ein Vorhaben so richtig gepackt hatte, musste ich es einfach verwirklichen. Schon allein aus der Angst davor, mir später einmal vorwerfen zu müssen, ich hätte eine Chance zu neuen Horizonten verpasst. Zurück im Camp erzählte ich Sahis Cousins von meiner Idee. Ihre Familie besaß auch Kamele und sie boten mir begeistert ihre Zusammenarbeit an. Gleich setzten sie sich mit mir unter den Schatten spendenden, großen Baum im Camp und gemeinsam entwickelten wir unternehmungslustig Routenpläne.

›Du solltest es versuchen. Was hast du zu verlieren?‹, bestärkte mich die Abenteuerlust beim Einschlafen.

›Falls es sich als zu schwierig herausstellt, kannst du das Tier jederzeit wieder verkaufen‹ wurde sie vom Tatendrang unterstützt.

Die Vernunft resultierte: ›Das könnte sogar eine vielversprechende Geldanlage sein.‹

›Und wenn du runterfällst und dir das Genick brichst?‹, wimmerte die Angst.

›So ein Quatsch! Halt dich doch einfach da raus, du Weichei‹, konterte der Mut energisch und die Angst verkroch sich schnell hinter den dicksten Gehirnwindungen.

Eine außergewöhnlich große Sternschnuppe, die in diesem Moment vom Himmel fiel und einen langen leuchtenden Schweif hinterließ, erschien mir als gutes Omen.

›Siehst du‹, sagte der Aberglaube, ›wenn das kein klares Zeichen war.‹

Am nächsten Mittag bat ich Sahi frohen Mutes, einen Beduinen zu suchen, der ein Kamel zu verkaufen hatte. Endlich, nachdem er mich über eine Stunde lang überzeugen wollte, ich sei nun komplett verrückt, da Kamele schon Menschen getötet hätten und meine Idee ihm ganz und gar nicht behagte, zog er trotz alledem zähneknirschend los. Er sah ein, es war sinnlos, mich umstimmen zu wollen. Tatsächlich fand Sahi jemanden, und der nette Beduine, den er mitbrachte, versicherte mir, sein Kamel wäre ein ganz liebes Exemplar und ich würde sicher ohne Probleme mit ihm zurechtkommen. Etwa eine Stunde später stand der Verkäufer mit einem ungewöhnlich hellen, fast weißen Kamel vor mir. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mit Sattel und gefülltem Futtersack erstand ich das schöne Tier für mein gesamtes restliches Geld.

›Du setzt mal wieder alles auf eine Karte‹, hatte die Skepsis noch versucht, meine Entscheidung zu beeinflussen, aber der Wille war stärker und fand immer neue Gründe, warum ich bei meinem Entschluss bleiben sollte.

Ich war entzückt. Die stolzeste Kamelbesitzerin, die man sich vorstellen kann. Manchmal glaubte ich, dass der Stolz, der den Beduinen tief im Blut verankert liegt, nicht zuletzt auf die Herrschaft über solch Respekt einflößende Kreaturen zurückzuführen ist. Die beeindruckenden Wüstentiere haben durch ihren überheblichen Gesichtsausdruck und den ständigen Kaubewegungen, die sie vollführen, einen Ausdruck zwischen Erhabenheit und absoluter Gleichgültigkeit. Ich reichte dem Hengst gerade mal bis zur Halsbeuge und dies realisierend glaubte ich Sahi augenblicklich, dass dieses Tier mich innerhalb einer Sekunde töten könnte. Daher entschloss ich mich, ihm meine Freundschaft vorerst in Form einer großen Portion Futter und einigen Leckereien anzubieten. Er nahm sie begeistert entgegen und fraß sie mir mit seinem weichen Maul vorsichtig aus der Hand.

›Okay, ihr seid zumindest keine Feinde und sicher hat er keinen Grund, dir etwas zu tun‹, sprach die Zuversicht.

›Aber immer schön vorsichtig, nimm bloß Abstand‹, wimmerte die Angst schon wieder, wurde aber vom Mut mit einem resoluten: ›Wimmer nicht ständig!‹, zurück in ihre Ecke gedrängt.

An diesem ersten Tag war ich zu aufgeregt, ihn direkt zu reiten, und wollte das zarte Band der Freundschaft, das ich gerade spann, nicht überstrapazieren, sondern vorerst lieber mit noch mehr Leckereien verstärken. Mit einem Zeichenblock auf den Knien setzte ich mich zu ihm in den Sand und skizzierte ihn. Zwischendurch warf ich ihm immer wieder Melonenschalen in seinen Trog. Ich schaute mir das fertige Bild an und schrieb darunter Abjad, das arabische Wort für die Farbe Weiß. Er hatte seinen Namen bekommen. Als ich das Datum zufügte, fiel mir auf, dass wir den 6. Dezember hatten.

Die Freude schnurrte: ›Was ein schönes Geschenk wir uns bereitet haben.‹

Die Zufriedenheit stimmte ihr zu.

Als der neue Tag sich gerade dem Rest der Dunkelheit entledigte, ging ich hinaus und hängte Abjad den als Zubehör mitgekauften Futtersack um, der immer noch halb voll war. Somit bekam er sein Frühstück und hatte gleichzeitig keine Möglichkeit, mich vielleicht doch noch zu beißen. Mit dieser großen Futtertasche, die über den halben Kopf reichte, war sein Maul gut gesichert. Der alte Besitzer hatte mir gesagt, man dürfe einem Kamel nie trauen, nicht einmal, wenn man es schon eine Ewigkeit besäße. Ich nahm mir seine Worte zu Herzen und ließ besondere Vorsicht walten. Vom Beobachten und Hinhören wusste ich, dass man »jiiiierch« sagen und das Kamel am Seil dabei nach unten ziehen musste, um ihm verständlich zu machen, dass er sich hinlegen sollte.

Ich sagte: »jiiierch«, und zog am Halfter. Nichts passierte.

Ich zog abermals am Halfter, etwas strenger und sagte lauter: »jiiierch!«

Das Kamel schaute mich verwundert an und fraß gemütlich weiter.

Die Selbstironie fing lauthals an zu lachen, aber die Wut schaute sie grimmig an und schubste die Nebenniere, die sofort etwas Adrenalin ausschüttete.

Ich wurde etwas ungehalten von dem Durcheinander in mir, sagte noch lauter und deutlicher: »JIIIIIIEEERRRCH!«, und zog mit meiner ganzen Kraft das Seil nach unten.

Da entzog mir Abjad mit einem kräftigen Ruck seinen Kopf. Das Seil schürfte die Innenflächen meiner Hand auf.

›Holla!‹, erschreckte sich die Angst, die von dem Adrenalin in Alarmbereitschaft versetzt wurde.

›Verflixt!‹, wetterte das Schmerzempfinden.

Die Vernunft befahl mir: ›Ruhe bewahren! Er will wohl direkt zu Beginn deine Kräfte messen und seine Grenzen austesten.‹

Mir war klar, dass sich in diesem Moment entscheiden sollte, wer hier wem gehorchen würde. Ich war geladen und stand unter extremer Spannung. Mich vorbeugend, um meine Wut tief auszuatmen und Kraft zu schöpfen, fiel mir zufällig ein besonders schöner Stein ins Auge. Ich hob ihn instinktiv auf, da ich, seit ich denken kann, einen absoluten Faible für besondere Steine habe. Plötzlich bewegte das Kamel seinen Kopf abrupt zur Seite.

›Was war denn jetzt?‹, fragte die Aufmerksamkeit.

Er hatte unerwartet Angst vor irgendetwas. Das war gut. Schnell nahm ich den Zügel, schaute ihn grimmig an und sprach: »jiiierch!«, zog das dicke Seil nach unten und »juchuuuh!«, er legte sich hin.

›Wovor hatte er jetzt solche Angst gehabt?‹, fragte der Verstand. ›Warum parierte er auf einmal?‹

Die Erinnerung, die gute Seele, schickte mir Bilder von ein paar Beduinenjungen auf ihren Kamelen und ich realisierte den Stock, den einer in der Hand gehalten hatte. Das war es also. Er dachte, ich würde nach dem Stock greifen, der direkt neben dem Stein gelegen hatte. So weit so gut. Aber wie sollte ich denn jetzt den Sattel auf das Kamel bekommen? Ich hatte ihn bisher nur einmal abgenommen. Mein Bestes versuchend hievte ich ihn hinauf, schnallte die Gurte fest und das Ergebnis schien ganz akzeptabel.

›Also rauf da‹, rief die Abenteuerlust vergnügt und stieß dabei die Nebenniere an, die sich sofort ihrer Aufgabe bewusst wurde. Leicht zitternd, aber vollen Mutes, ritt ich los. Die Wüste rief!

Am Anfang lief alles prima, ich zog das Seil links herum, das Kamel ging nach links, ich zog das Seil rechts herum, er lief nach rechts und wenn ich das Seil stark an mich heranzog, blieb Abjad brav stehen.

›Super!‹, rief die Zufriedenheit, ›der Sonne entgegen. Jallah!‹, Los!

Wir gingen einfach immer der Nase nach, geradeaus, über Müll und ungepflasterte Wege, bis wir nach ca. 20 Minuten den bewohnten Teil Dahabs verließen und in Richtung Lagune marschierten.

›Ganz schön hoch, hier oben‹, winselte die Angst.

›Dafür hast du einen schönen Ausblick‹, erwiderte die Ästhetik.

›Und wenn das Kamel jetzt losgaloppiert und du runterfällst?‹, argwöhnte die Angst weiter.

›Ach, lass dich bloß nicht von der Memme anstecken und genieße es einfach‹, riet mir der Mut.

›Das werden wir tun, also Ruhe jetzt‹, beendete der Tatendrang die Diskussion.

Langsam konnte ich mich auf meine momentane Existenz in dieser wundervollen Umgebung einlassen. Einmal dem Ort und dem Müll hinter den Hotelanlagen entkommen, lag die Wüste ausgebreitet vor mir und wartete, mich in aller Stille zu empfangen. Da mein Kamel der besonders langsamen Sorte anzugehören schien, hatte ich Zeit, alles sinnlich wahrzunehmen und den heranbrechenden Morgen in seiner ganzen Farben- und Formenpracht zu bestaunen. Die Angst hatte es aufgegeben zu jammern. Vielleicht hielt der Mut ihr auch einfach den Mund zu. Auf jeden Fall genoss ich meinen Ausritt, fühlte mich frei, ungebunden und sehr erhaben. Ich wurde nicht nur von meinem Kamel, sondern vor allem von meinem Stolz über meinen Mut getragen. Je näher wir den Bergen kamen, desto steiniger, hügeliger und holpriger wurde der Weg. Abjad setzte seine gepufferten Hufe erst äußerst sachte auf, um dann bergab mit ein paar schnellen Schritten kleine Hindernisse zu überwinden. Ich musste mich fest am Sattelknauf halten, um nicht hinunter geschüttelt zu werden. Doch das Kamel schien sicher seinen Weg zu finden. Als ich mich gerade an den Tritt meines Tieres gewöhnt hatte und ihm mein volles Vertrauen schenken wollte, passierte es: Ein kurzes Schaukeln und ich rutschte mitsamt dem Sattel in Abjads Halsbeuge. Das Kamel blökte zornig und schleuderte seinen Kopf wild hin und her, während ich gerade noch abspringen konnte ohne dabei verletzt zu werden.

›Siehst du!‹, sprach die Angst, sich bestätigt fühlend.

›Ach halt die Klappe‹, zischte der Mut sie an. ›Sag lieber der Nebenniere, sie soll sich etwas zurückhalten mit ihren Ausschüttungen. Die Arme kann ja vor lauter Zittern kaum noch stehen.‹

Wieder festen Boden unter den Füßen, entschuldigte ich mich bei Abjad, und versuchte ihn zu beruhigen. Meine Beine fühlten sich an wie Gelee. Er schien keinen Wert auf meine Bemühungen zu legen, warf weiterhin seinen Kopf hin und her und zog so sehr am Zügel, dass mir die Handinnenflächen schmerzten. Es brauchte eine ganze Weile, ehe er sich wieder einigermaßen beruhigte. Ich sprach versuchend: »Jiiierch!«, aber Abjad bewegte sich nicht und schaute mich nur grimmig an. Ein Stock musste her. Kaum hatte ich einen auf dem Wüstenboden gefunden und diesen in der Hand, wurde der Wüterich lammfromm und legte sich mir brav zu Füßen. Schlagen brauchte ich ihn glücklicherweise nicht, der bloße Anblick reichte ihm. Das hätte ich sicher auch nicht gekonnt. Ich hievte den Sattel wieder auf den Höcker und befestigte den Bauchgurt diesmal fester und gewissenhafter. Als ich gerade aufsteigen wollte, warf Abjad seinen Kopf erneut herum. Erschrocken wich ich zurück. Das Kamel blökte lautstark und stand einfach ohne mich auf. Ich fluchte, aber wusste ja nun was zu tun war: Stock zeigen und resolut den Befehl erteilen. Er ging in die Knie.

›Na super!‹, jubilierte die Freude, langsam verstanden wir uns.

Wieder obenauf prüfte ich den Sattel auf seine Festigkeit durch kräftiges Rütteln, indem ich mich ruckartig nach rechts und links bewegte. Alles schien fest. Ich hatte den Bauchgurt aber auch so stark angezogen, dass mir dicke Schweißperlen die Stirn hinuntergelaufen und an meinen Schläfen die Adern hervorgetreten waren. Wir ritten ohne weitere Arbeit für die gestresste Nebenniere heim ins Camp. Der Ausflug fiel kürzer als geplant aus. Es war besser, sich vor dem nächsten Ausflug noch mal erklären zu lassen, wie man ein Kamel fachmännisch sattelte. Doch trotz des kleinen Missgeschicks war ich von meinem ersten alleinigen Kameltrip wie berauscht.

 

Abjad war direkt vor meinem Zimmerfenster angebunden und ich reichte ihm schuldbewusst den ganzen Tag über immer wieder kleine Leckereien durch die Luke. Ich hoffte, dass er mir somit diesen ersten Patzer möglichst bald vergeben würde. Es war ein guter Start in den Tag, wenn ich morgens beim Erwachen seine Schmatzgeräusche am Fenster vernahm oder sein Maul erblickte, das sich in freudiger Erwartung durch das winzige Fenster in mein Zimmer schob.

Meine Sattelkünste wurden langsam besser, da ich mich nun auch ohne Kamel öfter bei den jungen Beduinen aufhielt, die Kameltouren anboten. Einige von ihnen baten mich, ihnen Touristen zu vermitteln. Sie gaben mir im Gegenzug freundlich und unermüdlich Auskunft über meine Fragen und zeigten mir die nötigsten Handgriffe. Keiner von ihnen teilte Sahis Skepsis, ausnahmslos alle beglückwünschten mich zu meinem Kauf.

Eines Morgens, als ich gerade vom Frühstück am Strand zurückkam, saß Sahi mit einem alten Mann im Camp und plauderte. Sahi winkte mich heran. Der betagte Beduine wollte, dass ich auch ihm Touren vermittelte und bot dafür an, mir alles beizubringen, was man über ein Kamel nötigerweise wissen sollte. Jimme schien sehr vertrauenswürdig und gefiel mir auf Anhieb. Wir machten aus, dass ich mich bei ihm melden würde, wenn ich Touristen gefunden hätte, die mit uns in die Wüste wollen.