Fliegende Teppiche

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›Ich sehe die Karies förmlich wachsen‹, gab auch die Vernunft ihren Senf dazu.

Einer der Männer lachte gerade mit weit offenem Mund und entblößte eine Reihe sehr brauner Zähne.

Die Ironie riet mir: ›Vielleicht solltest du nächstes Mal statt Bonbons und Kugelschreiber auch Zahnbürsten mitnehmen.‹

Verschiedene Versuche der Frauen, sich mit mir zu verständigen, blieben ohne Erfolg und ich nahm mir an diesem ersten Tag bei den Beduinen fest vor, arabisch zu lernen. Der Klang der beduinischen Sprache war sehr melodisch, erschallte wie Musik in meinen Ohren und ich wollte zu gern wissen, was mir die Menschen hier erzählen konnten. Es war sehr eindrucksvoll für mich, einen so unverfälschten Einblick in das Leben der Beduinen zu bekommen, aber dass ich nicht in der Lage war, mich mit ihnen zu unterhalten, bereitete mir Unbehagen. So beobachtete ich für eine Weile die mir präsentierten Alltagsszenen. Hinter den Frauen spielten zwei kleine Jungen ohne Hosen im Kies und steckten alles in den Mund, was sie mit ihren Patschehändchen ergreifen konnten. Ihre Gesichter waren verschmiert und um den Mund herum klebten kleine Kiesel. Bei jeder ihrer Bewegungen flogen zahlreiche Fliegen auf, nur um sich Sekunden später wieder in ihre kleinen süßen Gesichter zu setzen. Die Jungen schienen sich daran gewöhnt zu haben und beachteten sie nicht. Die Mütter zeigten denselben Gleichmut. Zwei Männer erhoben sich und verschwanden grußlos. Das Mädchen, das mich hergeführt hatte, bat ihre Mutter um etwas. Die Mutter beachtete sie nicht. Das Mädchen wurde lauter und fordernder, doch die Mutter unterhielt sich weiter mit einer anderen Frau, ohne das Mädchen auch nur im Geringsten wahrzunehmen. Es begann an der Kleidung ihre Mutter zu zerren und bettelte nun regelrecht. Auf einmal herrschte die Mutter ihre Tochter in lautem Ton an und schubste sie ziemlich barsch auf den Kiesboden. Jetzt fing die Kleine an zu heulen und versuchte, ihren Willen mit verweinten, Mitleid erzeugenden Blicken durchzusetzen und fragte abermals. Während die Mutter weiter mit der anderen Frau redete, zog sie ein Portemonnaie aus dem Dekolleté und gab ihrer Tochter einen Geldschein. Diese wischte sich schnell mit ihrem Hemdärmel den Rotz aus dem Gesicht, lachte und rannte nach draußen. Einige Minuten später kam sie mit einer Packung Keksen zurück. Jetzt wunderte mich die Eindringlichkeit des Mädchens nicht mehr. Ihre Beharrlichkeit hatte sich in diesem Fall gelohnt. Ohne Aufforderung gab sie mir und den Jungen etwas ab - den Fliegen sah man die Partystimmung an.

Mit Zeichensprache versuchte ich, den Frauen nach dem dritten Glas Tee klarzumachen, dass ich nun zurück musste, und ebenso gestikulierend entgegneten sie, dass ich wiederkommen sollte. Es schien für diese Familie ganz und gar normal zu sein, mich als völlig Fremde in ihr Haus einzuladen, und ich fragte mich, ob mir so etwas jemals in Deutschland passieren könnte - höchst unwahrscheinlich.

Wieder im Camp trieb uns mittags der Hunger in ein kleines Restaurant am Strand. Dort setzten wir uns an einen der drei niedrigen Tische, die auf Teppichen standen. Unter den bunten Flickenteppichen befanden sich Matratzen und Palmstämme, die als Rückenlehne dienten. Die großzügig verteilten, farbenfrohen Kissen luden zur Gemütlichkeit ein. Am Nachbartisch schlief ein Beduine mit einem über sein Gesicht ausgebreiteten Kopftuch. Ich machte es mir zwischen den vielen Kissen auf dem Boden bequem. Ein Sudanese begrüßte uns ausgesprochen freundlich und empfahl ein beduinisches Gericht mit Huhn. Das Huhn wurde mit Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln Zucchini und einigen Gewürzen in Aluminium im Feuer bereitet und schmeckte hervorragend. Besser hätte ich in Berlin in einem der teuersten Restaurants nicht essen können. Nach dem opulenten Mittagstisch rauchten wir gemeinsam mit dem Sudanesen eine Shisha, eine arabische Wasserpfeife, und genossen die bequeme Art, sich auf dem Boden zu lümmeln.

»Welcome, welcome!«, tönte es plötzlich neben uns. Ein hochgewachsener Beduine, in strahlend weißem Gewand, mit einer dick gefütterten Weste, sprang leichtfüßig über die Kissen und setzte sich ohne Aufforderung zu uns.

›Wie kann dieser Mensch bei 45 Grad im Schatten eine mit Fell gefütterte Weste tragen?‹, fragte sich mein Verständnis.

›Frag ihn doch!‹, konterte der Wissensdrang, aber der gut gelaunte Beduine gab mir keine Gelegenheit dazu.

»Woher kommt ihr?«, fragte er frei heraus.

»Aus Deutschland.«

»Ahhh, deutsche Leute mag ich sehr gerne«, sagte er auf Englisch. Und mit »Guten Tag, wie geht es Ihnen? Alles Scheiße heute und dem Lied, Alle Vögel sind schon da ...«, präsentierte er uns seine Deutschkünste in einer bemerkenswerten Schnelligkeit und Auswahl. Er selbst lachte am lautesten über sein Repertoire.

»Wenn ihr wollt, kommt später zu der großen Hütte dort drüben«, fuhr er fort und zeigte auf einen verfallenen Wellblechschuppen.

»Da treffe ich mich am Abend mit meinen anderen Freunden. Die sind wirklich nett. Ich heiße übrigens Soliman, und Ihr?«

Während er wieder aufstand, stellten wir uns alle vor. Theatralisch schüttelte er jedem mit einer überschwänglichen Verbeugung die Hand. Daraufhin ging er, ebenso plötzlich wie er aufgetaucht war, drehte sich im Gehen noch einmal kurz um und rief, bevor er zwischen den Palmen verschwand: »Ich erwarte euch!«

Da wir keine anderen Pläne hatten, schlenderten wir nach Sonnenuntergang an den beschriebenen Platz. Wir klopften und wurden eingelassen. Schon an der Tür schlug mir ein süßlicher Geruch in die Nase. Mich umschauend ahnte ich, woher der Duft kam. Um einen alten Eisentisch herum saßen ein paar Beduinen und einige israelische Touristen, die ein riesiges Schillum, eine indische Haschischpfeife, rauchten. Wir waren junge, experimentierfreudige Studenten und so nahmen auch wir, nachdem wir zwischen den anderen Platz genommen hatten, die Pfeife entgegen und ich inhalierte den Rauch wohl etwas zu reichhaltig. Ein heftiger Hustenanfall war das Resultat, während sich für kurze Zeit alles um mich herum drehte. Als mein Gleichgewichtssinn sich wieder eingependelt hatte, erreichte ich nach kurzer Zeit einen Zustand absoluter Freude und Gelassenheit. Ein breites Grinsen setzte sich in meinem Gesicht fest und verblieb dort den Rest des Abends. Unser Gastgeber nahm ein Leinensäckchen aus seiner Innentasche und ich traute meinen Augen nicht. Zum Vorschein kam ein riesiges Stück Haschisch, von der Größe und Form einer Tafel Schokolade, nur doppelt so dick. Es hatte einen in Rot aufgedruckten libanesischen Stempel mit dem Symbol der Zeder. Er brach es in vier Teile. Nachdem er etwa drei Viertel wieder in seiner Westentasche verstaut hatte, nahm er das abgebrochene Viertel zwischen seine Handballen, zerdrückte das Stück und ließ es auf den Tisch rieseln. Das zu Bröseln zerfallene Haschisch schüttete er in eine große Tasse und fügte den Tabak einer ganzen Schachtel Zigaretten hinzu. Dann stopfte er wieder und wieder die Pfeife und drehte einen Joint nach dem anderen. Kleine, dicke, dünne, sogar einen, der wie eine Mistgabel aussah und drei Tüten auf einmal beinhaltete. Das Drehen von Joints schien sein liebstes Hobby zu sein, er war geradezu ein Perfektionist auf diesem Gebiet. Wir rauchten wörtlich bis zum Umfallen. Denn nach circa einer Stunde kippte der erste Israeli einfach nach hinten über, Gott sei Dank auf eine Matratze und schlief an Ort und Stelle ein. Unser Gastgeber legte ihm, mit einem Grinsen, das mich an die Katze aus »Alice im Wunderland« erinnerte, eine Decke über und fuhr fort, uns zu unterhalten.

Mein Freund und ich erwachten in unserer Hütte. Ich hatte nur noch eine schemenhafte Erinnerung, wie wir inmitten der Nacht zurückgeschlendert waren. Noch am Morgen fühlte ich mich wie in Watte gepackt und nach der ersten Zigarette hatte ich das Gefühl, erneut vollkommen benebelt zu sein. Ich musste dringend ins Wasser. Wir wollten den Tag mit der Literatur unserer Semesterarbeiten am Strand verbringen und schnorcheln gehen. Das Equipment dafür gab es günstig bei dem Sudanesen im Restaurant zu leihen.

Man musste beachtlich weit hinaus laufen, um in tiefes Wasser zu gelangen, aber es war den langen Weg mehr als wert. Kaum hatte ich die Taucherbrille aufgezogen und war über die Riffkante abgetaucht, wurde ich regelrecht erschlagen von der Fülle der Meeresbewohner und schimmernden Farbvielfalt unter Wasser: Korallen in allen Größen und Formen, Schwämme und Muscheln, die sich sofort schlossen, sobald ich ihnen zu nah kam und Unmengen verschiedener Fische, wohin ich auch blickte. Das Wasser war tiefblau und glasklar. Ich hatte schon gehört, dass das Rote Meer ein Tauchparadies sein sollte, doch so schön hatte ich es mir im Traum nicht vorstellen können.

Die überwältigende Unterwasserwelt zog mich völlig in ihren Bann und ich merkte erst an meinen brennenden Schultern, dass ich schon viel zu lang schwamm und staunte. Das Gefühl, eine ganz neue Welt zu entdecken, stieg in mir empor. Dazu kam die himmlische Ruhe unter Wasser.

›I want to be - under the sea‹, sang mein Gemüt fröhlich.

Am Abend trafen wir wieder den Meister des Jointdrehens, der uns erneut in seine Wellblechhütte einlud. Doch wir waren uns einig, dass wir nicht noch einmal solch einen Abend überleben würden, und lehnten dankend ab. Wir trafen am blauen Bus andere Beduinen und einige Touristen, die sich um ein Feuer versammelt hatten. Der Beduine, dem dieser Platz gehörte, hatte sich eine Küche in einen alten Bus gebaut, ihn blau angemalt und bewirtete davor auf den typischen Sitzgelegenheiten am Boden seine Touristen. Die Beduinen erzählten einiges über ihr Leben und die Touristen über Erlebnisse von hier und aus fernen Ländern, die sie bereist hatten.

Wir saßen nun unsere restlichen verbleibenden Tage am Abend dort.

›Hier erfährst du weit mehr über die zeitgenössische Welt dort draußen als in deiner gesamten Schulzeit‹, stellte die Erkenntnis fest.

 

Das Frühstück war beendet und ich entschied, nach Nuweiba aufzubrechen. Sahi war etwas traurig, aber ich wollte mehr über die Beduinen erfahren und das ging in Nuweiba besser.

Dort war es noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich bezog eine kleine Hütte am Strand und stürzte mich ins Meer, das mich immer stärker in seinen Bann zog. Stundenlang schwamm ich an dem Riff entlang und entdeckte immer wieder neue Fische und Korallen. Ein kleines Paradies unter der Oberfläche. Am Strand konnte man sich frei bewegen, ohne unangenehm angesprochen oder beobachtet zu werden. Sowohl die Einheimischen als auch die Touristen waren erfrischend freundlich zueinander. Man lächelte sich an und sprach mit jedem, den man traf, ein paar Worte. Abends saß ich mit den Beduinen und den anderen Urlaubern am Feuer und trank mehr Tee als in Berlin über das ganze Jahr verteilt. Wenn ich müde wurde, nahm ich meinen Schlafsack und legte mich zum Schlafen an den Strand. Einige Beduinen taten das auch und hatten mir versichert, hier absolut sicher zu sein, sie würden schon auf mich acht geben. Wo konnte man dies noch als alleinreisende Frau?

Morgens erwachte ich von dem Geräusch der Wellen und der aufgehenden Sonne. Das Schlafen im Sand war zwar hart, aber wie Balsam für meinen immer wieder schmerzenden Rücken. Gleich am zweiten Tag traf ich vor meiner Hütte die Kleine wieder, die mich damals mit ins Dorf genommen hatte und ließ mich gerne wieder von ihr an die Hand nehmen und zu ihrer Familie führen - nicht ohne eine eigens für diesen Ausflug mitgebrachte Tasche mitzunehmen. Die Familie freute sich sehr, mich wiederzusehen, und ich verteilte ein paar Geschenke. Für die Frauen hatte ich Parfum und Cremes, für die Kinder Zahnbürsten, Stifte und Süßigkeiten. Meiner kleinen Freundin Chadidscha schenkte ich eine Puppe. Ihre großen staunenden Augen, als sie das Babyimitat das erste Mal schwenkte und dieses ein lautes »Mama« von sich gab, waren unvergesslich. Sofort wollten alle anderen, selbst die Erwachsenen, die Puppe einmal ausprobieren und das Lachen nahm kein Ende mehr. Ausnahmslos alle Anwesenden wurden plötzlich zu fröhlich verspielten Kindern. Dass mein Geschenk so viel Heiterkeit auslösen würde, hatte ich nicht vermutet und war daher sehr angenehm überrascht. Die Mutter bat mich, am nächsten Tag zum Mittagessen zu kommen. Ich erschien dort nachdem der Muezzin zum Al Suhar, dem Mittagsgebet, gerufen hatte. Der Hausherr hatte extra für mich eine Ziege geschlachtet. Ich wurde aufgefordert, mit Selma, der ältesten Tochter, getrennt von der Familie zu essen. Wir bekamen eine riesige Platte Reis vorgesetzt, auf deren Mitte ein Berg Fleisch lag, der rundherum sehr dekorativ mit Gurken- und Tomatensalat verziert war. Dazu gab es das köstlich schmeckende, frische, noch warme Fladenbrot und eine Schüssel mit Suppe. Das unerwartet äußerst zarte Ziegenfleisch schmeckte fantastisch. Mir wurde zwar ein Löffel angeboten, aber ich versuchte, wie Selma mit der Hand zu essen. Das stellte sich als gar nicht so einfach heraus, denn man durfte nur die rechte Hand benutzen. Die linke Hand galt bei den Moslems als unrein. Ich nahm wahr, dass sich mittlerweile sehr viele Leute eingefunden hatten. Über den ganzen Hof waren Gruppen mit Menschen verteilt, die sich über das Festessen sichtlich freuten. Der Hof leerte sich recht schnell wieder, nachdem das Essen beendet war. Ein paar Frauen und eine ganze Schar junger Mädchen halfen der Hausherrin aufzuräumen und abzuwaschen. Als ich ein paar Gläser zusammenstellen wollte, wurde ich sehr energisch daran gehindert, mich nützlich zu machen. Ein Mädchen brachte mir schnell ein Kissen, dazu ein Glas Tee und unterstrich damit den Wunsch der Gastgeber, ich solle es mir gemütlich machen und das süße Nichtstun genießen. Nachdem alle Arbeiten erledigt waren, setzte sich Selma zu mir. Sie hatte bis vor Kurzem noch bunte Bänder, selbst genähte Hosen und anderes Beduinenhandwerk an Touristen verkauft und sprach recht gut Englisch. Auch Hebräisch konnte sie, wie sie mir stolz erzählte. Als wir kurz allein waren, vertraute sie mir an, dass sie nächste Woche heiraten würde und wie glücklich sie wäre, einen so tollen Mann wie Ateiek gefunden zu haben.

»Durftest du dir deinen Mann selber aussuchen«, fragte ich neugierig.

»Ja, Allah sei Dank, ich kenne ihn schon, seit ich denken kann. Er wohnt direkt nebenan, und so kann ich immer nah bei meiner Familie bleiben. Er hat mir ein sehr schönes Haus gebaut - mit drei Zimmern!«, ergänzte sie hocherfreut.

»Wäre es schwer für dich, in eine andere Gegend zu ziehen?«, bohrte ich weiter.

»Misch mumkin - nicht möglich!«, schoss es aus ihr heraus, und sie nahm schnell die Hand vor den Mund, damit die deutschen Kekse, die sie genussvoll knabberte, nicht folgen konnten. Mit vollem Mund zu sprechen war hier anscheinend nicht tabu.

»Hier sind alle meine Freundinnen, und wenn mir mein Mann später einmal Ärger machen sollte, sind meine Brüder und meine Familie gleich zu Stelle.«

»Wie alt bist du?«, wollte ich noch wissen. Sie wirkte auf mich wie ein unbedarfter Teenager.

»16, im Frühling werde ich 17«.

»Oh, das ist aber sehr jung«, gab ich zu Bedenken, »bist du dir wirklich schon sicher, dass er der Mann deines Lebens ist?«

»Das war ich schon, als ich noch klein war«, entgegnete sie vollkommen überzeugt. »Außerdem will ich mein eigenes Haus haben. Hier bin ich die Älteste und muss für die ganze Familie von Hand waschen, aufräumen, Essen kochen…eben alles machen, das im Haus anfällt. Du hast gesehen, wie groß unsere Familie ist. Erst einmal nur für einen da zu sein und zu sorgen, wird wunderbar werden.«

»Wer waren denn die anderen Leute, die eben beim Essen da gewesen sind?«

»Wenn bei uns oder den anderen Familien eine Ziege geschlachtet wird, spricht es sich oft durch die Kinder schnell herum und die ganze Nachbarschaft kommt vorbei«, klärte sie mich auf. »Jeder ist überall willkommen! Es ist nicht vorstellbar, einem Gast das Essen zu verweigern.«

»Und wenn das Essen nicht ausreicht?«, fragte ich weiter.

»Es reicht immer. Wenn nicht viel da ist, essen eben alle weniger.«

Ich musste an meine Oma denken. Sie hatte ein Geschirrhandtuch besessen, auf dem eingestickt war: »Fünf sind geladen, Zehn sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen.« Es schien früher in Deutschland ähnlich gewesen zu sein. Heute kommt das wohl eher selten vor.

»Womit verdient deine Familie euer täglich Brot?«

»In unserer Familie sind alle Fischer. Schon seit Generationen. Mein Vater hat ein Boot und meine Brüder gehen fast täglich mit Netzen fischen. Siehst Du die drei Tiefkühltruhen dort?«

Sie zeigte auf einen aus groben Brettern gezimmerten Unterstand.

»Die sind randvoll! Oft fahren wir alle zusammen für einige Tage oder manchmal sogar Wochen an fischreiche Plätze und trocknen den gefangenen Fisch. Meine Brüder verkaufen diesen dann an die Beduinen in den Bergen, die sehr selten weder frischen noch getrockneten Fisch bekommen. Meine Mutter und ich übernehmen den Fischverkauf hier im Dorf.«

Wir gingen zusammen zu den Truhen und stolz zeigte sie mir, was ihre Familie erwirtschaftet hatte. Große und kleine Fische waren in Plastikkisten nach ihrer Art unterteilt und bis zum Deckel gestapelt. Auch einige Oktopusse waren darunter.

Als die Mutter des Mädchens mir später ein Nachtlager anbot, war ich wieder überrascht, wie weit die Gastfreundschaft der Menschen hier ging. Ich schlug ihr Angebot dreimal aus, das bedeutete, dass ich wirklich zurückwollte. Gerade am Vortag hatte ich mich erkundigt, warum mir immer alles mehrfach angeboten wurde, obwohl ich doch schon dankend abgelehnt hatte. Das wäre bei den Wüstenbewohnern so üblich, wurde mir erklärt. Oft würden Menschen aus Höflichkeit oder Verlegenheit etwas ablehnen, was sie eigentlich doch gern hätten und so blieben ihnen noch zwei weitere Chancen, es sich anders zu überlegen oder ihre Scham zu überwinden. Sehr zutreffend und geschickt gelöst, fand ich.

Nach etwa einer Woche in Nuweiba erzählte mir ein Israeli im blauen Bus, von einem nahen Ort namens Ras Gitan. Das bedeutete Teufelskopf. Seine Schilderungen des Touristencamps dort klangen jedoch trotz des erschreckenden Namens sehr verlockend und ich entschloss mich mit ihm und einigen anderen israelischen Touristen, am Morgen dahin aufzubrechen.

In Ras Gitan war ich die einzige Europäerin. Es gab ansonsten nur Beduinen und Israelis und ich dachte schon bei der Ankunft, in die Flower-Power-Zeit zurückversetzt worden zu sein. Die Mädels trugen wallende, bunte Röcke, die Herren indische Wickelhosen und eher selten ein Shirt darüber. Tagsüber malte ich, schrieb oder ging schnorcheln. Abends trafen sich alle im einzigen Café bei einem großen Feuer. Es wurde musiziert, über Gott und die Welt palavert und vor allem viel gelacht. Jeder mochte den anderen. Schon nach ein paar Tagen hatte man das Gefühl, in einer großen Familie zu leben, in der Toleranz, Verständnis und die Liebe zum Leben großgeschrieben wurden. Ich traf dort auf viele Beduinen, die mit mir mein beliebtes Frage-und-Antwort-Spiel spielten. Es machte ihnen sichtlich Freude, dass ich mich so sehr für ihr Leben interessierte. Mehrmals wurde ich mit ins Dorf genommen und bei den Frauen abgesetzt, wo ich mein Spiel weiter treiben konnte.

Da sich damals noch sehr wenige Touristen nach Ras Gitan verirrten, war das Riff sehr gut erhalten und ich war hellauf begeistert, dass die Vielzahl der Farben und Fische, die ich bisher gesehen hatte, hier noch übertroffen wurde. Eines Nachmittags, als ich am Strand lag und aufs Meer hinaus schaute, sah ich nicht weit vom Riff entfernt eine Gruppe von sechs Delfinen, die munter mit hohen Sprüngen durch das Wasser schossen. Zusammen mit den Farben des nahenden Sonnenuntergangs war der Anblick atemberaubend.

Beim täglichen Schnorcheln hatte es mir ganz besonders ein kleiner Tintenfisch angetan. Er hatte es sich in einem alten Autoreifen bequem gemacht, der wohl schon Jahre hier im Meer lag. Er war so sehr mit in allen Farben leuchtenden Korallen und Algen zugewachsen, dass man ihn kaum noch als Reifen erkennen konnte. Der Tintenfisch schien nicht im Geringsten Notiz von mir zu nehmen und gab mir die Möglichkeit, ihn ausgiebig zu beobachten. Der deplatzierte Gegenstand war sein Stammplatz, denn wann immer ich zu der Stelle schnorchelte, fand ich ihn in seinem kleinen Reich.

Die Zeit der Abreise nach Deutschland nahte. Mein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an den bevorstehenden Abschied. Mir wurde immer öfter schwindelig und in Intervallen überkam mich eine leichte Übelkeit. Eine typische Körperreaktion, wenn mir etwas bevorsteht, dem ich gar nicht freundlich gesonnen bin. Tief im Inneren wollte ich wohl nicht mehr weg von hier. Die Abende mit den Beduinen und den Israelis am offenen Feuer waren mir so lieb und vertraut geworden, dass der Gedanke an das graue Alltagsleben in Berlin mir sehr zusetzte. Am Vorabend der Rückreise war ich ein in mich verschlossenes Bündel der Trauer. Ich lag allein vor meiner Hütte, direkt am Strand, auf den wunderschönen sauberen Steinen, und schickte ein Versprechen in den mit Sternen übersäten Himmel: Es wird nicht viel Zeit vergehen und ich komme wieder. In das Land der Stille, der Beduinen und der malerischsten Farben unter und über Wasser.