Fliegende Teppiche

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Urlaub im Sinai

»Das Glück muss entlang der Straße gefunden werden,

nicht am Ende des Wegs.«

- David Dunn -

Es gab endlich Direktflüge nach Sharm El Sheikh. Bei den ersten Urlauben hatte ich den umständlichen Weg über Ungarn oder die Tschechei nehmen müssen. Das hieß, man musste lange auf Flughäfen warten und die gesamte Flugzeit betrug mehr als 12 Stunden. Außerdem gingen die Flüge mitten in der Nacht. Wie angenehm, diesmal nachmittags, nach nur viereinhalb Stunden zu landen.

Ich konnte es kaum erwarten, den Flieger zu verlassen. Nach dem unterkühlten Flugzeug erschien mir die entgegenschlagende Hitze auf dem Rollfeld wie eine glühende Wand, die zu durchschreiten war. Doch diese heiße und trockene Wüstenluft, die es den Pflanzen erschwerte zu wachsen und zu erblühen, erzeugte in mir genau das Gegenteil. Den ersten tiefen Atemzug gierig eingesogen, kam in mir der Eindruck auf, zu allem fähig zu sein - sogar ohne Angst diesen Bus zu besteigen, der so aussah, als würde er nicht einmal die kurze Distanz vom Flugzeug bis zum Terminal überstehen.

Heil und unbeschadet in der Ankunftshalle angekommen, mischte ich mich in das unvergleichliche Chaos, das dort herrschte. Die Halle war mit Menschen regelrecht vollgestopft, die alle scheinbar planlos durcheinanderliefen. Ich war froh, dass ich mich inzwischen auskannte und wusste, wo man das benötigte Visum erstehen konnte. Ich war einigen Touristen behilflich, die sich hinter, vor und neben mir, mit ihren Pässen in der Hand ratlos umschauten.

Endlich draußen angelangt hielt ich nach einem Taxi Ausschau und sah glücklicherweise einen Beduinen, der mir als Fahrer aus Dahab bekannt war. Ich sprach ihn an und schnell wurden wir uns über einen Fahrpreis einig.

Nachdem die Touristen, auf die er gewartet hatte, hinzugekommen waren, fuhren wir Richtung Dahab los. Kaum hatten wir das Flughafenareal verlassen, sah ich sie in der Ferne: die Berge. Schier endlos zogen sie sich durch den ganzen Sinai. Ein massiver, sich nur leicht verändernder Ruhepol, der mir sicher auch diesmal wieder etwas von seiner unendlichen Kraft abgeben würde.

Das junge deutsche Paar im Taxi war mir sehr sympathisch. Auch für sie war dies nicht der erste Urlaub im Sinai.

»Sagt mal«, fragte ich sie spontan auf halber Strecke, »habt ihr vielleicht Lust, kurz anzuhalten und eine kleine Pause einzulegen?«

»Ja, warum nicht, wir haben es nicht eilig«, erwiderte die junge Frau.

»Hast du einen Teepott und Tee dabei?« wandte ich mich an den Fahrer.

»Natürlich! Warum?«, war seine von mir erhoffte Antwort.

»Ich hab es so vermisst, unter einer Akazie zu sitzen und Tee zu trinken. Ich kann es nicht abwarten«, frohlockte ich.

Der Fahrer freute sich sichtlich über meinen Vorschlag und hielt nach einigen Minuten an einem schönen Platz mit einem großen Baum an. Wir sammelten heruntergefallenes Holz der Akazie und entzündeten ein Feuer. Der Beduine bereitete den Tee. Als er ein wenig Fladenbrot aus dem Auto holte, ging auch ich an meine Tasche und steuerte deutschen Käse bei.

»Welch ein schöner Urlaubsanfang«, sagte der Deutsche und seine Freundin und ich nickten zustimmend.

In Dahab angekommen ließ ich mich am »Fighting Kangoroo« Camp absetzen und schmunzelte wieder über das handgemalte Schild über der Eingangspforte, auf dem ein kindlich gemaltes Känguru mit Boxhandschuhen abgebildet war und lachend seine Fäuste gegen eine Palme erhob.

Schon beim Eintreten wurde ich freudig von den beduinischen Betreibern begrüßt. Glücklich, die alte Besatzung wiederzusehen, ließ ich mich gerne, noch bevor ich meine Koffer in mein Zimmer brachte, zu einer weiteren Tasse des typisch süßen Tees einladen.

Ich hatte mit den Angestellten des Camps im vorherigen Urlaub viel Zeit verbracht. Sie langweilten sich oft, wenn sie das Camp, das sich in Familienbesitz befand, beaufsichtigen mussten und ich wollte schon damals alles über Land und Leute herausfinden. Die Jungs waren noch Teenager und ebenso an meinem Leben interessiert wie ich an ihrem. Die meiste Zeit verbrachte ich damals mit Sahi, mit dem ich mich vom ersten Moment an prächtig verstand. Wir konnten über Vieles lachen und er hatte immer Lust, etwas zu unternehmen.

Ich war froh, nicht allein an den Strand gehen zu müssen. Das hatte den Vorteil, dass man nicht permanent von den ägyptischen Shopbesitzern angesprochen wurde. Alle paar Meter wollte mir jemand etwas verkaufen, mich auf einen Tee einladen oder sich mit mir die Zeit vertreiben. Auf diese Small Talks hatte ich selten Lust, vor allem, da sie den Nachteil hatten, dass jeder, mit dem man einmal geredet hatte, einen sofort als seinen Freund bezeichnete und bei jedem weiteren Standbesuch wieder in ein Gespräch verwickeln wollte. Ich bevorzugte alles in Ruhe zu genießen oder von Sahi mehr über die Beduinen zu erfahren. Die Männer in den Cafés und Shops der Promenade waren zum größten Teil Ägypter und für mein Empfinden viel zu aufdringlich. Fast schon penetrant versuchten sie, die Touristen in Gespräche zu verwickeln. Mit einem sehr üppigen Repertoire an zumeist ziemlich flachen Sprüchen versuchten sie die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden auf sich zu lenken. Die Beduinen, die nicht so zahlreich vertreten waren, gaben mir hingegen nie das Gefühl, mich in irgendeiner Art zu bedrängen.

Abends gingen Sahi und ich manchmal in die Disco. Aber nachdem er wegen mir einmal von der Polizei kontrolliert und abgeführt wurde, mochte ich dieses Risiko nicht wieder eingehen. Den Einheimischen war es verboten, mit Touristinnen auszugehen, und wir mussten immer aufpassen, nicht von den Beamten erwischt zu werden. Als sie Sahi damals abgeführt hatten, rannte ich vollkommen aufgelöst zurück ins Camp und erzählte den anderen Jungs, was geschehen war. Sie beruhigten mich; man würde Sahi nur so lange in Gewahrsam halten, bis sein Bruder ihn abholen würde. Sahis Familie hätte einen guten Draht zu der örtlichen Polizei. Tatsächlich war er am nächsten Vormittag schon wieder im Camp und erzählte mir, dass sein Bruder ihn nachts noch abgeholt hatte. Für ihn war es nichts Besonderes, als Beduine von der Polizei mitgenommen und verhört zu werden. Mich hatte der Vorfall allerdings so erschreckt, dass ich mich zukünftig lieber an Plätzen mit ihm aufhielt, wo weniger Polizei unterwegs war.

Nachts legte ich meinen Schlafsack neben seinen auf das Campdach und wir redeten oft bis die Sonne wieder aufging. Unsere Unterhaltungen waren wegen der Sprachbarrieren sehr zeitintensiv. Er brachte mir die ersten Worte Arabisch bei und ich verbesserte sein Englisch. Oftmals malte ich ihm Sachen auf, um mich verständlich zu machen, und staunte, wie schnell er lernte. In Berlin dachte ich immer gern an diese ungezwungenen und entspannten Abende mit ihm und freute mich nun, ihn wiederzusehen.

»Wo ist denn Sahi?«, fragte ich Chalid.

»Der schläft wie üblich oben auf dem Dach, faul wie immer«, entgegnete der Teenager lachend. »Wenn du ihn nicht weckst, schläft er sicher noch ein paar Stunden.«

Chalid trug mir meine Koffer in mein altes Zimmer und ich ging den gewohnten Weg zur Dachterrasse, die noch vor ein paar Monaten mein bevorzugtes Nachtlager gewesen war.

Mich leise an Sahi anschleichend, verweilte ich einen Moment an der Brüstung und war beruhigt, die Aussicht noch immer so atemberaubend wie damals vorzufinden. Ein weitläufiger, dunkelgrüner Teppich, aus sich im Wind schwenkenden Palmen, ging über in das kräftige Blau des Meeres und bildete einen malerischen Kontrast zu den Bergen von Saudi Arabien im Hintergrund.

»Hey, kleiner Bruder, ich bin wieder da«, flüsterte ich leise auf Arabisch und rüttelte den tief Schlafenden sachte an der Schulter.

»Tayeb, tayeb!«, gut, gut!, knurrte Sahi und drehte sich mürrisch weg.

Eine Sekunde später warf er sich blitzartig wieder herum und schaute mich ungläubig aus verschlafenen Augen an.

»Ya marhaba!«, herzlich willkommen!, begrüßte er mich, indem er die Worte extrem in die Länge zog und damit sein Staunen und seine Freude gleichermaßen zum Ausdruck brachte.

»Wie geht es dir?«, fragte er mich.

»Gut! Ich bin unendlich froh, wieder hier zu sein. Wie geht es dir?«

»Müde«, entgegnete er und unterstrich das Ganze mit einem ungenierten Gähnen.

»Ja, so kenne ich dich«, sagte ich fröhlich und freute mich schon, mit ihm noch heute oder morgen zu seiner Familie ins Dorf zu gehen, was er mir beim letzten Mal versprochen hatte.

Bei seinem kargen Frühstück aus Tee und Fladenbrot um vier Uhr nachmittags leistete ich ihm Gesellschaft. Ich erzählte ihm, was ich in der Zwischenzeit gemacht hatte und gab ihm den Walkman, den ich für ihn mitgebracht hatte. Leider hatte Sahi keine Lust ins Dorf zu gehen und vertröstete mich auf morgen. Doch auch am nächsten Tag schlief er morgens sehr lang, mittags wieder und verschob unseren Ausflug erneut um einen ganzen Tag.

Er hatte sich verändert und war nicht mehr der witzige, lebenslustige Typ, mit dem ich im letzten Urlaub so viel Spaß gehabt hatte. Am dritten Tag ließ er sich doch noch überreden und wir zogen los.

Zuerst liefen wir etwa zwei Kilometer am Strand entlang. An einem herrlichen, großen Palmengarten, der seiner Familie gehörte, bogen wir ins Dorf ab. Sofort hefteten sich ein paar Kinder an unsere Fersen und bestürmten Sahi mit Fragen, die zum größten Teil mich betrafen. Bei seinem Elternhaus angekommen, liefen die Kinder zuerst in den Vorhof und riefen immer wieder: »Eine Ausländerin ist da, eine Ausländerin ist da!«

Als ich hinter Sahi auf den Hof kam, erhoben sich alle und gaben mir mit kurzer Begrüßungsfloskel die Hand. Die Familie war diesen Nachmittag vertreten durch zwei seiner Schwestern und deren Töchter. Dazu kamen ein paar Freundinnen aus der Nachbarschaft. Sahi sagte mir, die Mädchen würden mich sicher gut unterhalten und verschwand einfach, bevor ich etwas darauf erwidern konnte. Recht unsicher und verwirrt blieb ich inmitten der Frauen stehen. Doch die bildhübschen Teenagerinnen verwickelten mich schnell und ungezwungen in ein Gespräch und wir hatten keinen Moment einer peinlichen Situation des gegenseitigen Anschweigens. Je nachdem, wie es einfacher war, sich auszudrücken, redeten wir Arabisch und Englisch durcheinander. Die älteste Tochter des Hauses, Solima, sprach gut Englisch und übersetzte für die älteren Frauen, die keine Schule besucht hatten. Wenn ich Arabisch sprach, amüsierten sich die Beduininnen köstlich über meine Aussprache, denn ich schaffte es nie, das »r« zu rollen, was sich für sie wohl sehr spaßig anhörte. Mein Professor auf der Universität hatte sich redlich bemüht, es mir beizubringen, doch nach zehn vollen Minuten gab er entnervt auf und behauptete, ich wolle es vielleicht einfach nicht lernen. Das war natürlich Unsinn, aber wenn ich versuchte, meine Zunge vibrieren zu lassen, kam da immer nur ein »zsss« oder »drrr« heraus.

 

Sahis Mutter war eine schon damals sehr alt wirkende Frau, mit markanten Falten, die sich vertieften, wenn unsere Blicke sich trafen, da sie mir bei jedem Blickkontakt ein herzliches Lächeln schenkte. Die Gesichter der älteren, verheirateten Frauen waren bis über die Nase mit einem Tuch bedeckt, und ich sah nur ihre Augen, die durch die schwarze Verschleierung, die wie ein Rahmen wirkte, eine erhöhte Ausdruckskraft bekamen. Beim Zuhören ließ ich den Ort auf mich wirken. Das einfach gemauerte und verputzte Haus von Sahis großer Schwester, Aida, bestand aus zwei aneinander gebauten Zimmern. Die Farbe an der Fassade war schon lange nicht erneuert worden. Kinderhände und der ewige Staub hatten dunkle Spuren hinterlassen und an einigen Ecken war der Putz abgebröckelt. Die Türen waren aus einfachem Holz und weder passten die Rahmen in das Mauerwerk noch die Türen exakt in den Rahmen.

›Auf deutsche Wertarbeit scheint hier niemand Gewicht zu legen‹, flüsterte mir die Ästhetik zu.

Ein Bretterverschlag, der etwas abseits stand und nur mit Palmwedeln abgedeckt war, diente als Küche.

Am schönsten war der Vorhof, in dem wir saßen; sehr geräumig und von einigen riesigen Dattelpalmen dominiert, die gerade herrlichen Schatten spendeten. In einer Ecke war neben den Palmen ein wackeliger Zaun gezogen, hinter dem ein kleiner Garten angelegt war. Es war ein bescheidener Wohnort, der jedoch sehr gut durchdacht zu sein schien. Solima, Sahis Nichte, führte mich zwischendurch herum und erläuterte mir dessen Vorzüge. Es gab einen abgegrenzten Platz um die Ecke, an dem die Männer saßen. So konnten sich die Frauen, wenn sie sich trafen, unbeobachtet fühlen. Direkt nebenan, nur durch eine kleine, leicht zu übersteigende Mauer und die zwei Zimmer getrennt, war das Grundstück der anderen Schwester, das in etwa dieselbe Anordnung hatte, nur dass ihre Küche gemauert war. Nach der Besichtigungstour saß ich mit den Frauen und Mädchen auf kleinen Teppichen, die sie schon bei meiner Ankunft ausgebreitet hatten, um eine große, runde Feuerstelle herum, und noch bevor ich mein Teeglas ausgetrunken hatte, bekam ich von einem der Mädchen nachgeschenkt.

Mir fiel auf, dass es immer mehr Kinder wurden, die sich zu uns setzten. Es hatte sich scheinbar herumgesprochen, dass eine Ausländerin zu Besuch war und neugierig wurde ich von ihren fast schwarzen Augen begutachtet. Sie tuschelten und kicherten und zogen wieder ab. Neue kamen. Oder waren die vorher schon mal da gewesen? Ich verlor den Überblick. Es gab sehr viele Kinder hier, stellte ich verzückt fest. Jedes Mal, wenn sie die Hoftür öffneten, versuchten die Ziegen der Familie, sich mit Vehemenz mit durch die Tür zu quetschen. Beim Hinauslaufen ließen die Kinder die Tür oftmals offen und so war eines der größeren Mädchen gezwungen, alle paar Minuten aufzustehen, um die Tiere wieder nach draußen zu scheuchen. Das war offensichtlich gar nicht so einfach, denn die Ziegen wussten sehr wohl, wo es sich besser leben ließ und das Futter zu finden war. Sie versuchten überall hin zu entkommen, nur nicht zur Tür hinaus. Manchmal mussten ein oder zwei andere Mädchen helfen, um sie endlich doch noch nach draußen zu treiben. Die Situation schien für die Bewohner vollkommen normal zu sein. Keiner schimpfte mit den Kindern oder regte sich über die Ziegen auf.

Gerade kam Sabiha, die ich vom Strand her kannte. Sie hatte mich dort schon des Öfteren beim Backgammon besiegt und damit einige Flaschen Limonade gewonnen. Ihr stets geforderter Gewinn, bevor sie mit Feuereifer zu würfeln begann. Verlor sie, so bekam ich ein Armband, das sie vor meinen Augen mit schnellen, flinken und geübten Handbewegungen aus buntem Stickgarn fertigte. Ich hatte mittlerweile schon eine beachtliche Sammlung dieser Bänder. Ich kaufte den Mädchen gerne hin und wieder welche ab, da ich wusste, dass sie mit dieser Arbeit ihre Mütter unterstützten. Sabiha war fast täglich am Strand und verkaufte diese Bänder, daher sprach sie recht gut englisch und war mir oft eine wertvolle Dolmetscherin.

Kurz vor Sonnenuntergang bereitete Solima Brotteig aus Weizenschrotmehl, Salz und Wasser, während ihre Mutter ein großes Feuer errichtete und entzündete. Der fertige Teig wurde in etwa zehn gleichgroße Fladen geteilt und dann mit einem Rundholz ausgebreitet. Sehr gekonnt warf Solima diese dann von einer Hand in die andere, bis sie sich auf einen Durchmesser von etwa einem halben Meter auseinandergezogen hatten und hauchdünn waren. Die Mutter hatte inzwischen ein gewölbtes Eisenblech über das Feuer gelegt, auf dem die Fladen nun gebacken wurden. Das erste, schön geröstete und noch heiße Stück bekam ich und ergötzte mich sowohl am Geruch als auch am Geschmack des herrlich frischen Brotes. Dazu wurde eine große Schüssel Datteln, die sehr süß und saftig waren, vor mich gestellt, dass mein Gaumen sich mehr als geschmeichelt fühlte.

Früher hatte ich mir, wohl von Vorurteilen geprägt, die muslimischen Frauen grau und unscheinbar vorgestellt. Dieser Nachmittag belehrte mich eines Besseren. Die Beduininnen waren unter ihren schwarzen Umhängen kunterbunt gekleidet und fröhlicher, als ich je eine Runde Frauen erlebt hatte. Sie lachten, redeten und scherzten ununterbrochen und ihre hübschen dunklen Augen versprühten Freude und Lebendigkeit. Als wir auf die Familienzugehörigkeit zu sprechen kamen, stellte sich heraus, dass viele der Mädchen, die sich inzwischen eingefunden hatten, verwandt miteinander waren.

Diese zufriedene Großfamilie beschäftigte meine Gedanken und weckte Sehnsüchte in mir, die tief verborgen trügerisch geruht hatten: Ich erinnerte mich an die Zusammenkünfte bei meiner Großmutter, bei denen alle meine Tanten mit ihren Kindern kamen. Ich hatte mich immer schon Wochen vorher auf diese Tage gefreut. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, gab gutes Essen, nachmittags Kuchen und wir Kinder hatten eine aufregende, zufriedene Zeit. Nachdem ich von Zuhause weggegangen war, wurden die Treffen weniger, meine Großmutter erkrankte und der Familienzusammenhalt löste sich allmählich auf. Mir wurde an diesem Tag bei der Familie bewusst, wie sehr ich im Inneren solch ein fröhliches Beisammensein vermisste. Familie war für mich sehr wichtig. Dies war letztendlich auch der entscheidende Grund, warum ich mit Klaus nicht wirklich glücklich werden konnte. In allen anderen Belangen war er fantastisch. Wir hatten sehr gehaltvolle Gespräche, nie Streit und unsere Beziehung war durchweg positiv geprägt. Uns beiden war es wichtig, den anderen aufzubauen, zu stärken und glücklich zu machen. Aber ich suchte mehr. Ich wollte meine eigene Familie gründen, in der die natürliche Geborgenheit, die man dort erfahren kann, ganz groß geschrieben stehen würde. Deutschland entwickelte sich immer mehr weg vom typischen Familiensystem. Der Individualismus war hoch im Kurs und die Menschen hatten mehr und mehr Lebensabschnittsgefährten als einen Partner, lieber etwas Unverbindliches. Verantwortung schreckte ab und immer mehr Kindern wurde durch die Trennung ihrer Eltern das Urvertrauen geschmälert. Ich sehnte mich nach der konventionellen Art von Beziehungen, wo man, vor allem wenn Kinder vorhanden waren, durch gute und auch schlechte Zeiten gehen und gemeinsam alle Hürden überwinden würde. Nachdem was ich in all den Jahren zuvor gesehen und selbst erlebt hatte, empfand ich mich manchmal als sehr romantisch - aber es war nun einmal mein Traum. Das Resultat aus einer Kindheit, die mit einem Stiefvater geprägt war, den ich verabscheute und der mir immer zu verstehen gab, dass ich eigentlich nur störte. Er war ein Mann, der uns hart arbeiten ließ und brutal schlug, wenn wir seine Befehle und Aufträge nicht sofort erledigten.

Ich wollte gerne Kinder, aber musste dazu erst einmal einen Mann finden, der das Herz am rechten Fleck hatte, vor allem verantwortungsbewusst war, selber Kinder wollte und mich liebte. Viele Ansprüche? Vielleicht. Meine Hoffnung war noch wohl auf und pfiff bei diesem herrlichen Anblick einer, wie mir schien intakten Familie, fröhliche Melodien.

Bei Sonnenuntergang tauchte Sahi so plötzlich, wie er verschwunden war, wieder auf und wir gingen zurück ins Camp.

Nach einer Woche in Dahab hatte ich genug vom Strandleben. Mittlerweile kannten mich zu viele Ägypter vom Sehen her und ich konnte keine fünfzig Schritte auf der Promenade wandeln, ohne angesprochen zu werden. Wenn ich baden ging, fühlte ich die Blicke der Männer in meinem Rücken.

Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer mit der Anmache am Strand. Die wenigen Beduinen, die man sah, hatten hingegen eine sehr angenehme, zurückhaltende Art.

Sahi hatte leider keine Lust mit mir noch einmal ins Dorf zu gehen. Ich hätte gern noch einen Nachmittag dort verbracht, war aber zu unsicher, um allein zu gehen.

Ich sehnte mich nach der Wüste und weniger Trubel am Strand.

Am nächsten Morgen beim Frühstück dachte ich an einige Szenen aus meinem ersten Urlaub in Ägypten, als ich mit Klaus, Helge und Sabine in dieses wunderschöne Land gereist war.

Wir saßen gerade in Marsa Matruh in einem Restaurant und aßen frischen Fisch, als uns ein Mann in perfektem Englisch ansprach. Wir baten ihn, sich doch zu uns zu setzen und er erzählte uns, er käme ursprünglich aus dem Irak und wäre Vertreter für Wasseranlagen. Durch seinen Beruf bedingt musste er viel in Ägypten umherfahren und langweilte sich meist auf den Fahrten, was bei ihm schnell zu Anfällen von starker Müdigkeit führte.

›Das wundert mich bei dieser extremen Hitze nicht‹, sprach mein Körperempfinden.

Es stellte sich heraus, dass wir für den nächsten Tag das gleiche Reiseziel hatten und so bot uns der freundliche Iraker kurzerhand an, uns nach Siwa mitzunehmen.

Dort angekommen lud er uns zum Essen ein und sagte, er würde in drei Tagen zurück nach Alexandria und dann nach Kairo fahren. Gerne würde er uns wieder mitnehmen. Da die Fahrt mit ihm sehr unterhaltsam war und noch dazu kostenlos, waren wir dankbar und verstauten drei Tage später unsere Taschen wieder in seinem alten Mercedes. Siwa hatte uns mit seinen alten zerfallenen Lehmhäusern und dem grünen Teppich aus tausenden von Dattelpalmen sehr gut gefallen.

Yahya kannte Ägypten sehr gut und hatte immer viel zu berichten, auch über sein Land, den Irak, der zu dieser Zeit im zweiten Golfkrieg steckte. Dort hatte er sich dem Wehrdienst verweigert und musste nun mit einer langen Gefängnisstrafe rechnen, sollte er je in sein Land zurückkehren. Er vermisste seine Familie dort sehr, denn er war sich bewusst, sie vielleicht für eine unvorstellbar lange Zeit nicht wiederzusehen. Man merkte ihm an, wie sehr er darunter litt. Wenn er erzählte, konnte man die Sehnsucht fast greifen, so stark stand sie im Raum. Wie schon auf der ersten Strecke hatte Yahya einiges an Proviant dabei. Von allem sollten wir probieren und wann immer es eine Möglichkeit an der Straße gab, etwas Neues zu besorgen, brachte er weitere Leckereien, kleine Kuchen, arabische Süßigkeiten und allerlei Obst und Getränke. Wenn wir irgendwo anhielten, zahlte er die gesamte Rechnung. Hin und wieder nahm er auch etwas von unserem Proviant an, lehnte es aber strikt ab, dass wir unterwegs in Restaurants die Rechnung beglichen.

Kurz vor dem Suezkanal stoppten wir an einem kleinen Imbiss an der Straße und bestellten alle wohlriechende Fleischspieße, die gerade frisch gegrillt wurden. Da wir ihn endlich auch mal einladen wollten, sagte ich Klaus während des Essens, er solle doch schnell zahlen gehen, sonst käme uns Yahya sicher wieder zuvor. Das tat Klaus dann auch. Eine fatale Idee, denn nach dem Essen ging unser irakischer Freund wie gewohnt nach vorne, um zu zahlen. Wutentbrannt kam er eine Minute später zurück an unseren Tisch und verlangte lautstark, dass wir unsere Taschen aus seinem Auto nehmen sollten. So wie wir hätte noch niemand zuvor seine Gastfreundschaft beleidigt. Wir wussten gar nicht, wie uns geschah und versuchten den guten Mann zu beruhigen. Doch schon ging er mit schnellen, energischen Schritten zum Auto, öffnete verärgert den Kofferraum und warf unsere Taschen sehr unsanft auf den Boden. Dann setzte er sich ans Steuer und startete den Motor. Ich war schon seit je her sehr harmoniebedürftig, von daher recht diplomatisch und ging schnell an sein geöffnetes Fenster. Nach kurzer Diskussion gelang es mir tatsächlich, ihn zu beruhigen. Ich gab ihm zu verstehen, dass auch wir nur handelten, wie es uns beigebracht worden war und dass auch wir gewisse Traditionen hegten, zu denen es zählt, sich nicht ausschließlich aushalten zu lassen. Er wurde jedoch erst ruhiger, als ich ihm zu verstehen gab, von unseren Eltern so erzogen worden zu sein. Allerdings verlangte er eine Entschuldigung und das Versprechen, ihn nicht noch einmal so zu beleidigen. Fast augenblicklich war er wieder gut gelaunt wie zuvor und wir setzten unsere Reise mit ihm fort.

 

Am Suezkanal angelangt bestaunten wir die skurrile Aussicht auf Schiffe, die durch die Wüste zu schweben schienen. Der Kanal war tiefer gelegt und aus einiger Entfernung sah man nichts als Sandhügel, durch die sich riesige Frachter bewegten - wie die laufenden Hasen auf einem Schießstand im Vergnügungspark. Wir hatten uns geeinigt, nicht den Tunnel, sondern die Fähre zu benutzen, und ich war etwas enttäuscht, wie unspektakulär und klein der Kanal war. Den erwarteten Palmensaum wie an Flüssen gab es nicht. Das Wasser war überall an den Ufern befestigt und gab dem Wüstenboden nichts von seinem kostbaren Nass ab. Die Überfahrt dauerte nur einige Minuten, schon saßen wir wieder im Auto und setzten unsere Reise fort. Als wir Yahya zwischendurch mitteilten, dass wir doch nicht mehr so gern nach Kairo, sondern direkt in den Sinai wollten, änderte auch er uns zuliebe seine Reiseroute. Zwar hatte uns Dahab als nächstes Reiseziel vorgeschwebt, aber Yahya schlug uns einen seiner Meinung nach weitaus schöneren Ort vor und setzte uns 70 km nördlich, in Nuweiba ab. Ein letztes Mal lud er uns am späten Abend zu einem opulenten Essen ein und verabschiedete sich. Natürlich durfte er wieder die Rechnung begleichen.

›Von so viel Gastfreundschaft könnten sich deine Landsleute mal ein Scheibchen abschneiden‹, flüsterte mir der Verstand zu.

Ich sah Yahya leider nie wieder.

Doch der Exiliraker hatte nicht zu viel versprochen. Nuweiba war ein bezaubernder, verschlafener Küstenort, der laut Reiseführer, 1971 von den Israelis als Moschaw Neviot gegründet worden war. Im Hintergrund die leuchtend rot schimmernden Berge, vor uns das türkisblaue Meer, Sand, Palmen und wenig Betrieb - endlich genau der Urlaub, wie ich ihn mir gewünscht hatte. Wir bezogen eine Bambushütte und duschten erst einmal, in dem wir uns mehrere Male mit einer alten Dose Wasser aus einem großen Tank über den Kopf gossen. Strom und fließendes Wasser gab es nicht. Es war sehr einfach, aber zutiefst idyllisch.

›Lieber Ruhe als Luxus‹, empfand die Sensibilität, die von der Atmosphäre, die der Ort ausstrahlte, sofort angetan war.

Alles schien sehr ursprünglich und auf das Wesentliche beschränkt zu sein. In der Hütte lagen zwei dünne Schaumstoffmatratzen auf der Erde, die mit sauberen Laken bezogen waren. Am Kopfende ein Kissen und am Fußende eine ordentlich zusammengefaltete Wolldecke. Zwischen den Matratzen stand ein kleiner runder Tisch, auf dem sich ein Windlicht befand, das aus einer abgeschnittenen Plastikflasche gefertigt war und eine halb verbrannte Kerze enthielt; darum waren viele schöne Muscheln drapiert. Statt eines Schrankes gab es nur eine Leine, die sich an einer Wand entlang zog. An der anderen Seite befand sich eine Leiste mit Nägeln. Unter einem Vordach standen zwei einfache Stühle aus Holz. Von dort hatten wir freien Blick zum Meer, das nur einen Steinwurf entfernt zum Baden einlud. Am Strand war niemand.

›Entspannung pur‹, freute sich mein Gemüt.

Am nächsten Morgen war ich extra früh aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu sehen. Es hatte sich gelohnt. Die prächtige Veränderung der Farben und das sehr schnelle Emporklettern der Sonne über die Berge, waren Momente, die sich tief in meine Seele brannten. Kein Mensch außer mir war am Strand und ich hatte das Gefühl, die Sonne würde einzig für mich allein dieses Schauspiel aufführen.

Nach dem Frühstück sonderte ich mich von den anderen ab, um mir ein wenig die Gegend anzusehen. In einiger Entfernung erblickte ich eine Gruppe kleinerer Kinder, die Kamele, mehrere Ziegen, Schafe und einen sehr störrischen Esel an einem großen Wasserbassin tränkten. Erst beobachtete ich das mir dargebotene Schauspiel ein wenig, ging dann näher und holte eine Tüte Bonbons aus meiner Tasche. Sofort von den Kindern umringt, prasselten massenhaft Fragen auf mich ein, die ich damals leider nicht verstand. Die Bonbontüte sprach jedoch für sich und war im Nu leer. Ein kleines Mädchen nahm mich an die Hand und zog mich einfach mit sich.

»Mama tea, Mama tea«, rief sie bittend und zeigte auf das nahe gelegene Dorf. Neugierig wie ich war, ließ ich mich gerne von ihr entführen. Die gesamte Kinderschar folgte uns. Ziegen, Schafe und Kamele ebenfalls. Immer wieder fragten mich die Kinder etwas, worauf ich nur verhalten lächelnd die Schultern zucken konnte. Das Einzige, das ich verstand, war die Bitte um Stifte. Ich hatte einen in meinem Rucksack und gab ihn dem Jungen, der gefragt hatte. Sofort stritten sie sich um das einfache Ding und ich wünschte, ich hätte ihn in der Tasche gelassen. Je näher wir dem Dorf kamen, desto mehr vermischte sich der Kies mit Ziegenkot. Auch die Anzahl der Fliegen nahm mit jedem Meter zu. Sie setzten sich bevorzugt in meine Mundwinkel, was mich ziemlich ekelte, da meine Vorstellung mir Bilder schickte, wo diese Biester eventuell vorher gesessen hatten. Die Kleine ließ mich plötzlich los und kletterte flink auf einen Stein, der neben einem aus alten Brettern zusammengezimmerten Holztor stand und entriegelte die von innen verschlossene Tür. Der mit groben Blocksteinen eingefasste Hof, auf den sie mich führte, war wohl ein beliebter Treffpunkt. Um ein Feuer, in dem ein großes Stück eines Baumstammes glühte, saßen und lagen fünf Männer unterschiedlichen Alters. Sie alle trugen lange, weiße Gewänder. Als Kopfbedeckung dienten die typischen weißen oder rot-weiß karierten Tücher, die von einem schwarzen Doppelring gehalten wurden. Drei Frauen und ein paar Mädchen saßen ein paar Schritte entfernt. Als ich eintrat, standen die Frauen auf und gaben mir freundlich lächelnd die Hand. Die Männer bemühten sich nicht, erhoben nur eine Hand zum Gruß und warfen mir arabische Worte entgegen, die ich als Begrüßungsfloskeln interpretierte. Ein Teppich wurde ausgebreitet und man lud mich ein, bei den Frauen Platz zu nehmen. Kaum saß ich auf dem Boden, hatte ich ein Glas Tee in der Hand und verbrühte mir die Lippen.

›Haben sie den Tee in den Zucker geschüttet?‹, fragte mich mein Geschmack.

Dass arabischer Tee sehr süß getrunken wird, wusste ich ja nun schon, aber dieser hier war pures Zuckerwasser mit Teearoma.