Fliegende Teppiche

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Fliegende Teppiche
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Inhaltsverzeichnis

  Prolog

  Voller Sehnsucht in Berlin

  Urlaub im Sinai

  Jetzt oder nie

  Abjad

  Kamelsafaris

  Der Wüstenprinz

  Los, lauf...

  Dahab – Nuweiba

  Tarabin, du hast mich wieder

  Jessica

  Überraschung

  Einen Schritt vor und zwei zurück

  Abschiede

  Feranje

  Ras Abu Galum

  Kleine und große Wunder

  Dunkle Wolken ziehen auf

  Glück im Unglück

  Dahab verändert sich

  Licht und Schatten

  Verlorene Freiheit

  Epilog

 

  Impressum

Fliegende Teppiche

Simone Wiechern

Für meine Söhne

Ghanem, Salama und Soliman

Prolog

»Wer nicht in die Welt passt,

der ist immer nahe daran, sich selber zu finden.«

- Hermann Hesse -

Der graue Himmel über Friedrichshain beschwerte mein Gemüt. Die leuchtende, wärmende Sonne brachte hingegen neue Ideen, neue Hoffnungen.

Oft, wenn der Himmel wieder klarer wurde, wurden es meine Gedanken auch. Dann sprossen Geistesblitze wie frische Keimlinge im Zeitraffer in den Himmel. Aber diese dann umzusetzen, war ein anderer Schuh. Einmal stand mir die Angst im Weg, dann wieder das Misstrauen und oft siegte diese unüberwindliche Bequemlichkeit, die einem einflüstert, alles besser so zu lassen, wie es ist.

Wenn einem jedoch der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, besteht Handlungsbedarf, und dann können solch verrückt erscheinende Einfälle die einzig gute Alternative sein.

Dann ist der Moment gekommen, in dem man die Chance hat, mutig auf den Teppich aufzuspringen, der freudig mit den Fransen winkt, anstatt sich betrübt geschlagen zu geben, schnell eine magische Zauberformel zu sprechen und dem wackeligen Untergrund vertrauen, dass er sich erhebt und aus dem Desaster in eine neue Welt entflieht …

Nassibuk, Schicksal, sagen die Beduinen und meinen damit: Alles wird kommen, wie es kommen muss. Das gesamte Leben ist in einem großen Buch verzeichnet und man kann seiner Bestimmung nicht entkommen. Stimmt das?

Wenn ich heute daran zurückdenke, war es eine knappe Stunde, in der ich entschied, mein gesamtes bisheriges Leben vollkommen über den Haufen zu werfen.

Voller Sehnsucht in Berlin

»Das Glück besteht nicht darin, dass du tun kannst, was du willst,

sondern darin, dass du immer willst, was du tust.«

- Leo N. Tolstoi -

Ich lag auf dem einsturzgefährdeten Balkon meiner Wohnung in Berlin Friedrichshain und suchte die Sterne am Firmament. Doch nur ein rabenschwarzer Baldachin war dies im Vergleich zu dem unbeschreiblichen Himmelszelt des Sinai, das ich so sehr vermisste. Das Wetter war jedoch angenehm und ich konnte der Enge der vier Wände entfliehen, meine Isomatte und Bettzeug auf den Balkon verfrachten und meine Augen schließen. Jetzt war es ein Leichtes, mir vorzustellen, ich wäre noch dort; im Land meiner Sehnsucht, wo der Himmel zum Greifen nah war und die Sterne, üppig hingeworfener Diamanten gleich, glitzerten und funkelten. In den Nächten dort hatte mich diese Aussicht bedingungslos glücklich gemacht. Die unzähligen Sternschnuppen konnten einfach mit ihrer Schönheit prahlen, ohne ihrer Aufgabe als Wunscherfüller nachkommen zu müssen. Noch einmal nahm ich den kleinen Sack mit Bergkräutern, den mir eine alte Beduinin geschenkt hatte, unter meinem Kissen hervor und inhalierte den Duft von Weite und Ferne. Kurz vor dem Einschlafen hoffte ich, dies würde mich wenigstens in meinen Träumen wieder an den Ort bringen, der eine ungeahnte Sehnsucht in mir auslöste und vor allem nachts in meinen Gedanken war.

Salim holte uns zwei Taschenlampen und Neoprenschuhe, die schon recht mitgenommen aussahen. Wir wanderten zu einem nahe gelegenen Riff. Er bat mich, dicht hinter ihm in dem knöcheltiefen Wasser zu laufen und mich so langsam und lautlos wie möglich zu bewegen. Wir hatten Neumond und es herrschte absolute Windstille; perfekte Voraussetzungen für unser Vorhaben, wie mich Salim aufklärte. Einzig der Schein unserer Taschenlampen war zu sehen und ich wunderte mich, wie viele Meerestiere wir beobachten konnten. Fische, Schnecken und Seesterne in allen Größen und Farben krochen hier des Nachts über die Riffplatte. Doch erst mal kein Zeichen der Kreatur, die wir suchten. Es war gar nicht so einfach, in dieser stockfinsteren Nacht über die Korallen zu steigen, und ich versuchte meine Füße so vorsichtig wie möglich zu platzieren, um das Riff nicht zu beschädigen. Einige Male rutschte ich aber doch auf dem glibberigen Untergrund aus und ratschte mir die Knöchel an den scharfen Kanten des Untergrunds blutig. Doch Abenteuerlust und Jagdfieber waren geweckt und da hielten mich keine kleinen blutenden Wunden auf. Für Haie war es hier zu meiner Beruhigung nicht tief genug.

Plötzlich blieb der Beduine stehen, hielt mich am Arm und deutete auf etwas in einem kleinen Loch vor uns. Ich zuckte mit den Schultern und sah - nichts. Er leuchtete direkt in den Spalt, und jetzt konnte auch ich etwas erkennen: zwei kleine orange leuchtende Punkte, die das Licht seiner Taschenlampen reflektierten.

Das sind die Augen, gab mir Salim per Zeichensprache zu verstehen und bückte sich ganz langsam. Dann, mit einer blitzschnellen Bewegung, griff er zu und zog einen kleinen Hummer daraus hervor. Sein strahlendes Lächeln reichte von einem Ohr zum anderen und entblößte eine Reihe schwarz verfärbter Zähne, die dem Riff gefährlich ähnelten. Er bugsierte ihn in den dafür mitgebrachten Stoffbeutel und bat mich, da er scheinbar davon ausging, ich wüsste nun, wie ein Hummer aussah, etwas entfernt neben ihm zu gehen. Ich hatte das sprichwörtliche Anfängerglück. Schon nach einigen Minuten sah ich wieder zwei Leuchtperlen im matten Schein meiner Lampe blinken und winkte Salim zu mir. Als er sah, was ich gefunden hatte, rieb er sich die Hände und forderte mich auf, zuzugreifen. Doch gern überließ ich ihm diese Aufgabe und diesmal lohnte sich der Fang wirklich. Ein wunderschönes Tier hatte er da in der Hand; eigentlich viel zu schade es mitzunehmen, aber mir war klar, dass Salim diesen Fang nie und nimmer wieder hergeben würde. Er sagte mir, es wäre nun genug für unser Frühstück und wir gingen zurück ans Ufer.

Wieder im Camp, entzündeten wir ein Feuer direkt vor seiner Hütte aus den unterwegs mitgebrachten Palmwedeln und ein wenig Holzkohle, die noch in der alten Feuerstelle lag. Noch bevor die Kohle richtig durchgeglüht war, hatte ich schon Tee bereitet und wir erwarteten den Sonnenaufgang. Salim hatte den Hummer in der Zwischenzeit in der Campküche vorgekocht und legte ihn nun für eine Weile auf die glühenden Kohlen. Er bot mir meinen Fang an, aber ich entschied mich für den kleineren. Eine hitzige Diskussion entbrannte, in der mir schnell klar wurde, dass es nur einen Verlierer geben konnte. Ich nahm also doch den größeren. Gerade als die Sonne hinter den Bergen Saudi Arabiens aufging, hatten wir einen dekadenten Gaumenschmaus, wie ich ihn selten zuvor erlebt hatte.

Das unbarmherzige Klingeln des Weckers holte mich zurück in den Berliner Morgen, der mal wieder grau und trist war. Noch verschlafen schleppte ich mich ins Zimmer. Beton ist härter als Wüstensand. Alle Glieder reckend und steckend ließ ich mich am Frühstückstisch nieder.

»Wie lange willst du eigentlich noch auf dem Balkon nächtigen?«, fragte mich mein Freund mit einem verständnislosen Grinsen auf seinem Gesicht und schob mir die Kaffeekanne herüber.

Ich goss mir die schwarze, wie immer viel zu starke Brühe in meinen Becher und zuckte nur mit den Schultern. Ich war noch ganz gefangen in den schönen Traumbildern, die genau so noch vor einigen Wochen real geschehen waren und von denen ich mich nicht trennen wollte. Dort würde ich jetzt auf das offene Meer blicken, der strahlende Glanz der Sonne würde den Tag zum Leuchten bringen, ich hätte ein Glas Tee in der Hand und Hummer zum Frühstück!

 

»Gehst du gleich erst in die Uni oder arbeiten?«, brachte mich Klaus wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Zur Uni, warum fragst du?«, antwortete ich verträumt.

»Dann können wir zusammen los, ich habe gleich eine Vorlesung.«

»Ich habe ein freiwilliges Tutorium in arabischer Grammatik. Diese ist so umfangreich, da kann ich gar nicht genug lernen, um das jemals zu verstehen. Es gibt Unmengen von Regeln und noch zahlreicher sind die Ausnahmen dazu.«

»Weißt du mittlerweile, welches Fach du noch studieren willst, um einen Magisterabschluss machen zu können?«, wollte Klaus wissen.

»Ja, ich bin mir aber noch nicht ganz sicher«, entgegnete ich.

»Ich kann dir nach wie vor Politik empfehlen, die Professoren und Angebote sind wirklich hochinteressant an der Freien Universität. Außerdem können Axel und ich dir dann immer mit Rat und Tat beistehen. Dann kannst du dich vielleicht demnächst etwas mehr an unseren nächtlichen Debatten beteiligen, ohne dass wir dir immer die Hintergründe erläutern müssen.«

›Politik verstehen‹, fragte der Zweifel in mir, ›geht das überhaupt?‹

Putativ gingen mein Freund und sein Bruder, der mit uns auf 40 qm lebte und ebenfalls Politik studierte, davon aus.

›Wäre ja mal eine Herausforderung‹, sagte die Kühnheit.

Ich nahm mir erst einmal ein Brötchen, weil es erstens zu früh war, ständig verbal zu reagieren und zweitens, weil meine Gefühle plötzlich anfingen wild durcheinanderzureden. Obwohl ich meinte, noch nicht wach zu sein, waren sie schon putzmunter. Kaum fiel das Wort Debatte, schon fühlten sie sich aufgefordert loszulegen:

›Politik? Brotlose Kunst, für jemanden mit weichem Kern‹, spuckte der Selbsterhaltungstrieb seine Worte verächtlich aus.

›Und doch hoch interessant, würde ich sagen‹, konterte die Faszination.

›Finde ich auch. Einfach nur auf Demos rennen, ohne die genaue Problematik zu verstehen, ist Kinderkacke‹, sagte die Intelligenz ziemlich resolut und mit einem Vokabular, das sehr untypisch für sie war. Sie war wohl etwas beleidigt, auf diesem Gebiet nicht glänzen zu können.

›Ganz meine Meinung. Ihr bekommt ja mit, dass sie sich selber nie wohlfühlt, wenn sie mit den Jungs zusammensitzt und dem Gespräch nicht ganz folgen kann. Mir geht es dabei auch nicht gut‹, sagte die Zufriedenheit.

›Tatsächlich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen‹, neckte die Ignoranz, ›mich interessiert das Weltgeschehen nicht im Geringsten.‹

›Was interessiert dich schon?‹, motzte die Intelligenz recht überheblich.

›Mich interessiert es auch gerade nicht‹, meldete sich der Hunger energisch. ›Müsst ihr schon beim Frühstück solche Diskussionen führen? Lasst sie doch erst mal einen Happen essen.‹

Ich biss in mein Brötchen, das ich mir während des Kopfradios geschmiert hatte und kaute langsam. Ich biss ein weiteres Mal ab und trank einen Schluck Kaffee, der mit dem Brötchen zusammen etwas erträglicher schmeckte. Klaus anschauend antwortete ich auf seine Frage:

»Ich werde mich am besten in die Grundschulpädagogik einschreiben. Mit Kindern verstehe ich mich eindeutig besser als mit Politikern. Politik kann ich als Wahlpflichtfach nehmen. Dann könnten wir einige Kurse gemeinsam belegen und uns die Nächte weiterhin mit euren endlosen Diskussionen um die Ohren schlagen. Die Hauptsache für mich ist, ich schaffte das alles neben der Arabistik. Die ist mir wirklich wichtig. Je mehr ich über die Kultur und Sprache der Araber erfahre, desto neugieriger werde ich.«

Ich leckte mir den heruntergelaufenen Tropfen Marmelade vom Finger und ergänzte mit verschmitztem Gesicht:

»Wer weiß, vielleicht lasse ich mich ja später einmal in einem arabischen Land nieder, dann finde ich als Lehrerin bestimmt immer einen Job. Womöglich bei einem Ölscheich, dessen 27 Kindern ich Privatunterricht gebe.«

»Klar, der nimmt dich sicher gern in seinen Harem auf«, foppte mich Klaus.

»Was steht denn heute Abend an?«, lenkte ich das frühe Gespräch in leichtere Bahnen.

»Axel kocht frische Spaghetti, um den Parmesankäse zu würdigen, den Muttern mit der Kiste Hauswein geschickt hat. Wann kommst du heim?«

»Ich denke, ich arbeite nach der Uni noch bis circa sechs Uhr und komme dann.«

Wieder einmal wurde mir durch den kurzen Wortwechsel bewusst, wie verschieden Klaus und ich waren. Er, ein Sohn aus sehr reichem Haus, einer, dem alle Türen offenstanden und der seid jeher von seinen Eltern und Verwandten gefördert und gepuscht wurde.

Ich dagegen war in einem kleinen Hotel groß geworden, konnte mir nie irgendeinen Luxus erlauben und Zeit hatte auch selten jemand für mich gehabt.

Ich liebte Klaus, aber immer war da etwas, das mir ganz deutlich sagte, dass jeder von uns über kurz oder lang seine eigenen Wege gehen würde. Vor allem die klare und immer wieder betonte Aussage von ihm, dass er nie heiraten und ganz sicher keine Kinder haben wollte, machte für mich jegliche Zukunftsplanung mit ihm zunichte.

Ich war in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil; wollte sogar mehrere Kinder. Dazu gehörte für mich allerdings ein Mann, der mir das Versprechen gab, mit mir durch gute und schlechte Zeiten zu gehen. Ich war selber mehr oder weniger ohne meinen Vater groß geworden, der über 350 km entfernt lebte und den ich höchstens einmal im Jahr sah. Ich vermisste ihn immer sehr und wünschte mir als Kind nichts sehnlicher als eine heile Familie. Für meine eigenen Kinder wollte ich so einen Zustand nicht. Ich brauchte nicht unbedingt einen Trauschein, aber immer kinderlos bleiben?

Klaus und ich waren jetzt über vier Jahre zusammen und sein Standpunkt hatte sich eher verstärkt, anstatt sich, wie ich insgeheim gehofft hatte, irgendwann in einen Kompromiss umwandeln zu lassen. Ein Leben ohne Kinder war für mich nicht vorstellbar und so versuchte ich schon seid einiger Zeit, eine nötige emotionelle Mauer um mich herum zu errichten.

Nach dem Tutorium und einer Vorlesung in arabischer Geschichte ging ich in die Bibliothek, um an meiner Hausarbeit über die Geschichte des Sinai zu arbeiten.

Die Bibliothek war eines meiner liebsten Gebäude in Berlin. Kaum war ich eingetreten, umgab mich Stille. Die Hektik, die draußen herrschte, hatte hier grundsätzlich Hausverbot. Selbst an der Rezeption wurde im Flüsterton gesprochen, um die Ruhe nicht zu stören. Die Geräusche der Schritte wurden von dicken Teppichen aufgesogen und es gab gemütliche helle Plätze, an die man sich mit seinen auserwählten Werken zurückziehen konnte.

Meine nachdenklichen Blicke verfingen sich in den Pflanzen der stilvoll hergerichteten Atrien. Ich hatte schon herausgefunden, dass die Sinai-Halbinsel angeblich seit 9000 v. Chr. besiedelt gewesen sein soll, und die meiste Zeit unter ägyptischer Hegemonie stand.

Schon 3200 v. Chr. wurden von den Pharaonen Arbeiter und Sklaven in die Minen von Manghara geschickt, um dort Türkis abzubauen. Da auch Gold und Kupfer im Sinai zu finden waren, blieb er die gesamte vorchristliche Zeit für die Pharaonen ein Landstrich mit Bedeutung. Im Jahr 106 n. Chr. wurde die Halbinsel zu einem Teil der römischen Provinz Arabia Petrae, bis sie 395 an Ostrom fiel.

640 bis 642 eroberten die Araber den Sinai und seitdem gehörte er zur Arabischen Welt.

Im frühen 6. Jahrhundert wurde durch Helena, die Mutter Konstantins des Großen, das Katharinenkloster gebaut, das bis heute nahezu unverändert besteht. Es hatte die ganzen folgenden Jahrhunderte hindurch eine Sonderstellung.

Herrscher stellten das Kloster unter besonderen Schutz. Der Schutzbrief des muslimischen Propheten Mohammed liegt immer noch gut verwahrt in der historisch bedeutsamen Bibliothek des Klosters, wo Historiker bis heute immer wieder sensationelle Funde machen.

1859 hat zum Beispiel Konstantin von Tischendorf bei Durchsicht der alten Schriftrollen die älteste Handschrift des Neuen Testaments entdeckt. Während seiner nächsten Aufenthalte bei den Mönchen fand er weitere Teile, auch des Alten Testaments, und veröffentlichte sie als Codex Sinaiticus. Viele Touristen besuchen das Katharinenkloster heutzutage, um den brennenden Dornbusch zu sehen, in dem Gott sich Moses als flammende Erscheinung offenbart haben soll, oder um vom nahe gelegenen Berg Mose aus 2285 Metern einen atemberaubenden Sonnenaufgang zu erleben.

Im 11. und 12. Jahrhundert zogen mehrere Male die Kreuzritter durch den Sinai, und Napoleon Bonaparte hinterließ im 18. Jahrhundert seine Spuren im Sand. Er war der Erste, der die kühne Idee hatte, einen Kanal zum Mittelmeer erbauen zu lassen; musste sein Vorhaben jedoch letztendlich wegen grober Vermessungsfehler aufgeben.

1869 wurden Napoleons Zukunftsversionen dann doch noch wahr und der Suezkanal wurde nach zehnjähriger Bauzeit eröffnet.

Bis 1906 war der Sinai dann Teil des Osmanischen Reiches. In der Mitte des 20. Jahrhunderts begann die sogenannte Suezkrise und die Israelis, die kurz zuvor ihren eigenen Staat bekommen hatten, machten ihren ersten Feldzug in die Region.

Ab 1967 besetzten sie den Sinai und gaben die letzten Teile erst im Jahre 1982 gegen ein Friedensangebot durch den damaligen ägyptischen Präsidenten Sadat an die Ägypter zurück.

Die Beduinen blieben all die Jahre hindurch unabhängig und nahezu unberührt von den wechselnden Regierungen. Erst in der letzten Besatzungszeit durch die Israelis fingen diese an, den Sinai urbar zu machen, eröffneten Farmen, Schulen und Krankenhäuser und boten die zahlreichen Tauchgebiete als Urlaubsziele an. Die Beduinen schwärmen noch heute von den medizinischen Künsten der Israelis und deren Schulen und begrüßten den finanziellen Aufschwung, der durch den Tourismus entstand.

Später an meinem Schreibtisch, in einem ökologischen Landschaftsplanungsinstitut, in dem ich in meinem gelernten Beruf als Bauzeichnerin arbeitete, um mein Studium zu finanzieren, dachte ich weiterhin unentwegt an den Sinai. Während ich 2856 Bäume des Treptower Parks auf einem Plan in verschiedenen Grüntönen ausmalte, blieb fast zu viel Zeit zum Träumen. Ich stellte mir vor, noch einmal ganz auf mich allein gestellt durch den Coloured Canyon zu wandern. Ich war dort bei meinem ersten Urlaub mit Klaus und einem befreundeten Pärchen gewesen. Leider zusätzlich mit einer Gruppe von acht weiteren Touristen, die immun gegen die Schönheit dieser Landschaft zu sein schienen.

Sie hatten sich laufend über unabdingbare Nebensächlichkeiten beschwert und mit ihrer Nörgelei einen Schatten auf dieses unvergessliche Erlebnis gelegt. Nach einem kurzen Abstieg hinunter in den Canyon durchstreiften wir damals staunend das ausgetrocknete Flussbett. Hunderte von Fluten und die Erosionen des Windes hatten hier, wie von Meisterhand eines Malers, Ornamente und unzählige Formen in den farbigen Sandstein geschliffen. Ich war vollkommen hingerissen und starrte fasziniert in jedes noch so kleine Loch, um immer mehr einzigartige Formkreationen zu erblicken. Das Wasser, das bei Flut durch die Vertiefungen wirbelte, hatte überall kleine Kunstwerke geschaffen. Man sah die verschiedenen Gesteinsschichten meist als Kreise, wie farbenfrohe Baumringe. Von Weiß über verschiedenste Gelb- und Beigetöne bis hin zu dunklen Rot- und Lilatönen erstreckte sich die Farbenvielfalt.

Der Weg wurde an einigen Stellen so eng, dass man hintereinandergehen musste. Dann wieder fiel er über einige Meter ab und wir waren gezwungen, hinunter zu klettern oder teilweise sogar zu springen. Unsere Mitreisenden stöhnten ständig über die Hitze oder den für sie beschwerlichen Abstieg, über Sand in ihren Schuhen und den langen Weg. Ich hingegen war von Anfang bis Ende begeistert, fühlte mich wie ein Kind, das endlich wieder klettern, springen und unendlich viel entdecken darf. Die Hitze nahm ich erst wahr, als die anderen sich über sie beschwerten. Viel zu viele kleine, von der Natur erschaffene Wunderwerke zogen mich in ihren Bann und lenkten mich von den äußeren Umständen ab.

»Ich hab andauernd Sand im Schuh!«, jammerte eine junge Frau gerade. Was erwartete sie? Dass jemand die Wüste für sie frei kehrte? Ich musste mich zurückhalten, um nicht laut loszulachen über diese Bemerkung.

Am frühen Abend hatten wir vier mit unserem einheimischen Fahrer ein Feuer entfacht und uns entschlossen, diese Nacht mit dem Beduinen hier zu übernachten. Unsere Schlafsäcke hatten wir in weiser Voraussicht mitgenommen. Die stöhnenden Touristen hingegen hatten es vorgezogen, mit den anderen Jeeps direkt wieder ins Hotel zu fahren. Sie freuten sich auf eine Dusche, ihr Buffet und auf die Hotelbar. Mir war es nur all zu recht, dass sie das Weite suchten. Ich verstand nicht, warum sie die bezaubernde Vielfalt dieser Berge nicht ebenso intensiv erlebten wie ich. Das einfache Mahl aus Brot und Bohnen, das uns der Beduine in dieser grandiosen Umgebung zubereitete, zog ich allemal dem hektischen, lauten Schieben am Hotelbuffet vor.

 

In der nächtlichen Stille, nur unterbrochen von Hundegebell aus weiter Ferne, schliefen wir froh und glücklich unter einem Zelt von unzähligen Sternen ein.

Mitten in der Nacht wurde ich wach und schaute mich um. Der Mond, der fast voll war und direkt über mir stand, ließ die Berge in hunderten von Grau- und Silbernuancen schimmern. Es war so ruhig, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Ich setzte mich etwas abseits meiner Freunde, um auch deren Atem nicht mehr zu hören. So tief es ging ließ ich mich auf diese absolute Stille ein. Die Nacht war einfach zu schön, um wieder schlafen zu gehen. Ich blieb sitzen und genoss jede Minute. Ich konnte alles loslassen und jegliche Spannungen der arbeitsreichen Zeit in Berlin im wahrsten Sinne des Wortes, in die Wüste schicken. Obwohl es erst halb vier war, wurde ich hellwach und fühlte mich so stark wie schon sehr lange nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, reine Energie zu tanken. Vollkommen losgelöst lag ich auf dem Rücken, über mir zog der Mond seine Bahn und gab mir eine nicht zu erklärende aber äußerst beruhigende Gewissheit, hier und jetzt vollkommen richtig zu sein.

Gemächlich wechselten die Grautöne in ein blasses Violett und der Morgen kündigte sich an. Unser Bergführer erwachte, noch bevor es richtig hell wurde, wusch sich und betete. Der Anblick, wie sich der einsame Beduine dort im Mondlicht vor seinem Gott verneigte, ließ mich nachsinnen, wie alt diese Wüste war und wie sehr dieser Mensch damit verbunden wirkte. Als er zurückkam, half ich Holz zu sammeln, und schaute zu, wie er Tee im offenen Feuer zubereitete. Zwischendurch grinste er mich immer wieder an. Ich denke, er erkannte die Liebe zu den Bergen in meinen Augen, die in dieser Nacht tief in meinem Inneren erwacht war.

Der letzte Baum bekam seinen passenden Grünton. Ab morgen musste ich in die 2856 Bäume ihre Namen schreiben. Obwohl ich ein ausgezeichnetes Arbeitsklima, sehr liebe Kollegen, ein gutes Gehalt und sogar gleitende Arbeitszeiten hatte, konnte ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, diesen Beruf für immer auszuüben. Es war sinnvoll, was ich tat und trug zum Schutz der Umwelt bei, doch fehlte mir der Bezug zum Leben an sich und oft war es einfach zu langweilig. 2856 Bäume sind sehr viel! Ich saß in einem kühlen Büro im dritten Stock und die Parks und Landschaften, die ich bearbeitete, waren Kilometer weit weg. Zum Teil bekam ich sie nicht einmal zu Gesicht.

Das Studium machte deutlich mehr Freude und brachte mich auf die innerlich spürbare, richtige Spur. Wissen aufzusaugen war für mich so wichtig wie das Atmen. Aber ich hatte zunehmend das Gefühl, in Deutschland lebte man nur um zu arbeiten und arbeitete nicht um zu leben. Alles kostete viel zu viel Geld und immer musste man irgendwie oder irgendwo mithalten und Dinge anschaffen, die man im Grunde genommen gar nicht brauchte, sondern kaufte, weil die Gesellschaft und die Werbung einem suggerierte, man bräuchte sie. Miete, Strom, Versicherungen, Kleidung, abwechslungsreiche Kost, das alles war teuer in Berlin. Ausgehen, ohne dafür viel zu zahlen, war fast unmöglich - und mein Fernweh in den Sinai war ein weiterer Kostenfaktor.

Ein Zitat von Gabriel Laub brachte meine damaligen Gedanken auf den Punkt: »Unser Leben ist viel schwerer als das unserer Vorfahren, weil wir uns so viele Dinge anschaffen müssen, die unser Leben erleichtern.«

Noch ein paar Wochen musste ich durchhalten und einige Abende bis zum Einbruch der Nacht Bäume an- und ausmalen, beschriften oder schraffieren, dann konnte ich mir ein Ticket leisten und wieder für eine Weile entfliehen … in das Land der Berge und Kamele. Wo die Menschen um so viel glücklicher erschienen, obwohl sie, nach unseren Standards, fast nichts besaßen. Auch ich benötigte dort kaum etwas und fand ohne viel Geld zu investieren das, was ich am meisten brauchte: Freiheit, Zeit, Ruhe und Horizonterweiterung.