Wie ein Regenbogen

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Tatsächlich gibt es nicht nur eine, sondern Dutzende Londoner Szenen. Jede Einzelne ist ein funkelnder Edelstein, ein Medley gemusterter Sonnenbrillen und wunderbar reizend angemalter Telefonhäuschen, eine Mixtur des „blitzenden“ Amerikas, des auf Hochglanz gebrachten Europas und hartnäckiger alter englischer Einflüsse, die im heutigen London miteinander verschmelzen. Das Resultat ist ein prickelndes und verworrenes Lustspiel.

Time, 5. April 1966.

Anitas immer weiter an Fahrt gewinnende Karriere spielte sich hauptsächlich in den Modemetropolen Europas ab; im ersten Halbjahr 1965 wohnte sie noch in Paris. Häufig übernachtete sie in Catherine Harlés Agentur in der Passage Choiseul, doch manchmal auch in der Wohnung von Deborah Dixon und Donald Cammell in Montparnasse.

Zu den Interessen des Trios gehörte die Musik. Trotz der vielen Reisen hielt sich Anita auf dem Laufenden, was die Popszene anbelangte, die die Jugend weltweit faszinierte. Sie ließ sich nicht von den zuckersüßen Klängen der Beatles vereinnahmen, sondern stand auf eher erdige Sounds. The Who zählten zu den Bands, die sie musikalisch bewegten, und wie sie sich später erinnerte, sah sie einige explosive Auftritte der Gruppe im Club La Locomotive in Montmartre.

Am Osterwochenende (16.–18. April) 1965 stürmten die Stones Paris, wo sie eine Reihe von Gigs im L’Olympia (auch bekannt als Olympia Bruno Coquatrix) spielten. Die Band stand kurz davor, ein globales Phänomen zu werden, ihr kantiger, rauer Nonkonformismus zog eine enorme Anhängerschaft an. Allerdings hinkte nach mehr als zwei Jahren exzessiven Tourens die musikalische Qualität noch ein wenig dem populären Image hinterher. Stolz, derb und ungehobelt stand der nach außen getragene Dissens zu gesellschaftlichen Normen im krassen Gegensatz zu den Gewohnheiten der Hörer, die den braven Merseyside-Sound mochten.

Viele, die von den Stones angezogen wurden, mochten ihre unverfälschte und direkte Grundhaltung, entdeckten darin eine Art revolutionärer Einstellung. Ihre Hörer kamen aus allen Gesellschaftsschichten. Ganz vorn im Rampenlicht standen Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones in wechselnden Rollen. Das wichtigste Element, der Kern der Gruppe, war eine ungestüme Sexualität, die zuvor noch nie Eingang ins populäre Entertainment gefunden hatte.

In der Pariser Gesellschaft mit ihrem Hang zum Revolutionären brodelte es schon immer, wenn auch der Dissens unterschiedlich stark sein konnte. Den Stones sicherte dies eine Zuschauermenge, die von Musikfans bis hin zu Künstlern und Sozialisten reichte. Während die Band in England lange eine Außenseiterrolle spielte, wurde ihr Anti-Establishment-Status in der französischen Hauptstadt warmherzig angenommen.

Der Mini-Gastspielvertrag im L’Olympia gewährte den Stones genügend Freizeit, um das Labyrinth des kulturellen Nachtlebens zu erforschen, das Paris im Übermaß bot. In einem Wirbelsturm von Aktivitäten soll die Band angeblich Catherine Harlés Agentur eine Stippvisite abgestattet und mit den Models geflirtet haben. Auch verbrachten sie eine Nacht im Chez Castel.

Zu den zahlreichen anderen Acts (darunter sogar ein Magier), die bei den Pariser Auftritten im Vorprogramm der Stones auftraten, gehörten auch Vince Taylor & The Playboys. Taylor, ein schwieriger, aber talentierter Musiker, genoss in Europa einen Kult-Status, besonders in Paris, wo seine im Südwesten Londons liegenden Wurzeln der Aura des Coolen keinen Abbruch taten. Die Percussion für Taylor übernahm Prince Stanislas Klossowski de Rola, besser als „Stash“ bekannt. Der später von der Presse als „Pop Prince Stash“ gefeierte Rola – Sohn des Malers Balthus (eigentlich Balthasar Klossowski de Rola) – hatte schon im Jahr zuvor Anitas Bekanntschaft gemacht und sich in der Zwischenzeit intensiv mit ihr angefreundet.

„Ich begegnete Anita zum ersten Mal Anfang Sommer 1964“, erinnert sich Rola heute. „Es war im Apartment des Hauses eines Philosophen namens Alain Jouffroy. Vince Taylor und ich lagen zusammen mit dem unglaublich attraktiven amerikanischen Model Johanna Lawrenson im Bett, eine Freundin von Anita. Als wir am Morgen aufwachten, sahen wir dieses atemberaubende Mädchen, das in der Sonne auf der Terrasse stand und uns mit einem unwiderstehlichen süffisanten Lächeln ansah. Sie musste das erst mal checken – ihre Freundin mit zwei Typen im Bett.“

Später in dem Jahr – Anita war wegen eines Modeljobs in Spanien – traf sie Stash de Rola wieder, der mit Vince Taylor tourte. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft. Während die Stones Ostern 1965 in Paris einfielen, lebten sowohl Anita als auch Stash in der Stadt. Es war naheliegend, dass sie bei dem Konzert im L’Olympia auftauchte.

Nach dem Gig verließ ein Grüppchen mit Stash und einigen Freunden den Veranstaltungsort, um das Pariser Nachtleben zu erkunden. Die Stones gingen an diesem Abend getrennte Wege, und Brian Jones suchte eher exklusive Gesellschaft.

In dem Kreis um ihn befanden sich bereits die Sängerin Françoise Hardy, ihr Partner, der Fotograf Jean-Marie Périer, Stashs Freundin Anita Pallenberg und das exotische Model/die Sängerin Zouzou (alias Danièle Ciarlet). Letztere hatte in dem Jahr für ein kleines Skandälchen gesorgt, als sie den eher reservierten Ballett-Star Rudolf Nureyev auf das Tanzparkett gezogen hatte, um ihn so richtig durchzuschütteln. Das war für damalige Zeiten eine gewagte Einlage, die von den sensationshungrigen französischen Paparazzi ausgeschlachtet wurde.

Die kleine Gruppe stürzte sich ins Pariser Nachtleben, angeführt von Jones, dessen Celebrity-Status ihn über die anderen erhob. Anita mag Brians öffentliches Erscheinungsbild gut unter die Lupe genommen haben, doch sie konnte wohl kaum die Komplexität erahnen, die hinter dem coolen Auftreten lag.

Der phänomenale Erfolg hatte den Stones einen unermesslichen Reichtum eingebracht, aber im Jahr 1965 war Brian Jones’ Präsenz weniger offensichtlich als die der beiden Frontmänner Jagger/Richards. Und wie um diesen scheinbaren Widerspruch zu verstärken, stand Jones für einen Look, der elegant war, aber auch reserviert wirkte. Sein Erscheinungsbild spiegelte seine Herkunft aus der oberen Mittelschicht in dem verschlafenen Cheltenham in Gloucestershire wider.

Brian war zwar nicht in der Lage, überzeugend zu singen oder eigene Songs zu schreiben, besetzte aber eine kultige Nische, was ihm enormen Respekt von seinen Zeitgenossen in der Musikindustrie einbrachte. Jones’ Geschicklichkeit als Multiinstrumentalist hatte sowohl seinen Status erhöht als auch für eine seltene Textur im Klangbild der Stones gesorgt. Dennoch wussten nur die wenigsten – angesichts der Dominanz des kraftvollen Duos Jagger/Richards –, dass die Rolling Stones das Baby von Brian Jones waren. Es war eine Kreation, die er hartnäckig etablierte, bevor sie ihm von anderen Kräften aus den Händen gerissen wurde.

Ungeachtet seiner kreativen Stärke und des Status des Bandgründers musste er sich mit zahlreichen psychisch-sexuellen Problemen und einer Paranoia herumschlagen, was seinem stark angegriffenen Ego schadete und das chauvinistische Verhalten zusätzlich verstärkte. „Es ist kein Wunder, dass ich mich noch nicht fest gebunden habe“, bekräftigte er in einem Feature im Magazin Fabulous Anfang 1965. „Wie viele Mädchen könnte ich finden, die mir meinen Tee machen, das Essen kochen, mein Haus putzen und sich auf einer intellektuellen Ebene mit mir unterhalten, während ich die Füße hochlege?“

Aufgrund seines Celebrity-Status konnte er viele Frauen gewinnen, doch nur wenige waren in der Lage, Jones’ ausgeprägte Libido zu befriedigen. Trotz mehrerer anhängiger Vaterschaftsklagen hielt er ständig Ausschau nach „Frischfleisch“. Brian mochte eine eher gehobene Gesellschaft – was sowohl das intellektuelle Niveau als auch den sozialen Status anbelangte –, stammte er doch selbst aus der aufstrebenden Mittelschicht. Die elegante Truppe, die in dieser Nacht das L’Olympia verließ, war ganz nach seinem Geschmack.

Sie legten den ersten Stop beim Chez Castel im Stadtbezirk Saint-Germain ein, einem beliebten nächtlichen Treffpunkt der Mädchen von Catherine Harlés Agentur. Im Gegensatz zur glamourösen Kleidung der anderen trug Anita nur eine eher schlichte, blassblaue Lederjacke, die kaum ihre atemberaubende Präsenz erkennen ließ. Jones schien von Beginn an seine Chancen bei dem Model Zouzou abzuwägen. Ihre außergewöhnliche Erscheinung und Ausstrahlung regten seine ausgeprägte Abenteuerlust an. Die Gruppe hatte den Abend mit einigen starken Joints eingeläutet und langweilte sich schnell im Chez Castel, woraufhin sie sich in das ruhigere Ambiente von Donald Cammells und Deborah Dixons Wohnung zurückzogen, wo sich eine Party traditionell immer bis in die frühen Morgenstunden erstreckte.

Dort angekommen, versuchte Jones, Zouzous leichte Reserviertheit zu durchdringen und ihr rudimentäres Englisch zu verstehen. Jedoch lenkte ihn Deborahs geradezu ätherische Präsenz ab, ihr blasser Teint wirkte durch den Marihuana-Nebel visuell verstärkt. All die Energien schienen die Anwesenden zu verwirren, Brian und Anita wechselten an dem Abend nur wenige Worte. Im Morgengrauen begleiteten Stash, Zouzou und Anita den Rolling Stone zurück zu seinem bescheidenen Hotel in der Rue des Capucines, wo sich Brian und Zouzou auf sein Zimmer zurückzogen.

Aus welchem Grund auch immer – Anita schwieg ihr Leben lang über diese erste Begegnung mit Brian und datierte sie stattdessen auf ein ausgiebigeres Treffen fünf Monate später. Auch Deborah Dixon, die Gastgeberin an dem Abend, weiß nichts darüber zu berichten. Andere Anwesende erinnern sich hingegen sehr wohl daran: „Sie war sehr an ihm interessiert“, kommentiert Stash die unmittelbare Zeit nach der ersten Begegnung, „doch sie kam wegen Zouzou nicht an ihn heran, was sie annervte. Dass [Anita] in der Nacht keinen Erfolg hatte, hat sie bequemerweise aus ihren Erinnerungen gestrichen.“

 

Brian und die Stones flogen nach den Paris-Gigs nach Kanada, doch es gab keinen Mangel an englischen Bands, die die französische Hauptstadt aufsuchten. Nur wenige Tage nach der Stones-Performance spielten die Kinks am 24. April 1965 im Palais de la Mutualité, einem relativ kleinen Veranstaltungsort im fünften Arrondissement. The Kinks gehörten zu einer Reihe von Bands, die rauen und ruppigen R&B ablieferten, doch sie wirkten durch ihre skurrile Präsenz und ihren dandyhaften Stil, was im kontinentalen Europa sehr gut ankam. Anita war von der kantigen und androgynen Ausstrahlung der Band hin und weg. Andere aus ihrem Umfeld stellten eine engere Beziehung zu den Kinks her wie zum Beispiel Zouzou, die bei deren Nummer zwei, Dave Davies, landete.

Als die Band in Paris vor über 500 begeistert mitgehenden Zuschauern spielte, war ein Filmteam anwesend, das die entstehende Hysterie auf Zelluloid bannte. Inmitten der allgemein hektischen, 30-minütigen Performance ist eine Sequenz zu sehen, die den charmanten Moment einfängt, in dem Anita wie gebannt zur Bühne schaut. Während „Got Love If You Want It“ – ein Song, bei der die Gruppe am meisten improvisierte – wechselt die Kameraperspektive mehrmals zwischen ihr und dem Sänger Ray Davies. Mit ihrem hinter die Ohren gesteckten Haar und der elfenhaften Schönheit stiehlt Pallenberg der Band die Show.

Ob Anita damals an Brian dachte oder nicht – die Auftragsangebote im Frühjahr sorgten für eine Vielzahl von Kontaktmöglichkeiten. Zahlreiche kreative Persönlichkeiten aus aller Welt gingen in der Hauptstadt quasi ein und aus, wodurch sich viele Gelegenheiten ergaben, die Bekanntschaft mit den Protagonisten der angesagten Kreise zu machen. Pallenbergs Terminkalender füllte sich mit beruflichen Verpflichtungen, doch sie fand dennoch genügend Zeit, sich mit alten und neuen Freunden zu treffen, die in der Stadt auftauchten. Ihr alte Bekannte (und Mario Schifanos Agentin) Ileana Sonnabend führte eine Galerie am 37 Quai des Grands-Augustins. Im Mai eröffnete sie eine aufsehenerregende Ausstellung von Andy Warhols Flowers. Warhol reiste schon eine Woche vor der Vernissage an, mit einer Gefolgschaft, zu der auch Gerard Malanga gehörte, der vor der Eröffnung in der Galerie Gedichte vortragen sollte. Malanga hatte schon Ende 1963 in New York, wenn auch nur flüchtig, Anitas Bekanntschaft gemacht und nutzte nun während des Paris-Aufenthalts die Gelegenheit, den Kontakt zu vertiefen.

„Ich kam ’65 mit Andy in Paris an“, berichtet Malanga. „Anita erschien mit Denis Deegan – einem sehr engen, gemeinsamen Freund, der sich in der Stadt aufhielt – und Stanislas de Rola alias ‚Stash‘. Die drei holten mich vom Hotelzimmer ab und wollten mich zur Lesung in die Galerie geleiten. Sie hatten einen dicken, länglichen Klumpen marokkanisches Haschisch dabei, eingerollt in einer Ausgabe von Le Temps, damit es wie ein Baguette aussah. Kurz darauf füllte sich das ganze Zimmer mit dichten Rauchschwaden, da sie mich total dicht erleben wollten. Als wir die Galerie von Ileana Sonnabend erreichten, waren meine Lippen ziemlich trocken, doch ich hielt durch und schaffte die Lesung.“

Etwas mehr als ein Jahr war vergangen, seit Malanga Anita in New York gesehen hatte, und ihn beeindruckte ihre Verwandlung in eine selbstbewusste Frau.

„Als ich sie erstmals in New York traf, wirkte sie eher reserviert“, erklärt Malanga heute, „doch in Paris nahm sie mich sofort in den Arm. Sie war zu einer offenen Persönlichkeit gereift – und ich liebte das. … [Anita] strahlte eine Selbstsicherheit und Zuversicht aus, die mich erstaunte.“

Diese Selbstsicherheit ist auf einem bizarren Foto zu erkennen, das bei der Flowers-Eröffnung geschossen wurde. Neben Malanga und Warhol sieht man Anita mit der Schauspielerin Edie Sedgwick, dem Veranstalter Chuck Wein und Stash. Ohne einen erkennbaren Grund hielten sie Kaninchen in ihren Armen.

Mit zunehmendem Selbstvertrauen und reisefreudig tauchte Anita im Sommer in Italien auf und ließ sich in einem durchsichtigen Regenmantel ablichten. Allerdings trug sich nichts darunter. Ein anderes Foto zeigte sie in einer alpinen Location, kaum bekleidet, vor den schneebedeckten Bergen.

Für Anita war die Welt ihr Zuhause und das schon in einem Alter von nur 22 Jahren. Das Tempo ihres Lebensstils ermöglichte ihr nur selten eine „Bestandsaufnahme“ ihrer Leistungen. „Ich war mir eigentlich über nichts im Klaren“, erzählte sie Ruby Wax 1999. „Ich wusste, dass ich von einem Ort zum anderen reiste und meist in einer anderen Sprache redete. Da ich niemals zu Hause war, stellte sich kein Gefühl für ein Zuhause ein. Ich fühlte mich wie eine Zigeunerin.“ Im September 1965 wurde Anita von Catherine Harlé zu einer Fotosession nach München geschickt. In der Stadt herrschte Vorfreude auf das Oktoberfest, und das junge Model baute eine starke Beziehung zu den deutschen Medien auf, besonders zum zukunftsweisenden Magazin Twen, das sich darüber freute, ihre körperlichen Vorzüge zu vermarkten. „Ich arbeitete als Model in Deutschland, da sie täglich abrechneten“, erinnerte sie sich gegenüber dem Guardian. „Das gefiel mir natürlich. In Frankreich oder Italien erhielt man sein Honorar erst mehrere Tage [nach den Aufnahmen].“

Abgesehen von den finanziellen Aspekten stellte sich der Auftrag in München als geradezu schicksalsträchtig für sie heraus, denn die Termine fielen mit zwei Shows der Stones am 14. September im Circus Krone-Bau zusammen. Es wurde zu einer waschechten britischen Show, denn neben den Stones als Hauptattraktion traten die Spencer Davis Group und eine stilistisch ähnliche Gruppe auf, nämlich die ruppigen und krachenden Troggs. Die Stones badeten im Erfolg der Single „(I Can’t Get No) Satisfaction“, die die zweite Woche den ersten Platz in den USA belegte, doch abseits der Bühne nahm die Band Brian Jones in die Mangel. Sein privates Leben stellte ein emotionales Minenfeld dar und seine Einstellung war den Kollegen ein Gräuel. In Kürze sollte eine Vaterschaftsklage öffentlich gemacht werden, und der ständige Streit verdeutlichte, dass Jones auch schon in großer Distanz zum Rest der Gruppe stand. Doch auch Jones hatte sich nicht gerade liebenswürdig gegenüber den anderen verhalten und – sehr zu ihrem Ärger – bei Auftritten während „Satisfaction“ einen Auszug aus dem Popeye-Thema genudelt.

Während die 3000 Zuschauer im Circus Krone nichts über die Streitigkeiten und das böse Blut innerhalb der Band wussten, gab es andere, die das Besondere in Jones’ enigmatischer Präsenz spürten – und dazu gehörte auch Anita.

Unter den Anwesenden in der Menge fand sich auch Bent Rej. Dem jungen dänischen Fotojournalisten war es gelungen, eine dauerhafte kreative Beziehung zu den Stones aufzubauen. Sie gewährten ihm für eine Serie von Bildreportagen sogar Zugang zu ihren Privatwohnungen.

Rej hatte eine solide Beziehung zu Jones aufgebaut, und wie sich durch die Aufnahmen der beiden München-Gigs belegen lässt, war sich Brian der Präsenz des Fotografen bewusst, da er einen intensiven Augenkontakt zur Kamera hielt. Wenn Jones den Fotografen in einer Menge von Tausenden ausrastenden Menschen fokussieren konnte, war es wahrscheinlich, dass er auch Anita mit ihrer unverkennbaren Ausstrahlung entdeckte.

Rej schoss einige Fotos von der Bühnenseite und aus der Perspektive des Zuschauerraums. Nach dem ersten Konzert, das mit einem Einsatz der Polizei endete, die den Veranstaltungsort stürmte, drängelte sich Rej zur Garderobe durch, wo sich die Band auf ihre zweite Show vorbereitete.

„Ich machte mich vom Auditorium zum Backstage-Bereich auf“, erinnert sich Rej. „Da kam ein Mädchen auf mich zu und bat mich, sie mit den Stones bekannt zu machen. Sie war sehr hübsch und ich zögerte nicht – es war ja Teil meines Jobs. Ihr Name lautete Anita Pallenberg.“ Mithilfe von Rejs Journalisten-Status gelangte Anita in die Garderobe der Band. Sie hatte es darauf angelegt, die Musiker zu beeindrucken, und stellte an diesem Tag das Sinnbild der verführerischen Eleganz dar. Anita trug einen beigen Pelzmantel, einen knallengen Pullover und einen modischen Minirock. Das atemberaubende Erscheinungsbild wurde von dunkelster Wimperntusche verstärkt. Ihre Präsenz – für diejenigen, die sich von der Optik überzeugen ließen – wurde noch durch ein packendes Mitbringsel verstärkt. Sie trug einen Klumpen Haschisch bei sich und einige der aufputschenden Amylnitrit-Poppers.

Die Stones waren bei dem ersten Auftritt mit einer alle Grenzen sprengenden Hysterie empfangen worden, doch in der Garderobe herrschte eine eher bedrückte Stimmung. Man hatte die Band in einen abgelegenen Teil der Räumlichkeiten verfrachtet, der eigentlich für Bierfeste, Zirkusdarsteller und -tiere vorgesehen war. Dort einige Stunden auf den nächsten Auftritt zu warten, stellte sicherlich keine große Freude dar. Pallenbergs Erscheinungsbild und das gebrochene Englisch, gespickt mit Akzenten mehrerer Sprachen, wurde vermutlich mit Interesse, wenn nicht sogar hochgezogenen Augenbrauen honoriert. Zwar war ihr Jones schon früher in dem Jahr begegnet, doch es war höchst unwahrscheinlich, dass einer der anderen Musiker, übersättigt von Celebritys überall auf der Welt, sie kannte – trotz der Veröffentlichungen in zahlreichen Modemagazinen. Angeblich gab es keine anderen weiblichen Besucher, woraufhin Anita den Raum durchstreifte, um das Gesehene schnell einzuschätzen.

„Die waren wie Schuljungen“, berichtete sie später. „Sie sahen mich an, als sei ich eine Bedrohung. [Mick] Jagger versuchte mich runterzuputzen, doch ich ließ es nicht zu, dass mich ein ruppiger Typ mit dicken Lippen fertigmachte. Ich konnte ihn leicht abwürgen und fand schnell heraus, dass Mick in sich zusammenfällt, wenn man ihm die Stirn bietet.“

Anita bot Mick und Keith ihren narkotischen Warenbestand an und behauptete seitdem, dass die Dogen schlichtweg abgelehnt wurden. Sie fühlte sich durch diese Ablehnung wie vor den Kopf gestoßen und gesellte sich zu Brian. Allerdings existieren keine Berichte darüber, dass einer von ihnen sich an die Pariser Begegnung erinnerte (oder sie angesprochen hätte).

Jones fläzte sich auf einem Sofa im Backstage-Bereich und wirkte distanziert von den anderen. Das Haar ließ ihn wie das Abbild einer blonden Gottheit erscheinen, er trug einen weißen Rollkragenpullover sowie weiße Jeans und saß breitbeinig auf dem Möbel. Sogar ohne Socken war er das am modischsten gekleidete Mitglied der Gruppe. Anitas blondes Haar, die langen Beine und die elegante Haltung bezauberten ihn, doch war es vor allem ihre furchtlose Präsenz, die seine Aufmerksamkeit erregte.

Einigen Berichten nach (darunter auch die Aussage des Fotografen Bent Rej) war es Jones, der Anita buchstäblich auserwählte, indem er sie auf Deutsch ansprach: „Ich weiß nicht, wer du bist, aber ich brauche dich.“ Andere – darunter auch Pallenberg selbst – behaupten hingegen, dass sie es war, von der die Initiative ausging.

„Ich ging direkt auf Brian zu, denn er war derjenige, auf den ich stand“, erzählte sie später. „Brian konnte sich gut ausdrücken, sprach leise und war auch des Deutschen mächtig. Er packte mich durch die Art, wie er sich bewegte, durch seine Haare und die sanfte Art. Wenn er redete, forderte er deine ganze Aufmerksamkeit. Er war sensibel, aufgekratzt, seiner Zeit weit voraus und auch in einer anderen Zeit verwurzelt – der Dandy, mit all seiner Kleidung und so weiter!“

Wer auch immer den ersten Zug machte – zwischen den beiden entwickelte sich an diesem Abend eine ungewöhnliche, aufsehenerregende Beziehung. Jones, der eine Fülle von schnell aufeinander folgenden desaströsen, unerfüllten Beziehungen hinter sich hatte, entdeckte bei Anita die gleiche Abenteuerlust, die auch er verspürte.

„Brian war ungewöhnlich“, berichtete Anita der Mail On Sunday 2006. „Er war launisch und körperlich attraktiv. Auf irgendeine witzige Art sah er wie ein Mädchen aus. In sexueller Hinsicht stehe ich auf Frauen und Männer, und er hatte diese wunderbare Uneindeutigkeit. Die anderen Stones wirkten – wie soll ich es am besten ausdrücken? – ängstlich, doch Brian war bereit, fremde Orte zu erkunden. Er war die Ausnahme; die anderen Stones waren zu der Zeit einfach nur Vorstadt-Normalos.“

Bent Rej, in dessen Begleitung Anita bis zur Band hatte vordringen können, war Zeuge der Begegnung und fing diesen Moment mit einer Menge Fotos ein. Bei näherer Betrachtung der entstandenen Bilder fällt die außergewöhnliche Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Jones’ erweiterte Pupillen sind kaum sichtbar, da die blonden Haare bis über die Augenbrauen hängen, während Pallenberg – die man auf einem Foto mit einer Packung Zigaretten sieht – wie sein sprichwörtliches Spiegelbild erscheint. Anita und Brians für die Zukunft wichtiges Gespräch kam zu einem abrupten Ende, da man die Stones für die zweite Show des Abends auf die Bühne zurückrief. Pallenberg kehrte daraufhin zu ihrem Stuhl im Publikumsbereich zurück. Dort erlebte sie erneut Jones’ schwelendes Enigma, obwohl er sich immer einige Schritte hinter der Frontline von Jagger/Richards bewegte. Schon damals machte sie sich für Brian stark: „Brian stand so weit hinter ihnen, dass man es kaum glauben konnte. Da waren sie – Mick und Keith ganz vorne, bei den ersten Gehversuchen, ein Sexobjekt zu werden, wohingegen Brian schon einige uneheliche Kinder hatte!“

 

Nach der Performance der Stones, die damit endete, dass die Polizei das Publikum mit Schlagstöcken und Hunden aus dem Raum trieb, ging Anita wieder in den Backstage-Bereich. „Ich fragte ihn, ob er Lust hätte zu kiffen, und er antwortete: ‚Klar, lass uns einen Joint durchziehen.‘ Und dann meinte er: ‚Komm mit mir ins Hotel.‘ Er regte sich über Mick und Keith auf … erzählte, dass sie sich gegen ihn verschworen hatten … Er war so verletzlich. Brian hatte alle gegen sich. Er tat mir so leid … Ich hielt ihn die ganze Nacht in den Armen, während er weinte.“

Am nächsten Tag folgte Anita dem Stones-Tross nach Westberlin und hängte sich wieder an Jones. Wie sie später berichtete, sagte sie unmittelbar nach der Münchner Episode alle deutschen Model-Jobs ab und bat Catherine Harlé, ihr so schnell wie möglich Aufträge in London zu verschaffen. Aus den Legenden über den Rock’n’Roll (und den Film Spinal Tap) lässt sich entnehmen, dass eine weibliche Anwesenheit in der eindeutig maskulinen Umgebung einer tourenden Band mindestens eine „Herausforderung“ darstellt, wenn nicht sogar weitaus mehr. Anitas Ankunft auf dem Planeten Stones stellte keine Ausnahme von dieser Regel dar, gerade weil sie sich von bürgerlichen Konventionen nicht beeindrucken ließ.

„Ich entschied mich, Brian zu entführen“, erzählte Anita später. „Es klingt wirklich albern, doch daraus wurde sogar ein Film gemacht [Zwischen Beat und Bett, 1968, mit Donald Cammell als Ko-Autor], also über die Entführung eines Popstars. Brian schien der sexuell flexibelste Stone zu sein, ich wusste aber auch, dass ich mit ihm reden konnte. Tatsächlich war ich aber zuerst sein ­Groupie – wirklich!“

Anitas längere Anwesenheit sollte – und das wird wohl niemanden überraschen – die bereits gegenüber Brian bestehenden Animositäten der Band verstärken und die anderen provozieren. Der aufgrund seiner unabhängigen Einstellung und seines so wesentlich anderen Charakters oftmals von den Stones ausgeschlossene Musiker hatte nun eine mächtige Fürsprecherin an seiner Seite. Von Anfang an spiegelte das Paar die Persönlichkeit des jeweils anderen wider. Sie teilten und zeigten eine Arroganz, die gelegentlich in dunkle Wege mündete. Da Jones’ Status als Bandgründer nur noch eine schwache und wenig überzeugende Daseinsberechtigung bei den Stones ausmachte, „packte“ sich Anita die kultiviertere Seite von Brian und verstärkte sie.

Anitas Unterstützung bedeutete für Jones einen riesigen Triumph über Micks und Keiths Dominanz, eine Parteinahme, die in diesem Schurkendrama eine seltene Ausnahme darstellte. Über Jones’ emotionalen Ballast aus der Vergangenheit mochten seine Bandkollegen mal verzweifeln, mal gemeine Witze reißen, doch mit Anita hatte er einen echten „Fang“ gemacht.

„Ich fand auf jeden Fall, dass Brian sehr viel Glück gehabt hatte“, erzählte Richards später. „Als ich Anita das erste Mal sah, war mein erster Gedanke: ‚Verdammt, was macht denn so eine heiße Mieze mit Brian?‘ Anita war unglaublich stark, hatte eine viel stärkere Persönlichkeit als Brian, war selbstsicherer und hielt nichts zurück, wohingegen Brian voller Zweifel steckte.“

Die Allianz zwischen Jones und Pallenberg stellte geradezu einen Schock für diejenigen dar, die Brians kurze Aufmerksamkeitsspanne hinsichtlich Beziehungen kannten. Anitas Intelligenz und ihr kraftvoller Feminismus erhoben sie über die Menge der unterwürfigen Frauen, die so häufig an den Rockschößen der Band hingen.

„Für mich war sie ein Rätsel“, berichtet der Fotograf Gered Mankowitz. „Wenn sie dich nicht dabei haben wollte – egal, was gerade abging –, zeigte sie es dir auch deutlich. Sie hatte ein einzigartiges, sehr vereinnahmendes und überaus sexuelles Charisma. Man kann sie als beängstigenden, manchmal ungeheuerlichen Charakter beschreiben. Sie konnte sehr cliquenhaft sein. Sie und Brian führten eine Beziehung, bei der sie sich abschotteten und zusammenhingen. Sie waren von allem um sie herum abgeschnitten.“

„[Anita] war extrem offen und unverblümt“, erklärte Marianne Faithfulls früherer Ehegatte John Dunbar. „Sie konnte dich aufziehen, aber auch ein ‚harter Kerl‘ sein. Wenn Leute sie auf irgendeine Art verarschen wollten, machten sie denen das Leben zur Hölle.“

Erzählungen nach warnte Jagger – der Anitas Ankunft als eine echte Herausforderung empfand – die Leute in seinem engen Umfeld vor einem näheren Kontakt mit ihr. Das änderte nichts daran, dass Jaggers damalige Freundin Chrissie Shrimpton Anita als eine ehrliche und gradlinige Person einschätzte. „[Sie] war sich ihres Einflusses bewusst, aber auch sehr mitfühlend“, berichtete Shrimpton dem Autor Victor Bockris. „Im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die mir meinen Platz streitig machten, bemerkte ich bei Anita niemals so eine Tendenz. Vielleicht war sie manchmal boshaft, doch sie hatte auch viel Macht. Sie setzte ihre Macht aber niemals für bösartige Aktionen ein, was ich sehr an ihr schätzte. [Anita] war schräg, freaky und auch stark, aber ihre Gefühle waren immer echt.“

Obwohl sich Marianne Faithfull damals eher im Dunstkreis der Band aufhielt, bemerkte sie, dass Anita größtenteils dafür verantwortlich war, dass die Stones [im Rahmen der Psychedelic-Ära] ein Renaissance-Image aufbauten und eine andere Grundhaltung einnahmen. 1994 schrieb sie: „Das Bündnis von Anita mit Brian ist zugleich die Geschichte, wie aus den Stones die Stones wurden. Sie war eine der maßgeblich Verantwortlichen für die kulturelle Revolution in London, indem sie die Stones mit den wohlhabenderen Jugendlichen zusammenbrachte.“

Brian Jones’ oftmals ungehaltene und egomanische Präsenz befremdete zahlreiche Menschen, doch im Einklang mit Anita hielt die Kombination ihrer Charaktere den Kritikern stand. Durch den Energieschub, den die Beziehung ihm gab, nahm Brians Selbstvertrauen exponentiell zu.

„Ich empfinde Brians und Anitas Beziehung als höchst faszinierend“, erklärte Paul Trynka, Autor der besten und alles überragenden Jones-Biografie Sympathy For The Devil: Die Geburt der Rolling Stones und der Tod von Brian Jones. „Ich glaube, dass es für Brian eine bewusste Entscheidung war, eine Art Verdoppeln-oder-Beenden-Wette, denn er wusste, dass sie ein grandioses Team würden. Ein Teil von ihm liebte das Chaos, das Alles-oder-Nichts, alles in Aufruhr zu versetzen. Er wusste, dass Anita und er zusammen etwas Energiereiches freisetzten. Die beiden waren das ultimative Power-Paar, immer an vorderster Front, und Anita war nun mal 50 Prozent der Beziehung.“

„Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann ich Anita das erste Mal traf“, erzählte der Stones-Manager Andrew Oldham dem Autor 2018, „doch ich spürte eine Kraft, eine Energie, die nicht nur Brian (und später Keith) berührte, sondern den gesamten Weg der Rolling Stones beeinflusste. Ich wollte diese Stärke nicht näher ergründen, es war mir schlichtweg egal, doch ich wusste, dass Anita zu den Hauptautorinnen der kommenden Kapitel der [Stones-Geschichte] zählen würde“.