Geistbestimmtes Leben

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Aus der Reihe: Studiengang Theologie #11
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2.3
Leben in Gottes Gegenwart

In diesem Unterkapitel wird besonders der «goldene Faden» hervortreten. Zunächst wird die Aufmerksamkeit darauf |50| gelenkt, dass die Verkündigung Jesu in auffälliger Weise gegenwartsbezogen ist. Wer zu realisieren beginnt, dass Gott gegenwärtig ist, dem/der tut sich eine neue Gegenwart auf. «Es gehört zu Gottes Wesen, daß Gott da ist. Hat er sich im brennenden Dornbusch doch selbst definiert als der ‹Ich bin der, der da ist› (Ex 3,14)», schrieb Silja Walter vor dem Hintergrund ihrer eigenen Umkehrerfahrung. Und sie benennt auch gleich die Folgen dieser Erfahrung:

«Was das heißt, ist buchstäblich zu verstehen. Es wirft einem den Lebenskurs um wie einen Kahn im Strom und treibt ihn in der Gegenrichtung voran. Gott ist da, Gott ist da! Was ist daneben eigentlich noch wichtig? Daß Gott nicht nur da ist, daß er auf uns hin da ist, macht alles noch umwerfender – der Ausdruck sagt, daß uns das auf die Knie werfen sollte.»49

2.3.1
Die gegenwartsbezogene Verkündigung Jesu

Die in der Taufe vollzogene Umkehr ist begründet in der Erfahrung einer neuen Zuwendung Gottes, der politisches oder persönliches Missgeschick wendet und heimkehren lässt aus der Verlorenheit (vgl. Pss 85,1.5; 126). Die neu sich offenbarende Gegenwart Gottes erschliesst ein Leben in der Gegenwart, indem sie die lähmende Fixierung auf eine traumatische Vergangenheit löst und aus einer zukunftsarmen Haltung der Hoffnungslosigkeit und der Resignation befreit. Die Verkündigung Jesu, dass das Himmelreich jetzt schon anbricht und sich unter den Menschen ausbreitet, steht in deutlichem Kontrast zur angsterfüllten Erwartung einer bald einbrechenden Apokalypse. Das Evangelium von der Nähe Gottes, das die Gegenwart vom Druck der Sorge um die eigene Zukunft entlastet, eröffnet eine neue, nicht an «Fristen und Zeiten» (Apg 1,7) gebundene Gastlichkeit dem Künftigen gegenüber, die mehr erhofft, als die bisherige Lebens- und Weltgeschichte verspricht.

«Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir» (Offb 3,20).

|51| Der wiederkommende Christus verbirgt sich in der Gestalt eines Bettlers, der an die Türe unseres Herzens klopft:

«Man darf die Wiederkehr Christi nicht mißverstehen: der Herr kommt uns nicht von außen entgegen, sondern er ist wahrlich der Bettler der Liebe, der von innen anklopft.»50

Um dieses leise Anklopfen wahrzunehmen, ist eine innere Achtsamkeit nötig, zu der unser Herz erst nach und nach erwacht. Johannes Tauler beschreibt den Ausgangspunkt eines geistlichen Weges in einem drastischen Bild:

«Woher, glaubt ihr wohl, kommt das, dass der Mensch auf keine Weise in sein Grund gelangen könne? Das kommt daher, dass so manche dicke, schreckliche Haut darüber gezogen ist, ganz so dick wie eine Ochsenstirn: die haben ihm seine Innerlichkeit verdeckt, dass weder Gott noch er selber da hineingelangen kann; der Eingang ist verwachsen. Wisset, manche Menschen können dreißig oder vierzig (solcher) Häute haben, dick, grob, schwarz wie Bärenhäute.»51

Die griechisch-orthodoxe Tradition braucht für dieses innere Verschlossensein das Wort Anästhesie, Wahrnehmungslosigkeit.52 Nur durch Wachen und Beten (vgl. Mt 26,41; Mk 13,33) öffnet sich das innere Wahrnehmen für die geheimnisvolle Gegenwart Gottes. Die achtsame Ausrichtung auf Gottes ankommende Gegenwart verändert die Gegenwart des Menschen, indem sie allmählich die drückenden Schatten der Vergangenheit auflöst und einen neuen Zukunftshorizont eröffnet. Und nur die immer wieder neue Selbstvergegenwärtigung Gottes verhindert, dass Menschen in ihr altes Leben zurückfallen, das auch im neuen als vergangene, als immer wieder auszuschliessende Möglichkeit gegenwärtig bleibt.

2.3.2
Zeitbefristung und Zeitgewährung

Auf diese Weise ist die neue Zeit des Glaubens zugleich geprägt von Zeitbefristung (vgl. Röm 13,11 f.) und Zeitgewährung (vgl. 2 Petr 3,9). Während nämlich, biblisch gesprochen, die Macht des alten Äons radikal befristet wird, erfahren |52| sich Glaubende als Menschen, denen sich aller Befristung zum Trotz Gegenwart neu erschliesst. Deshalb ist die apokalyptische Tendenz, die auf ihr nahes oder fernes Ende zulaufende Geschichts- und Weltzeit mit dem alten Äon zu identifizieren, ebenso problematisch wie die moderne Gleichsetzung der geschichtlichen Neuzeit oder eines New Age mit der neuen Zeit Gottes. Alt und von Gott zum Vergehen bestimmt ist nicht die Lebens- und Weltzeit an sich, sondern die «Irre der menschlichen Zeitbeherrschung»53, die ausweglose Verzweiflung des «alten Adam» und der Terror des Todes (vgl. Hebr 2,14 f.). Neu und zukunftsträchtig sind nicht in erster Linie das geschichtsmächtige Wirken des Menschen oder kosmische Umbrüche, sondern das bleibend neue und gnadenhafte Entgegenkommen Gottes und das dadurch geweckte und inspirierte Leben in österlicher Achtsamkeit.

2.3.3
Die Würde der befristeten Gegenwart

Die gläubige Erfahrung, Zeit für ein neues Lebens eingeräumt zu bekommen, hat persönliche und gesellschaftspolitische Konsequenzen. Sie vermag Alternativen zu erschliessen zur scheinbar unaufhaltsamen geschichtszeitlichen Beschleunigung. Natürlich können Glaubende nicht aus der hypermobilen Gesellschaft aussteigen. Sie haben teil an der «Schrumpfung der Gegenwart», an der temporalen «Innovationsverdichtung in wissenschaftlichen und technischen, in kulturellen und politischen Prozessen».54 Von der Last, die Kürze des Lebens durch Beschleunigung des Erlebens wettmachen zu müssen, sind sie jedoch befreit. Die österliche Neubestimmung des Zukunftshorizonts bringt die Spannungen in der Gegenwart nicht zum Verschwinden, sondern ans Licht. Das bringt die präsentische Eschatologie des Johannesevangeliums besonders deutlich zum Ausdruck.

Das durch den Schöpfungs- und Erlösungsglauben geschärfte Bewusstsein, dass die Welt nicht sein müsste und nicht so sein müsste, wie sie ist, dass die «Zeit kurz ist […] und die Gestalt dieser Welt vergeht» (1 Kor 7,29.31), führt nicht notwendigerweise zu einer Entwertung des irdisch Vergänglichen. |53| Im Gegenteil, sie bewahrt vor einer apokalyptischen Abbruchsehnsucht, die im «Sog des Endgültigen […] alles unwichtig werden [lässt], was als Unterscheidung an der Gegenwart zu treffen wäre. […] Wo die Gegenwart zu einer heillosen Zeit geworden ist, lebt man ständig auf dem Sprung, ihr zu entrinnen; man lebt im ständigen Exodus aus der Gegenwart, in der Sezession vom Jetzt.»55 Das Vorläufige und Befristete zu vergleichgültigen, ist eine religiöse Variante der menschlichen Versuchung, die Endlichkeit des Lebens imaginativ zu überspielen. Das Vertrauen auf Gottes gute Gegenwart nährt die geduldige Hoffnung, die sich im Konkreten, in den vielen unscheinbaren und dennoch entscheidenden kleinen Schritten bewährt. Als eine von der verborgenen und «ankommenden» Gegenwart Gottes erfüllte hat die befristete Gegenwart des Menschen eine eigene Würde. Während sie ihre Fülle dem verbirgt, der ungeduldig über sie hinausdrängt, offenbart sie sich der Kontemplation des Glaubens als Wirklichkeit des Heils, als «stille Vorwegnahme einer im Schweigen der Zukunft leuchtenden Welt»56.

Zum Weiterlesen

Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge. Werke Bd. 4. Hg. v. Martin Kuske und Ilse Tödt, Gütersloh 32002.

Dalferth, Ingolf U.: Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997.

Haeffner, Gerd: In der Gegenwart leben. Auf der Spur eines Urphänomens, Stuttgart 1996.

Kiechle, Stefan: Sich entscheiden (Ignatianische Impulse 6), Würzburg 2004 u. ö.

Lorenz von der Auferstehung: Allzeit in Gottes Gegenwart. Die gesammelten Werke. Übers. v. Gerhard Tersteegen, Schwarzenfeld 2005.

Luz, Ulrich: Art. Nachfolge Jesu, Neues Testament, in: TRE Bd. 23 (1993), 678–686.

Pannenberg, Wolfhart: Die Bedeutung von Taufe und Abendmahl für die christliche Spiritualität, in: ders.: Beiträge zur systematischen Theologie, Bd. 3, Göttingen 2000, 74–85.

Weder, Hans: Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, Neukirchen-Vluyn 1993.

3
|54| Primat der Gnade

Die unableitbare Vor-Gabe, von der christliche Spiritualität ausgeht und lebt, ist die all unserem Sein und Tun vorangehende Liebe Gottes. Genau dies meint die theologische Rede vom Primat der Gnade und bezieht sich meist auf Gottes Heilswirken. Nach Meister Eckhart ist aber bereits die Gabe des Seins eine besondere Gnadengabe.57 Sie verdichtet sich in der Selbstgabe Gottes in Christus. Was wir uns weder erarbeiten noch verdienen können, zeigt und schenkt sich uns in der selbstlosen und hingabebereiten Liebe Jesu: die Zuwendung Gottes, der nicht ohne uns Gott sein will und uns entgegenkommt, noch bevor wir uns aufmachen zu ihm. In der unbedingten Selbsthingabe eines Einzelnen hat sich allen Menschen ein Tor geöffnet, durch das sie eintreten dürfen in die Gemeinschaft mit Gott.

Geistbestimmt zu leben bedeutet, sich prägen zu lassen von dieser unableitbaren Vor-Gabe, die allem Wollen und Handeln vorausgeht. Das ist anspruchsvoller, als es klingt. Es fällt uns oft schwer, uns etwas (vor-) geben, uns etwas (zu-) sagen zu lassen. Unser Selbstgefühl gründet in dem, was wir tun, verstehen und kontrollieren können. Wir sind stolz auf unsere Leistungen und Erfolge, auf unser Wissen und unser Können. Natürlich wissen wir, dass uns manches unverdient zugefallen und geschenkt worden ist. Doch das Wesentliche unserer Identität sehen wir gewöhnlich in dem, was wir selbst zu ihrem Aufbau beigetragen haben. Der Zuspruch des Evangeliums läuft einem solchen Denken zuwider. Das Wesentlichste, so lautet die Grundbotschaft, können wir uns nicht erarbeiten. Wir dürfen es uns jedoch schenken lassen. Nicht auf unsere eigene Leistungskraft kommt es an, sondern darauf, uns auf den Geist Gottes, der schon in uns wirksam ist, einzulassen und aus ihm zu leben.

 

Eine naheliegende Möglichkeit, die Dissonanz zwischen unseren gewohnten Denk- und Fühlmustern und der Botschaft Jesu abzumildern, besteht darin, den Zuspruch des Evangeliums zu ersetzen durch Leistungsansprüche religiöser und moralischer Art. Man versteht dann Spiritualität als eine |55| Sache von Training und Disziplin. So wird denn auch oft die Radikalität der Bergpredigt mit einem angestrengten Heroismus verwechselt, den sich nur wenige auf die Länge leisten können. Dabei vergisst man, dass den Forderungen der Bergpredigt das heilsame Wirken Jesu vorangeht, nämlich die in Mt 4,23 f. geschilderten Krankenheilungen.

«Radikalität im Sinne des Matthäusevangeliums setzt die Faszination am Reich Gottes voraus. Weil sie aus der Faszination entspringt, hat sie nichts mit Heroismus zu tun. Matthäus macht diesen Bezug zwischen Faszination und Radikalität im Gleichnis vom Schatz im Acker deutlich. Der Mann, der hingeht und alles verkauft, damit ihm der Acker mitsamt dem Schatz gehört, handelt nicht heroisch, sondern voll Freude. Er kann gar nicht anders, oder besser: Er will gar nicht anders. Er kann sich gar nichts Besseres denken.»58

Dieser Primat der Gnade, des heilsamen Wirkens Gottes, dem auf Seiten des Menschen ein Primat der Freude entspricht, ist das Herzstück christlicher Spiritualität. Die folgenden Abschnitte entfalten einige Aspekte davon und fragen nach den Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

3.1
Gabe und Weitergabe des Glaubens

Die Gabe des Geistes ermöglicht die Weitergabe des Glaubens. Der Geist inspiriert die Kommunikation des Evangeliums. Dieser Grundgedanke wird in den folgenden drei Abschnitten entfaltet, die dem Geschenkcharakter des Glaubens, den Zeuginnen und Zeugen des Evangeliums und dem unverfügbaren Charisma des Wortes gewidmet sind.

3.1.1
Geschenkter Glaube

In die Nachfolge treten zu können, hat zur Voraussetzung, dass uns jemand ruft und vorausgeht. Wir müssen uns jemandem anvertrauen dürfen, der ein verlässlicher Zeuge darstellt, der glaubwürdig ist, weil er sich ohne Berechnung verschenkt. Einem Zeugnis zu vertrauen, es zum Ausgangspunkt eines persönlichen Weges werden lassen, ist das Wagnis des christlichen Glaubens. Niemand geht es ein, der nicht schon vom |56| Wirken des Geistes berührt worden wäre. Das Evangelium zu hören, den Ruf, der an mich ergeht, wahrzunehmen, von einer Sehnsucht oder einer stillen Freude erfasst zu werden, all das ist Gnade, Gabe des Heiligen Geistes. Zum Glauben wird man nicht erzogen, sondern bewogen.59 Etwas erscheint mir glaubwürdig, überzeugend und verheissungsvoll – oder eben nicht. Und schon der Wunsch, die Glaubwürdigkeit von etwas, das ich nur von ferne kenne, selbst zu überprüfen, offenbart eine Ahnung oder eine Intuition, die sich auf eine nicht verfügbare Weise einstellt. Wenn wir die Sehnsucht haben zu glauben und beten: «Herr, hilf meinem Unglauben!» (Mk 9,24), dann haben wir schon begonnen zu glauben. Bei Frère Roger findet sich eine lebensnahe Beschreibung davon, was es heisst, zum Glauben bewogen zu werden:

«Wie kann man diese einzigartige Quelle entdecken, den Ort, an dem das Evangelium in seiner ersten Frische hervortritt? Vielleicht hast du es bemerkt: Zutiefst im Menschen ruht die Erwartung einer Gegenwart. Denk daran: Diese schlichte Sehnsucht nach Gott ist schon der Anfang des Glaubens. Und lässt sich Jesus Christus in der Schönheit eines weitgefassten gemeinsamen Gebets wahrnehmen, stellt sich brennendes Verlangen ein, Gott besser zu begreifen. Es kommt nicht auf umfangreiche Kenntnisse an. Sie können von grossem Wert sein. Das Geheimnis des Glaubens erschliesst sich dir aber zunächst auf dem Weg der Intuition. Das Verstehen kommt später. Man bekommt nicht alles auf einmal. Wäre Jesus nicht auf die Erde gekommen, könnte Gott dir immer noch weit entfernt, ja unerreichbar erscheinen. Christus, der Auferstandene, bringt ihn in die Reichweite unseres Lebens. Erinnerst du dich für immer an jene überwältigende Wirklichkeit des Evangeliums: ‹Nicht wir, sondern er hat uns zuerst geliebt.› Hier ist ein Licht für dein Leben. So unwahrscheinlich es sein mag: Wenn du dich ihm überlässt, brauchst du dich nicht zu beunruhigen, falls du es nicht vermagst, seine Liebe sofort zu empfangen.»60

Den Keim des Glaubens legen wir nicht selbst in uns. Das Wort, das mich heil macht, aus dem ich neu geboren werde (vgl. 1 Petr 1,23), kann ich nicht selbst zu mir sprechen. Am Anfang steht immer ein Ruf, der mich unerwartet trifft, eine |57| Gabe, die ich nicht gesucht habe, eine Sehnsucht, deren Herkunft mir verborgen ist, eine Intuition, die mir zufällt, eine Ahnung tiefer Freude, die mich bewegt. Geistbestimmtes Leben antwortet auf diesen Ruf, den es immer tiefer zu verstehen gilt, auf diese Gabe, die nur durch meine Hingabe zu erwerben ist, auf diese Sehnsucht, die geläutert werden muss, auf diese Intuition, die nach Verwirklichung verlangt, auf den Jubel, der mich zum Einstimmen einlädt (vgl. Lk 1,41 f.).

3.1.2
Zeuginnen und Zeugen des Evangeliums

Die Weitergabe des Glaubens geschieht durch das persönliche Zeugnis und Bekenntnis, ohne das es keine lebendige Gotteserkenntnis gibt. Wer Gott als die sein Leben verwandelnde Liebe erkannt hat, kann nicht anders, als sich dankend zu ihr zu bekennen. Wen der Geist Gottes berührt und ihm das Verständnis für seine wirksame Gegenwart erschliesst, den macht er auch zu seinem Zeugen (vgl. Apg 1,8). Natürlich hat ein solches Zeugnis nicht immer den gleichen Klarheitsgrad, nicht jederzeit dieselbe Überzeugungskraft. Doch kann der Geist auch durch armselige Medien inspirierend wirken. Ob die Weitergabe des Glaubens gelingt, bleibt unverfügbar, handelt es sich doch um ein kommunikatives Geschehen mit drei Partnern. Demjenigen, der seinen Glauben bezeugt, steht jemand gegenüber, der sich davon betreffen lässt, und in beiden wirkt der Geist Gottes, der das je konkrete Leben im Licht des Evangeliums neu erschliesst und in seinem Feuer verwandelt. Im Eingang zu seinem Brief an die ihm persönlich nicht bekannten Christen in Rom reflektiert Paulus über dieses kommunikative Ereignis. Er beschreibt das Evangelium in Röm 1,16 als heilswirksame Kraft. Es informiert uns nicht lediglich über einen Sachverhalt, sondern verändert unser Leben und öffnet es «auf Gottes Gegenwart hin […] und für Gottes gute Gaben»61. Wo die Weitergabe des Glaubens durch die Kommunikation des Evangeliums glückt, hat sie etwas Gegenseitiges. So schreibt Paulus:

|58| «Ich sehne mich danach, euch zu sehen; ich möchte euch geistliche Gaben vermitteln, damit ihr dadurch gestärkt werdet, oder besser: damit wir, wenn ich bei euch bin, miteinander Zuspruch empfangen durch euren und meinen Glauben» (Röm 1,11 f.).

3.1.3
Unverfügbares Charisma des Wortes

Die Vielgestaltigkeit der Kommunikation des Evangeliums zeigt sich etwa in der Spiritualität der Wüstenväter des 4. und 5. Jahrhunderts. Zunächst gilt auch hier die Regel: «Ein heiligmäßiges Leben erzieht mehr als eine Predigt.»62 Die Meister der Wüste sprechen nicht, wenn sie nicht dazu aufgefordert werden. Doch ist ihr Schweigen beredt und durchlässig für den durch sie sprechenden Gott. Sie gehören zu den Menschen, die nicht nur im Hinblick auf das Gebet wissen, «daß es das allerbeste und alleredelste, wozu man in diesem Leben kommen kann, ist, wenn du schweigst und Gott wirken und sprechen läßt»63. Entsprechend wurde die geistliche Unterweisung im altkirchlichen Mönchtum als ein geistgewirktes Geschehen erlebt, das sich an gewisse ritualisierte Formen hielt. Kam ein Schüler zu einem Altvater, so bat er ihn um ein Wort, d. h. eine Ermutigung oder einen Rat. Meist wurde diese Bitte nicht unmittelbar erfüllt. Oft schwieg der Weise zunächst einmal beharrlich, manchmal tagelang, bevor er in einem knappen Ausspruch von sich gab, was sich in ihm durch Gebet und Meditation verdichtet hatte. In dieser Zeit des wartenden Schweigens kann auch die Empfänglichkeit des Ratsuchenden reifen und sich seine fragliche Situation von selbst klären.

«Der Altvater antwortet auf die Heilsfrage keinesfalls sofort […], manchmal auch gar nicht. In einem ganz ursprünglichen Sinn kommt seine Antwort aus dem Schweigen. Das viertätige Schweigen des Altvaters Pambo auf die Fragen einiger Brüder wird als ‹Gewohnheit des Greises› begründet, denn ‹er redet nicht leicht, wenn es Gott ihn nicht sicher wissen läßt.› Die Antwort auf die ‹Heilsfrage› des Bruders steht |59| nicht in menschlicher Verfügbarkeit, sie kommt von Gott her. Nur das von Gott kommende Wort führt zum Heil. Gottes heilsames Wort für den einzelnen Mönch kommt ihm aber durch den Altvater zu, dem Gott das ‹Charisma des Wortes› verliehen hat. […] Durch das Schweigen des Altvaters kommt nun der Fragende mit der ‹dritten Größe› ihrer Begegnung, dem Geist Gottes, in Berührung. In eine unmittelbare – d. h. nicht durch den Abbas vermittelte – Begegnung weisen auch jene Worte, die statt der begehrten Antwort den Bruder in das Schweigen der Zelle schicken: ‹Fort, geh in dein Kellion und setze dich nieder, und das Kellion wird dich alles lehren.›»64

Ein jüngeres Zeugnis für das unverfügbare Charisma des heilsamen Wortes findet sich beim englischen Dominikaner Timothy Radcliffe:

«Einer meiner Vorgänger im Amt des Provinzials war ein Mitbruder namens Anthony Ross OP. Er war berühmt als Prediger, als Historiker, als Gefängnisreformer und sogar als Ringer! Eines Tages, kurz nach der Wahl zum Provinzial, erlitt er einen Schlaganfall und wurde praktisch aufs Schweigen zurückgeworfen. Er musste vom Provinzialat zurücktreten und erneut lernen zu sprechen. Die wenigen Worte, die er sagen konnte, hatten mehr Kraft als alles, was er vorher gesagt hatte. Die Menschen kamen zu ihm zur Beichte, um seine einfachen, heilenden Worte zu hören. Seine Predigten aus einem halben Dutzend Wörtern konnten das Leben von Menschen verändern. Es war, als ob das Leid und die Stille einen Prediger geformt hätten, der uns Leben spendende Worte schenken konnte wie niemand zuvor.»65

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