Ardeen – Band 10 | Teil 1

Text
Aus der Reihe: Ardeen #10
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Ich muss das Wasser rationieren, dachte Eryn und etwas anderes bereitete ihm ein flaues Gefühl im Magen. Wenn ich den verdammten Reif nicht bald zerstören kann, dann muss ich meinen Fuß abschneiden. Und er begann damit, sich eine bessere Säge zu basteln. Dafür musste ein Blechteller herhalten, den er so lange hin und her bog, bis er in der Mitte auseinanderbrach. Er stanzte Zacken in die Bruchkante hinein und schaffte es sogar, den oberen Bereich derart umzubiegen, dass er dort seinen einzigen Löffel als Griff einsetzen konnte. Diese neue Säge benutzte er nicht, um am Metallreif herumzuschaben. Das würde die größeren Zacken nur stumpf werden lassen. Diese Zacken mussten scharf bleiben, wenn der Moment kam, an dem sie durch Fleisch und Knochen schneiden mussten. Doch noch hegte Eryn die Hoffnung, dass er den Reif irgendwie zerstören könnte. Die kleine Rille hatte mittlerweile eine Tiefe von zwei Millimetern erreicht, was ungefähr einem Fünftel der Metalldicke entsprach. Er arbeitete nun viel intensiver daran, denn ihm war klar, dass er bessere Fortschritte machen musste, um nicht auf den letzten Ausweg angewiesen zu sein.

Seiner Schätzung nach blieben ihm noch ein paar Tage, wenn er das Wasser gut einteilte. Das Messer kratzte ständig und so fiel es Eryn zunächst gar nicht auf, dass der Wind draußen stärker wurde. Der Wind blies beständig und kam nie ganz zum Erliegen, doch jetzt braute sich etwas zusammen. Dunkle Wolkenberge türmten sich am Himmel auf und starke Böen peitschten über die See.

So, wie der Raum angelegt war, hielt er den Wind gut ab, doch das Heulen vom Eingang her konnte man nun überdeutlich hören. Eryn sah von seiner Arbeit auf und ging zum Ausgang hinüber. Dort peitschte ihm bereits heftiger Regen aus schwarzblauen Wolken entgegen und große Wellen brachen sich an dem Felsen, sodass die Gischt bis zum Eingang emporspritzte.

Mit Unbehagen zog sich Eryn wieder zurück in seine Kammer, denn ein Sturm zog auf. Immer heftiger heulte und rüttelte es und dann schlug Wasser gleich einem Hammer von draußen an die Scheibe des Fensters und ließ sie zerbrechen. Die nächste Welle trieb dann einen Schwall Wasser durch die Öffnung und Eryn mühte sich verzweifelt, das Loch abzudichten. Doch die Kräfte der wütenden Wellen waren einfach zu groß. Sie zerstörten seine kläglichen Bemühungen und warfen ihn selbst zu Boden. Dort sammelte sich bereits das eingedrungene Wasser und immer mehr kam herein, sodass Eryn den Rückzug antrat.

Er begab sich in den schmalen Durchgang, der sich nach draußen öffnete. Der war so steil, dass es das Wasser noch nicht bis dorthin geschafft hatte, während es bereits knietief den Boden des Raumes bedeckte.

Bei den Göttern, warum werde ich so heimgesucht? Das Wasser stieg und Eryn befand sich nun fast am Ende des Durchgangs. Auch vom Eingang spülte Wasser herein und lief die Schräge hinunter, um beim Befüllen des Raumes zu helfen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und es war so dunkel geworden, dass man nicht mehr die Hand vor Augen sah. Eryn horchte auf das zornige Heulen, ob der Sturm vielleicht langsam schwächer werden würde. Kein Unterschied ließ sich erkennen und dann begann das Wasser seine Füße zu umspülen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Kammer nun fast vollständig geflutet war. Eryn ertastete die Kante des Ausgangs mit seinen Händen, dann kam ihm ein Schwall Wasser entgegen und der warf ihn rückwärts zurück in den Durchgang. Er fiel und tauchte kurz mit dem Kopf unter, bevor er japsend an die Oberfläche kam. Auf Händen und Knien kletterte er wieder nach oben. Doch der Sturz hatte seine Orientierung beeinträchtigt und er merkte nicht, dass er inzwischen den geringen Schutz des Durchgangs verlassen hatte und sich nun draußen auf dem schmalen Vorsprung befand. Die nächste Welle erwischte ihn mit voller Kraft und drückte ihn mit dem Rücken an den Felsen. Wieder drohte er zu stürzen. Schnell machte er einen Schritt zur Seite, um sich abzufangen, dabei glitt er aus und fiel über den Rand des Vorsprungs in die Tiefe. Er schrie, doch der Sturm verschluckte seine Stimme. Und dann schrie er noch mehr, als ein scharfer Ruck an seinem Fußgelenk den Sturz bremste. Nun hing er kopfüber von der Klippe und der Eisenring schnitt grausam in das Fleisch seines Beines, doch die Kette hielt und hinderte ihn daran, gänzlich in die tosenden Wellen zu stürzen.

Die nächste Welle rollte heran und schlug mit Wucht zu, während Eryn hilflos über Kopf herunterhing.

Ihr Götter, lasst mich einfach sterben. Der Gedanke war verlockend, doch dann obsiegte sein Willen zu überleben. Er drehte sich zur Seite und konnte mit der Hand einen guten Griff in der Felswand finden. Tatsächlich war dies gar nicht so schwierig, denn der Fels war verwittert und scharfkantig. Er zog sich seitlich nach oben, und dann fand er Halt mit seinem freien Bein. Eine weitere Welle krachte neben ihm gegen den Felsen, doch ihn traf dabei nur ein Schauer von Tropfen. Langsam kämpfte er sich die Felswand wieder hoch und dann rollte er über die Kante des Vorsprungs, wo er keuchend auf dem Rücken liegen blieb. Bildete er sich das nur ein, oder war der Regen inzwischen schwächer geworden? Er horchte. Eine Welle brach sich am Felsen und überschüttete ihn mit Gischt. Daraufhin kroch er halb in den Durchgang hinein, damit er nicht wieder in die Tiefe gerissen würde.

Sein Fuß musste ziemlich lädiert sein, doch zum Glück spürte er keinen Schmerz. Noch nicht. Er tastete nach dem Gelenk und fühlte eine tiefe Schnittwunde. Sie musste ziemlich bluten, doch alles war so dermaßen nass, dass er das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Allerdings war er in der Heilkunst versiert genug, um zu wissen, was er zu tun hatte. Von seinem Hemd riss er einen Streifen Stoff und band damit das Bein ab, während der Sturm langsam zur Ruhe kam.

Eryn lehnte erschöpft mit dem Rücken an der Wand und zitterte am ganzen Körper. Es war kühl, doch nicht so kalt wie an der Küste im Norden, sonst hätte er diese Nacht nicht überlebt. Aber auch so war ihm klar, dass sich seine Situation drastisch verschlechtert hatte. Salzwasser hatte sein Domizil geflutet und damit waren seine Vorräte an Trinkwasser dahin. Vielleicht fand er noch etwas Seegras und einen der Fische, doch auch das würde ihn nicht mehr lange retten. Somit war seine finale Entscheidung gefallen.

Hoffentlich finde ich noch die Säge. Sobald es genügend Licht gibt, muss ich den Fuß abnehmen. Ich brauche Zugriff auf meine Magie, der Rest lässt sich heilen.

Sein ausgezehrter Körper hatte ihn in einen traumlosen Schlaf gleiten lassen und als er erwachte, schien die Sonne von einem blauen Himmel, den kein Wölkchen trübte. Nichts mehr erinnerte an den gewaltigen Sturm der letzten Nacht. Eryn saß im Durchgang im Trockenen, denn der nun ruhige Wasserspiegel in seiner Behausung reichte nur bis auf die Höhe des tiefer liegenden Fensters.

Ich hätte in der Kammer bleiben können und wäre nicht ertrunken, dachte Eryn. Doch tags zuvor hatte das alles anders ausgesehen. Sein Fuß war nun dunkelblau angelaufen und er spürte ihn nicht mehr. Kein gutes Zeichen. Ich muss die Säge finden. Doch was er zuerst fand, war ein größerer Stein, der sich gelöst haben musste und nun im Durchgang halb unter Wasser lag. Eryn griff danach und beschloss, damit noch einmal auf den Metallreif einzuschlagen. Das erschien ihm noch deutlich besser, als die Säge zu benutzen. Außerdem spürte er den Fuß sowieso nicht mehr.

So hämmerte er auf das Metall ein. Einmal, zweimal. „Du Scheißding, geh endlich auf!“

Und dann schmetterte er den Stein wie ein Irrer wieder und wieder auf das Eisen. Tränen standen ihm in den Augen.

„Ich habe eine Scheißangst, diese Säge zu gebrauchen ... Wenn ich sie überhaupt finden kann. Geh auf, geh auf, geh auf!“

Da endlich hatten die Götter ein Nachsehen und der Eisenring zerbrach. Zunächst konnte Eryn es gar nicht fassen, als ihn die Magie durchflutete. All seine zwölf Adern pulsierten in leuchtenden Farben. „Die Poxe am Arsch, ich bin frei!“, jubelte er. „Ich bin wieder frei und nie wieder in meinem Leben werde ich so dumm sein, mir so etwas anzutun. Einen Magieblocker ohne Schloss. Wie dämlich muss man sein.“ Eryn lachte befreiend über seine eigene Dummheit. Sein benebeltes Hirn hatte ihn damals nicht klar denken lassen, doch nun war alles anders. Das Martyrium durch den Sturm und die Schmerzen hatten die letzten Reste der Rauschkrautvergiftung aus seinem Körper getrieben und nun konnte er wirklich ein neues Leben beginnen.

Doch zunächst musste er sich um seinen verletzten Fuß kümmern. Er löste das Stoffstück, mit dem er das Bein abgebunden hatte und untersuchte die Verletzung magisch, so wie er es schon oft getan hatte – allerdings stets bei anderen. Was sich ihm da offenbarte, sah nicht gut aus.

„Den Schaden wieder zu richten, wird eine Weile dauern“, murmelte er und leitete erste Schritte ein. Blutgefäße waren zerstört und der Schnitt, welchen er sich beim Fall von der Klippe zugezogen hatte, reichte bis hinunter auf den Knochen. Drum herum gab es noch etliche Quetschungen und Eryn vermutete, dass einige davon auf die Schläge mit dem Stein zurückzuführen waren. Am Fußgelenk selbst gab es eine Knochenabsplitterung und die Bänder waren arg in Mitleidenschaft gezogen. Rund eine Stunde lang war er in die Behandlung vertieft und konnte dabei vieles richten. Doch selbst mit magischer Unterstützung würde die endgültige Heilung noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Dann zog er Wasser aus der Luft und ließ es sich direkt in den Mund laufen. Als er auch seinen Hunger gestillt hatte, schickte er ein Auge aus. Denn so viel stand fest:

Hier auf diesem Felsen bleibe ich nicht. Zunächst sah er nichts als blaues Meer, was die Vermutung nahelegte, dass er sich ziemlich weit vom Kontinent entfernt befand. Als das Rauschkraut ihn noch fest im Griff hatte, konnte rein gar nichts sein Interesse wecken, doch nun kehrte seine Wissbegierde zurück.

 

Ob es noch einen weiteren Kontinent gibt? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte ihn schon längst jemand gefunden. Aber einen Steinhaufen wie diesen hier könnte es durchaus noch irgendwo geben. Wenn ich allerdings nichts weiter finde, dann muss ich doch weiterhin hierbleiben.

Aber das Blatt des Schicksals hatte sich gewendet und die Götter meinten es gut mit Eryn. In einiger Entfernung lag eine weitere Insel. Da Eryn nicht viel Erfahrung mit Schiffen und ihrer Fahrgeschwindigkeit hatte, schätzte er die Distanz bis dorthin auf ungefähr zwei Tagesritte. Diese neue Insel war etwas größer als sein jetziges Domizil und hatte die Form eines zu drei viertel geschlossenen Kreises. Dadurch konnten sich die Wellen an einer Seite brechen und bildeten so einen natürlichen Schutzwall. Eryn erspähte sogar einen schmalen Streifen Sandstrand innerhalb dieses geschützten Bereiches.

„Perfekt! Dann werde ich mal umziehen.“ Irgendwie hatte er es sich in letzter Zeit angewöhnt, laut mit sich selbst zu sprechen. War ja sonst keiner da, mit dem er sich unterhalten konnte.

Ein Tor brachte ihn zur Sichel, wie er die neue Insel bereits getauft hatte und dort setzte er sich erst einmal an den Strand und genoss die angenehme Wärme der Sonne auf seiner Haut. Ohnehin musste er sein Bein schonen und als Magier bestand auch keine Notwendigkeit herumzulaufen, nur um die Insel zu erkunden. Sein Auge wanderte flink hin und her, während er selbst träge im Sand lag.

Drei Tage später hatte sich Eryn schon gut eingerichtet. Im höchsten Felsen der Insel befand sich nun seine Unterkunft und die konnte sich durchaus sehen lassen. Ohne Zeitdruck und mit klarem Kopf hatte Eryn seine Fähigkeiten voll ausschöpfen können und eine Behausung mit fünf Zimmern gebaut. Schon früher hatte er reichlich Übung mit der Ader Grau gehabt und sich als ganz guter Baumeister erwiesen. Vom großzügigen Eingangsbereich kam man in die Haupthalle und die Küche. Dort lagerten auch Eryns Vorräte, die allerdings auch wieder nur aus Fisch und Muscheln bestanden. Ein ovales Becken aus poliertem Stein war mit klarem Wasser gefüllt. Es gab noch einen extra Baderaum, den man von der Halle aus durch einen kleinen Gang betreten konnte. Derselbe Durchgang führte auch in Eryns neues Schlafgemach.

Die Wände drinnen waren akkurat gerade, wohingegen er den Felsen draußen in seiner ursprünglichen Form belassen hatte. Die Fenster waren in den Stein eingearbeitet, und zwar dort, wo sich bereits natürliche Vertiefungen befunden hatten. Darum war auch keines von ihnen symmetrisch, sondern sie sahen vielmehr aus wie vergrößerte Risse. Auch der Eingang lag etwas versteckt und führte nur auf ein kleines Plateau hinaus, ähnlich wie bei seiner ersten Behausung. Um auf den Strand hinunterzukommen, musste Eryn schweben, was für ihn freilich kein Problem darstellte. Er hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, eine Treppe zu bauen, denn niemand sollte auf den ersten Blick erkennen können, dass die Insel bewohnt war. Zu sehr saß Eryn noch die Angst im Nacken, dass Ador ihn aufspüren könnte. Darum brachte er auch keine permanenten Zauber an, die durch einen Scan leicht zu erkennen waren.

Aber der Sturm von neulich hatte ihm eine andere, ganz unmagische Gefahr aufgezeigt und Eryn nutzte die Adern Braun und Grau, um den schützenden Ring aus einzelnen Felsbrocken um die Insel herum noch zu verdichten. Dabei hob er den Meeresboden magisch an. Keine intellektuell schwierige Arbeit, jedoch eine sehr anstrengende. Und nachdem er den ganzen Vormittag damit verbracht hatte, hinkte er den Sandstrand ein paar Schritte hinauf und setzte sich dann auf ein sonniges Plätzchen. Sein Fußgelenk schmerzte von der Belastung und er bedachte es mit einer Kombination aus Betäubung und Heilzauber. Ich muss dem Fuß mehr Ruhe geben, dann heilt er schneller. Offensichtlich war es ihm nicht gelungen, alle kaputten Stellen im Gelenk zu reparieren. Dergleichen verlangte eine sehr hohe Kunstfertigkeit, doch Eryn war mit dem erzielten Ergebnis ganz zufrieden und mit der Zeit würde auch der Rest noch heilen.

Aber es gab andere Probleme, mit denen er sich außerdem auseinandersetzen musste. Stein, Eisen, Fisch und Wasser gab es im Überfluss, doch an allem anderen mangelte es. Seine eigene Kleidung war mittlerweile so zerrissen und verdreckt, dass sie den Namen kaum mehr verdiente. Eryn hatte versucht, aus dem Seegras einen Stoff zu weben, doch das Ergebnis war ein kratziges, raues Gewebe, welches mehr einer Matte denn einem weichen Stoff glich. Meister Raiden war stets der große Webkünstler gewesen, weswegen sich Eryn mit dieser Kunst nie sonderlich beschäftigt hatte. Er hatte Kleidung und Stoffe auf dem Markt gekauft. Auch Möbel und Nahrungsmittel hatte er dort erstanden.

Und gerade erschien ihm ein Markt wie ein gesegneter Ort der Götter.

Dort gibt es alles. Obst, Gemüse, Hühnchen – lebendig und gebraten. Frisches knuspriges Brot, gebratene Apfelringe. Eryn stöhnte sehnsüchtig. Allein ein unmagisches Feuer hat seinen Charme. Und er kam immer mehr zu der Überzeugung, dass er in die Zivilisation zurückkehren musste, um sich all diese notwendigen Dinge zu besorgen, die es hier auf seiner Insel nicht gab. Nur etwas machte ihm dabei Kopfzerbrechen: Meister Ador. Er war Eryns größter Feind und seine Spezialität waren die Ader Gold und das Reisen in den Wegen.

Kann er mich in der Zwischenwelt aufspüren? Das war die Frage aller Fragen und Eryn wusste keine Antwort darauf. Was er allerdings mit Sicherheit wusste, war, dass er nie wieder ein Gefangener in Elverin sein wollte. Ebenso wenig wie er in die Dienste Naganors zurückkehren wollte. Es war die Zeit gekommen, endlich sein eigener Herr zu sein – frei und niemandem verpflichtet, außer sich selbst. So war er hin und her gerissen, doch dann obsiegte die Notwendigkeit über seine Bedenken.

„Wasser verwischt die Spuren, hat mein weiser Urgroßvater Meister Savyen gesagt. Ich öffne das Tor erst im Wasser und komme dort auch wieder heraus. Und ich werde in der Nacht gehen, wenn selbst dieser verdammte Bastard von Ador schläft.“

Hätte Eryn gewusst, dass Meister Adors Gedanken zu dieser Zeit einzig und allein Lady Syrdae galten, dann hätte er sich nicht all diese Mühen gemacht. Doch davon ahnte er nichts und sein erster Raubzug führte ihn in die Abgeschiedenheit der Berge. In jenes Tal, in welches es ihn in Begleitung von Meister Raiden, Meister Eriwen und dem Forscherdrachen auf der Flucht verschlagen hatte. Damals hatte die Barriere des Nimrods noch die Welt geteilt. Doch das gehörte inzwischen schon längst der Vergangenheit an.

Eryn hielt sich nicht lange dort auf, sondern zog seine Aura ähnlich einem Netz über das Erdreich einschließlich allem, was darauf wuchs. Fünf Schritt im Quadrat konnte er so umspannen und das geraubte Land schaffte er dann direkt auf seine Insel. Den Baum verlor er in den Wegen, doch den Rest brachte er unbeschadet hindurch. Sein Beutegut lag nun knapp unterhalb der Wasseroberfläche in der Nähe des Sandstrandes und Eryn arbeitete hart, um Erde und Pflanzen schnell auf festen Grund zu befördern. Als er endlich damit fertig war, schwebte er hinauf in seine Gemächer.

Morgen schaue ich mir genauer an, was ich da erbeutet habe, sagte er sich, dann fiel er todmüde in sein Bett.



Fünf Wagen standen im Hof des Händlers und auf ihren Planen prangte das Wappen der Meretts und darunter stand „Merett Handelskompanie“, während sich auf dem Hof Kisten, Säcke und Stoffballen stapelten. Zwei ältere Männer hatten sich mächtig in der Wolle, während die Knechte und Fuhrleute jeweils hinter ihren Anführern standen und dem Streit zuhörten.

„Drei Säcke Korn fehlen, so viel steht fest. Hundert sollten es sein und wir haben nur 97 entladen“, meinte der lokale Händler, während sich der Vertreter der Meretts rechtfertigte:

„Aber ich habe die Säcke selbst gezählt und nach dem Verladen noch einmal nachgeprüft. Sie waren eindeutig auf den Wagen.“

„So, waren sie“, meinte der Händler spitz und polterte dann los: „Dass die Meretts Halsabschneider sind, weiß ich schon lange, aber dass sie es jetzt schon nötig haben zu betrügen, das ist ungeheuerlich.“

„Vorsicht, was du da sagst. Vielleicht haben die Kornsäcke ja beim Entladen Füße bekommen.“

Der Händler lief bei dieser infamen Anschuldigung rot an.

„Was soll das heißen? Etwa dass meine Männer stehlen? Bitte, sieh dich um. Würde mich verdammt noch mal wundern, wenn du die Säcke hier findest. Aber ich sag dir eines: Ich werde die Ware jetzt aufs Genaueste prüfen und dann werden wir sehen, ob ihr vielleicht noch mehr Tricks auf Lager habt.“

Der Mann der Meretts versuchte nun den Händler zu beruhigen:

„Das ist doch lächerlich. Wir machen schon so lange miteinander Geschäfte und es war nie was.“

„Es gibt immer ein erstes Mal und vielleicht habe ich es bisher auch nur nicht gemerkt. Aber jetzt werde ich der Sache auf den Grund gehen.“ Dann drehte er sich zu seinen Leuten um:

„Männer, prüft die Ware. Jeder Sack wird gewogen, jeder Ballen auf seine Stofflänge geprüft und alles gezählt, und dann werden wir ja sehen.“

„Bitte, das ist dein gutes Recht“, meinte der Vertreter der Meretts und ließ durchklingen, wie beleidigt er ob dieses Vorgehens war.

Die Untersuchung ergab letztendlich, dass auf jedem der Stoffballen nur 45 Meter aufgewickelt waren anstatt 50, und dass etliche Kisten und Säcke zu wenig Gewicht hatten.

Damit war für den Händler der Fall klar und er rief nach der Obrigkeit, während der Merett-Lieferant sich das absolut nicht erklären konnte.

„Ich habe alles gewogen und gezählt. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein.“




Während unter den Unmagischen Unfrieden herrschte, räumte Eryn den letzten Sack Diebesgut in seine Vorratskammer. Seit seiner ersten Reise auf den Kontinent war er noch mehrfach zurückgekehrt und bei seinen Beutezügen immer dreister geworden.

Nun erstreckte sich auf Eryns Insel gleich im Anschluss an den Sandstrand ein Grünstreifen, der sich noch ein ganzes Stück weit den Hang hinaufzog. Erst als das Gelände zu steil wurde und die Erde keinen rechten Halt mehr finden wollte, hatte Eryn mit seiner Umgestaltung aufgehört. Hühner, Gänse und Hasen hatte er ebenfalls auf die Insel gebracht, da diese recht problemlos in der Haltung waren. Unabsichtlich waren dabei noch ein paar Singvögel und anderes kleineres Getier auf die Insel gereist. Sie hatten in dem herangeschafften Erdreich und Gebüsch ihr Zuhause gehabt.

Auf der zweitgrößten Erhebung der Insel hatte Eryn noch einen Süßwassersee angelegt. Er diente zum Baden und generell als Wasserspeicher. Den Schutzwall um die Insel herum hatte er weiter vergrößert und auch sein Heim war inzwischen ganz gut eingerichtet und war durchaus wohnlich. Da gab es Tische, Kommoden und Schränke, allesamt von solider Bauweise und manche davon waren sogar verziert. Am Anfang hatte sich Eryn als Schreiner versucht, war aber mit dem Ergebnis nicht sonderlich zufrieden gewesen und so besorgte er sich die Güter aus der alten Welt. Er mied große Siedlungen und nahm sich nur Gegenstände, die verstaubt und vergessen auf Dachböden und in Scheunen herumstanden. Nichts, was jemand vermissen würde. In einem abgelegenen Landhaus machte er die reichste Beute. Auf dem Haus selbst lag ein Schutzzauber, weswegen er es unberührt ließ. Doch in dem Nebengebäude gab es eine ganze Kammer voller alter Möbel. Die Staubschicht lag so dick über allem, dass hier schon lange niemand mehr gewesen sein konnte.

Auf den Wagenzug der Meretts stieß er eher zufällig, als er nach weiterer Beute Ausschau gehalten hatte. Sein erster Gedanke war, sich gleich wieder zu entfernen, um nicht von den Menschen entdeckt zu werden. Doch dann hielt er inne und änderte seine Meinung.

Warum nicht. Die Meretts sind die reichsten und die schlimmsten aller Händler. Sie zu bestehlen, ist kein Verbrechen. Das ist ausgleichende Gerechtigkeit.

Die Wagen standen über Nacht in einem Kreis um das Lager herum und waren bewacht – doch nicht gut genug, um einen begabten Magier vom Sammeln abzuhalten. Und einmal angefangen, wollte Eryn gar nicht mehr aufhören, denn er konnte wirklich vieles aus dem dargebotenen Sortiment gebrauchen.

 

Nun saß er auf seinem bequemen, neu bezogenen Sofa und lachte in sich hinein.

Es ist nur recht und billig, wenn man einem armen Magier unter die Arme greift. Die Fenster hatten hübsche Vorhänge und auf dem Steinboden lagen Teppiche und Felle. Sein Bett hatte eine Matratze, und alle Decken und Kissen waren mit Daunenfedern gestopft. Im Kamin in der Wohnstube brannte ein richtiges Feuer und das Knistern der Holzscheite sorgte für eine wohlige Behaglichkeit.

„So lässt es sich leben“, meinte Eryn zufrieden. Allerdings, stehlen werde ich nun nichts mehr. Das ist einfach nicht recht ... Auch wenn es mit den Meretts keine Armen trifft. Außerdem wird jeder Dieb irgendwann einmal erwischt. Sie finden meine Spur, die Magier bekommen davon Wind und schon stehen ungebetene Gäste vor meiner Tür. Das wäre das Letzte, was ich gebrauchen könnte.

Somit war es an der Zeit, wieder redlich zu werden. Doch es lag nicht in seinem Naturell, träge vor dem Kamin zu sitzen und die Tage sinnlos verstreichen zu lassen. Aber es fehlte ihm an entsprechender Gesellschaft. Andere Menschen, mit denen er sich unterhalten konnte. Darum erfüllte ihn bald eine Unrast und er spielte mit dem Gedanken, seinen Sohn Gannok zu sich zu holen.

Er ist mein Sohn und ich habe ihn aus selbstsüchtigen Gründen zurückgelassen, um nach Elverin zu gehen. Das war nicht richtig. Das weiß ich jetzt, und ich habe bitterlich dafür gebüßt. Dafür hat schon mein eigener Vater gesorgt. Der Schöpfer – wie kann jemand nur so selbstherrlich sein. Heißt es nicht, mit dem Alter käme die Weisheit? Daran hege ich inzwischen große Zweifel. Doch die Fehler der Vorfahren müssen sich nicht wiederholen. Ich kann es weitaus besser machen als mein eigener Vater und Gannok mit Güte und Liebe erziehen.

Doch die Sache hatte einen Haken. Gannok befand sich in Naganor und der Schwarze Turm war gegen Magie gut gesichert – nicht so wie die Häuser der Unmagischen.

Eryn dachte lange über dieses Problem nach. Seine Angst vor Ador hatte sich inzwischen ein wenig gelegt, denn die magische Wolke der Wege war unendlich groß und er würde sich sicherlich nicht in die Nähe von Elverin begeben. Meister Raiden selbst war in der Tormagie nicht sonderlich bewandert, alleine schon deswegen, weil ihm die Ader Gold fehlte. So schlussfolgerte Eryn, dass der Herr von Naganor nur eine Gefahr für ihn werden könnte, wenn er aus den Wegen heraustrat. Das musste Eryn aber gar nicht. Wenn er nahe genug an die magische Barriere herantrieb, konnte er wie durch eine Scheibe hindurchsehen.

Also machte er sich auf nach Naganor und suchte in dem Nebengebäude nach den Kindern. Aber das Zimmer, in dem sie zu viert schliefen, war leer.

Vielleicht haben sie Unterricht oder spielen irgendwo draußen. Eryn glitt an der Barriere entlang, fast so, als würde er durch das Gebäude laufen. Er konnte sich inzwischen eine ganze Weile in den Wegen aufhalten, war aber ungefähr eine halbe Stunde verstrichen, wurde er nach draußen gezogen. Ähnlich einem Taucher, der zurück an die Wasseroberfläche schwimmen musste, um Luft zu holen. Diese Zeitspanne war schon deutlich länger als am Anfang und sicherlich würde er mit etwas Übung noch besser darin werden. Schließlich hatte Ador ganze fünfzig Jahre in den Wegen verbracht – wenn auch nicht freiwillig. Eryn verdrängte die unliebsamen Erinnerungen an Ador und schob die Grenze zur realen Welt vor sich her. Die Gesetzmäßigkeiten in den Wegen waren andere als draußen. Man konnte problemlos durch Wände und alle anderen Feststoffe wandern. Nur auftauchen sollte man nicht in solchen Materialien.

Gerade erreichte Eryn den Unterrichtsraum, der ebenfalls leer war. Doch im Hof wurde er dann fündig. Alle vier Kinder saßen in Eintracht nebeneinander. Danian warf seinem Raben Brotkrumen zu, welche dieser gezielt aufpickte, während Carmina ihre Katze streichelte, die wohlig brummend auf ihrem Schoß lag. Gannok spielte mit seinem Hund Flocke Stöckchen holen und war gerade dabei erneut zu werfen. Nur Asrans Bergkatze Fauchi war nirgends zu sehen. Das Bild war verschwommen und Eryn wagte sich noch ein klein wenig näher an die Grenze heran. Die Kinder redeten irgendetwas, dann schienen sie zu lachen. Aber Eryn konnte nichts hören.

Ob ich sie verstehen kann, wenn ich noch näher heranschwebe? Man konnte auch Zauber nach draußen schicken, aber die erregten mit Sicherheit Aufmerksamkeit. Und der Grenze noch näher zu kommen, barg das Risiko plötzlich hinausgezogen zu werden.

Naganor ist nicht der Ort, um dahingehend Experimente zu machen.

Also gab er sich im Augenblick damit zufrieden, den Kindern einfach nur zuzusehen.

Wenn ich Gannok zu mir hole, dann soll nicht gleich jeder wissen, dass ich es war. Meister Raiden hat sicherlich ein großes Interesse, dass ich als sein williger Untergebener zurückkehre. Ich würde ihm sogar zutrauen, dass er Ador ins Vertrauen zieht, damit der ihm bei der Mission ‚Eryn einfangen‘ auch noch behilflich ist. Aber Ador hilft nur sich selbst. Irgendwie erstaunlich, dass Meister Raiden das noch nicht selbst aufgefallen ist. Hat er doch sonst einen sehr gesunden Scharfblick für die Geschehnisse um ihn herum.

Carmina sagte etwas und Asran streckte ihr die Zunge heraus. Woraufhin sie aufstand und mit einem hochnäsigen Gesicht davonstolzierte. Gannok und Asran schienen sich darüber köstlich zu amüsieren, während Danian immer noch mit seinem Raben beschäftigt war.

Aber dann sagte Asran etwas zu Gannok und die beiden Buben fielen übereinander her und balgten sich.

Dieser Asran ist der Teufel, urteilte Eryn und war gleichzeitig auch ein wenig um Gannok besorgt. Aber die beiden schenkten sich nichts und dann war der Streit so schnell vorüber, wie er gekommen war und die Jungs kugelten sich vor Lachen.

Kinder und ihre Spiele, wer kann die verstehen?, wunderte sich Eryn, dann trat er die Rückreise an.