Kunst sehen und verstehen

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Das schöpferische 17. Jahrhundert brachte einige großartige Porträtisten, wie Frans Hals oder Anthonis van Dyck, Peter Paul Rubens und Rembrandt van Rijn, hervor. Zudem wurde in den Niederlanden mit dem Gruppenbildnis bald ein ganz neuer Porträttypus populär. Ein Typus überdies, an dem deutlich wird, wie eng Sozial- und Kunstgeschichte verknüpft sein können, denn die Darstellung ganzer Gruppen, wie sie die Vertreter von Gilden und Schützengesellschaften darstellten, ist nur vor dem Hintergrund der jungen Republik der Vereinigten Niederlande denkbar. Eines der prominentesten Beispiele dieser Kategorie ist Rembrandts Nachtwache.

Hintergrund zum Bild: Das Gemälde mit dem ursprünglichen Titel Kapitän Frans Banning Cocq mit Gefolgschaft, besser bekannt als Die Nachtwache, gibt laut Familienbuch des Kapitäns einen ganz bestimmten Moment wieder: „Der Hauptmann gibt seinem Leutnant den Auftrag, die Bürgerwehr marschieren zu lassen.“43 Der Beiname „Nachtwache“, unter dem das Bild bekannt wurde, gründet auf einem Missverständnis: Die sich im Schatten abspielende Szene mit einfallendem Sonnenlicht wurde als Nacht interpretiert.

Dynamik, Ausstattung und Dramaturgie dieser Szene lassen auf Anhieb eher an ein Historienbild als an ein Porträt denken. Tatsächlich hat Rembrandt mit der Nachtwache die Grenze zur Historie verwischt. Das bis dahin geläufige Aufbauprinzip des holländischen Gruppenbildnisses, das auf der Gleichwertigkeit aller Mitglieder beruhte, wird zugunsten von mehr Bewegung und einer theatralischen Lichtführung aufgegeben. Abgebildet sind hier die prominentesten – und insbesondere die zahlenden – Vertreter der Amsterdamer Schützengilde Kloveniersdoelen. Das Emblem der Truppe findet sich verschlüsselt am Gürtel des Mädchens – wohl eine Marketenderin. Es ist eine Hühnerklaue, auf Holländisch klauw, die wortgeschichtlich auf die kloven, Gewehrkolben, anspielt.44

Das Gemälde, das für den Versammlungsraum der Amsterdamer Schützengilde Kloveniersdoelen bestimmt war, beanspruchte für sich ganz neue Dimensionen. Diese sind auch heute noch beeindruckend, obwohl das Gemälde 1715 auf allen vier Seiten zurechtgeschnitten wurde, um es an seinem neuen Standort im Rathaus einzupassen.


Abb. 24: Rembrandt Harmenszoon van Rijn Kapitän Frans Banning Cocq mit Gefolgschaft, genannt Die Nachtwache 1642, Öl auf Leinwand, 363 x 437 cm Rijksmuseum, Amsterdam

Niederländische Einflüsse gelangten bald auch nach England. Insbesondere durch Anthonis van Dyck (1599 – 1641), der 1632 nach London übersiedelte, wo er bis zu seinem Tode als Hofmaler tätig war. Doch erst das 18. Jahrhundert brachte in England zwei große Porträtmaler hervor.

Sie sind gefragt: Bitte ordnen Sie die beiden Porträts auf der nächsten Seite dem richtigen Maler zu. Die folgenden Angaben sollen Ihnen dabei helfen:

Sir Joshua Reynolds (1723 – 1792): Sohn eines Lehrers, später Präsident der Royal Academy of Art. Verfasser der Discourses on Art (1779 – 1790), schreibt über seinen Malerkollegen Thomas Gainsborough: „Jedenfalls ist es sicher, dass all diese sonderbaren Kritzel und Zeichen, die, wenn man nahe herangeht, so deutlich sichtbar in Gainsboroughs Bildern sind und die sogar für einen erfahrenen Maler eher als das Resultat von Zufall als von Planung erscheinen; dieses Chaos, diese ungeschlachte und formlose Erscheinung scheint dennoch durch eine Art Magie bei einer gewissen Distanz Form anzunehmen, und alle Teile scheinen auf ihren richtigen Platz zu fallen.“45

Thomas Gainsborough (1727 – 1788): Sohn eines Stoffhändlers, später Lieblingsmaler der königlichen Familie, schreibt von sich selbst: „Ich bin krank vom Porträtmalen und wünsche mir so sehr, meine Viola da Gamba zu nehmen und einfach fortzugehen zu irgendeinem lieblichen Dorf, wo ich Landschaften malen und das mühsame Ende des Lebens in Ruhe und Leichtigkeit genießen kann.“46


Abb. 25: Lady Worsley 1780, Öl auf Leinwand, 236 x 144 cm Harewood House, Yorkshire

Abb. 26: Lady Mary Bate Dudley 1787, Öl auf Leinwand, 221 x 145 cm Tate Gallery, London

Antwort: Reynolds Zitat beschreibt den Malstil Gainsboroughs so treffend, dass es Ihnen nicht schwergefallen sein dürfte, ihm das Bildnis der Lady Dudley zuzuordnen. Zudem besticht ihr Kleid mit der mattschimmernden Seide und dem durchscheinenden Voile der Stola durch die sorgfältige Wiedergabe der Stofflichkeit – ein Anliegen, das wohl den Sohn eines Tuchhändlers verrät.

Die beiden rivalisierenden Maler prägten die englische Porträtmalerei einer ganzen Epoche. Italienorientiert, Akademiker, einem klassischen Stil verpflichtet der eine, von den Niederländern beeinflusst, musikalisch geschult, eine informelle Malweise pflegend der andere, trugen Reynolds und Gainsborough wesentlich dazu bei, dass die englische Malerei den Anschluss an Europa fand und darüber hinaus zu einem Mittelpunkt der Malkunst wurde.47


Abb. 27: Jean-Auguste-Dominique Ingres Napoléon I. auf dem Thron 1806, Öl auf Leinwand, 259 x 162 cm Louvre, Paris

Notabene: Die britische Vorliebe für Porträts führte 1856 zur Gründung der National Portrait Gallery. Die Sammlung umfasst heute rund 11.100 Gemälde, Skulpturen, Miniaturen, Zeichnungen, Drucke und Fotografien. Von Gainsborough beherbergt sie 16, von Reynolds gar 25 Porträts.

Von England verschiebt sich der Fokus im 19. Jahrhundert nach Frankreich. Kein anderes europäisches Zentrum erreichte damals, was die Malerei betrifft, die Bedeutung von Paris. Hier, im Schmelztiegel von Revolution und Reaktion, wurde um einen neuen Stil gerungen, denn die politischen und sozialen Umwälzungen konnten an der Kunst nicht spurlos vorübergehen. Die folgenden Beispiele verdeutlichen das politische wie das stilistische Dilemma, in dem sich die Kunst der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befand:

Während das Herrscherporträt Napoléons mit allen Insignien der Macht ausgestattet ist, besticht das Bildnis des Bürgerlichen Bertin durch seine Schlichtheit. Während das blasse, fast marmorne Gesicht des Kaisers beinahe mit der Prachtentfaltung seines Mantels verschmilzt, ja selbst fast zum Ornament wird, lenkt bei Bertin nichts vom eigentlichen Zentrum des Bildes, dem Kopf, ab. Bertins dezidierter Gesichtsausdruck, die Fülle und Haltung seines Körpers verleihen dem Intellektuellen Gewicht und Würde. Es besteht kein Zweifel, hier stehen sich zwei Kontrahenten gegenüber: der Vertreter eines zum Untergang verurteilten politischen Systems und jener einer anbrechenden Zeit – L.-F. Bertin war der Herausgeber einer Zeitung. Napoléon I. ist ausgerüstet mit allen erforderlichen Legitimationsattributen, Bertin selbstbewusst, im wörtlichen Sinne auf sich selbst gestützt.


Abb. 28: Jean-Auguste-Dominique Ingres Louis-François Bertin 1832, Öl auf Leinwand, 116 x 95 cm, Louvre, Paris

Stilistisch orientiert sich Ingres an den alten Meistern. So erkennen wir etwa im Porträt Napoléons einen ähnlichen Detailreichtum wie bei den Kleidern der Battista Sforza. Der Bildausschnitt des Bertin-Porträts und sein pyramidenförmiger Aufbau mit Betonung von Kopf und Händen erinnern dagegen an Leonardos Bildnis der Mona Lisa. Ingres’ Suche nach dem adäquaten Stil führte ihn also – ähnlich wie die Präraffaeliten und Nazarener (vgl. Kapitel Romantik, S. 180 ff.) – in die Vergangenheit. Von den Alten wollte er lernen und zu neuen „Erfindungen“ gelangen, wie er selbst bekannte.

Das Zitat zum Thema: „Wer von den großen Meistern hätte nicht nachgeahmt? Aus nichts kann man nichts machen, und nur, indem man von den Erfindungen der anderen Nutzen zieht, kann man selbst gute Erfindungen machen. Alle Künstler und Schriftsteller sind Kinder Homers.“48

Doch Ingres‘ exakte Darstellungsweise war für viele Zeitgenossen bereits ungewohnt. Die Auflösung der Form, wie wir sie bereits in Gainsboroughs Bildnis der Lady Mary Bate Dudley angelegt sehen, war vorerst der Weg, den die Malerei gehen sollte und der ins 20. Jahrhundert führte.

Antwort d) von Seite 38: Mit Picasso haben Sie einen sicheren Wert!

Sie sind gefragt: Worin besteht die Gemeinsamkeit – abgesehen davon, dass es sich um Männerporträts handelt – dieser drei Porträts? Finden Sie sie ohne Hilfe der Bildlegenden?


Links: Abb. 29: Paul Cézanne Porträt Ambroise Vollard 1899, Öl auf Leinwand, 100,3 x 81,3 cm Musée du Petit Palais, Paris

Mitte: Abb. 30: Auguste Renoir Porträt des Ambroise Vollard 1908, Öl auf Leinwand, 81 x 64 cm Courtauld Institute Galleries, London

 

Rechts: Abb. 31: Pablo Picasso Porträt Ambroise Vollard 1910, Öl auf Leinwand, 92 x 65 cm Staatl. A.-S. -Puschkin-Museum für bildende Künste Moskau

Antwort: Betrachten wir zuerst einmal das mittlere Bild. Es zeigt Links: Abb. 29: einen untersetzten, bärtigen Mann mit Stirnglatze. Er hat ein rundes Gesicht mit kurzer Nase und eine etwas fleischige Augenpartie. Die gleichen physiognomischen Merkmale erkennen wir auch im Bild rechts, allerdings in Frontalansicht (von vorne) dargestellt. Vergleichen wir dieses Porträt nun mit jenem links außen, so stoßen wir auch auf Gemeinsamkeiten. Sie bestehen hauptsächlich in der Haltung: Auf beiden Bildnissen sind der Kopf des Porträtierten sowie der Blick gesenkt. Im linken Bild hält er – deutlich erkennbar – ein Buch in der Hand. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir dieses Accessoire auch auf dem Bild rechts außen. Kaum Übereinstimmung – bis auf den Bartwuchs – zeigen diese beiden Bildnisse dagegen in Statur und Kopfhaar des Abgebildeten. Während uns das Porträt links außen einen schlanken Mann mit dunklem Kopfhaar zeigt, scheint der Mann auf dem dritten Bild recht massig zu sein und – das können wir gut erkennen – sein Haupthaar ist bis auf einen grauen Kranz stark gelichtet. Das mittlere Bildnis scheint bezüglich des Haupthaars eine Zwischenstufe wiederzugeben. Nehmen wir nun noch die Datierung zu Hilfe: Das Porträt links außen ist rund zehn Jahre älter als die beiden andern. Es stammt aus dem Jahre 1899, während die anderen mit 1908 und 1910 datiert sind. Spätestens jetzt haben Sie auch das Geheimnis der drei Bildnisse gelüftet: Es handelt sich in allen drei Fällen um die gleiche Person, nämlich um den Kunsthändler Ambroise Vollard.

Die Anekdote zum Thema: Picasso malte im Winter 1909 das Porträt des Ambroise Vollard. Selbstverständlich haben sich viele Leute, die behaupteten, Kenner zu sein, über das Bild lustig gemacht und gefragt, was es überhaupt darstelle. Aber der vierjährige Sohn eines Freundes von Vollard tippte gleich mit dem Finger drauf und sagte: „Das ist Vollard!“49

Der Junge in der Anekdote hatte offensichtlich einen unverstellten Blick für das Wesentliche. Das bedeutet aber umgekehrt, dass es Picasso gelungen war, dieses herauszuarbeiten und – wie unser Bildervergleich zeigt – es genügend Merkmale gäbe, um Vollard auch in Picassos kubistischer Verfremdung zu erkennen!

Mit diesen drei Bildnissen haben wir die Schwelle zum 20. Jahrhundert überschritten. An ihnen wird die Suche nach einer neuen Identität der Kunst deutlich. Angesichts der fotografischen Reproduzierbarkeit führte der Weg des Porträts erst einmal weg vom Gegenständlichen in die Abstraktion (vgl. Kapitel Die Moderne). Neue Sichtweisen hielten Einzug in die Malerei. Wichtig wurde die Betonung oder Zerlegung von Farbe und Form – wie in Picassos Porträt – zur Erschaffung einer schöpferischen Gegenwelt, die sich von der Fotografie abgrenzte. Ein vielzitierter Text des Malers Wassily Kandinsky formuliert, worauf es der „neuen“ Kunst ankam: auf das Einfangen des Geistigen, des Unsichtbaren in dem, was man darstellt. Ähnlich wie der Komponist müsse der Maler aus „innerer Notwendigkeit“ heraus sein Ziel verfolgen. Er komme dabei zu einer Lösung jenseits des Gegenständlichen:


Abb. 32: Andy Warhol Marilyn Monroe – Twenty Times (Teil des Marilyn-Diptychons) 1962, Acryl auf Leinwand 2054 x 1448 mm Tate Gallery, London

Das Zitat zum Thema: „So tritt in der Kunst allmählich immer in den Vordergrund das Element des Abstrakten, welches noch gestern schüchtern und kaum sichtbar sich hinter die rein materialistischen Bestrebungen versteckte. Und dieses Wachsen des Abstrakten ist natürlich. Es ist natürlich, da je mehr die organische Form zurückgetrieben wird, desto mehr dieses Abstrakte von selbst in den Vordergrund tritt.“50

Bald aber machte man sich auch die Fotografie zunutze, um zu neuen künstlerischen Lösungen zu gelangen. Berühmte Beispiele sind Andy Warhols serielle Porträts zeitgenössischer Persönlichkeiten, wie der von Marilyn Monroe. Mit dem Siebdruckverfahren wählte er eine Technik, die die beliebige Vervielfältigung des Bildes ermöglichte. Technik und Methode sind Ausdruck einer Kunst im Zeichen des Kommerzes und eines Individuums, das in seiner Wiederholung in der Masse verloren zu gehen droht. Nicht umsonst wurde Andy Warhols Atelier The Factory genannt.

Zitat zum Bild: „Das Monroe-Bild war Teil einer Todes-Serie, die ich machte, von Leuten, welche auf verschiedene Weise gestorben waren. Es gab keinen tieferen Grund, eine Todes-Serie zu machen, es waren keine Opfer ihrer Zeit; es gab überhaupt keinen Grund, es überhaupt zu machen, nur einen oberflächlichen Grund.“51

4|1|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

Ähnlichkeit: Das Porträt beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeit. Das heißt, Original und Abbild müssen in gewissen Merkmalen übereinstimmen. Diese Übereinstimmung kann in einer möglichst naturgetreuen Abbildung (vgl. Jan van Eyck) oder lediglich aus einigen typischen Accessoires bestehen. Ein Ziel der Ähnlichkeit ist das Wiedererkennen. Es ist die unabdingbare Voraussetzung für gewisse Darstellungsweisen, wie etwa die der Karikatur und abhängig von Faktoren wie der Idealisierung oder dem Image (vgl. Begriff Image).

Die Anekdote zum Thema: Der für seine Galanterie berühmte Maler Hyacinthe Rigaud sagte einmal, dass er es nicht möge, Frauen zu porträtieren: „Wenn ich sie so male, wie sie sind, finden sie sich nicht schön genug, wenn ich ihnen zu sehr schmeichle, finden sie sich nicht ähnlich genug.“52

Karikatur: Die Karikatur spielt mit der Überzeichnung und Verzerrung individueller Merkmale. Eine karikierte Darstellung wirkt komisch oder humoresk, gelegentlich auch grotesk. Wichtigste Voraussetzung für ihren Erfolg ist, dass die abgebildete Person vom Publikum erkannt wird. Besonderer Beliebtheit erfreut sich die Karikatur bis heute zum Aufzeigen politischer und gesellschaftlicher Missstände. Diese Funktion übte sie schon seit Jahrhunderten aus und machte dabei auch vor europäischen Herrschern nicht halt. In der folgenden Karikatur des Königs Louis-Philippe verwandelt sich der französische Bürgerkönig in eine Birne. Während der französische Karikaturist Charles Philipon sich mit großem Geschick noch im Rahmen des Erlaubten bewegte, wurden andere für ihre Kritik zur Rechenschaft gezogen. Der Maler Alphonse Daumier (vgl. Kapitel Landschaftsmalerei) etwa musste nach Verschärfung der Zensur unter ebendiesem König zweimal wegen seiner Kunst ins Gefängnis.53


Abb. 33: Charles Philipon Metamorphose des Königs Louis-Philippe in eine Birne Skizze, vermutlich 1831 Tinte-Feder-Zeichnung auf Papier Französische Nationalbibliothek, Paris

Idealporträt: Die Kategorie der Idealporträts reicht von idealisierenden Bildnissen bis zu solchen, die frei erfunden sind. Dabei kann die Idealisierung lediglich in der Harmonisierung individueller Gesichtszüge zugunsten einer Verschönerung bestehen. Sie kann aber auch – wie im erwähnten Beispiel Ludwigs XIV. – einer Nobilitierung des Abgebildeten dienen.


Abb. 34: Albrecht Dürer Teilansicht des Bildes Die vier Apostel (Petrus) 1526, Öl auf Holz, 216 x 76 cm Alte Pinakothek, München

Frei erfundene Bildnisse sind dann die Regel, wenn das Aussehen eines Porträtierten nicht bekannt ist. So etwa im Fall der Propheten und Evangelisten der Bibel. Hier entwickelte sich jedoch zur besseren Wiedererkennung eine Überlieferungstradition. So weist dieses Personal meist bestimmte wiederkehrende Merkmale auf und ist durch gewisse Accessoires oder Attribute gekennzeichnet. Der Apostel Petrus beispielsweise ist an seinem grauen Haar- und Bartwuchs sowie am Schlüssel der Himmelspforte erkennbar wie im Beispiel des deutschen Malers Albrecht Dürer.

Eine Idealfigur, geschaffen nach der Vorstellung des Künstlers, ist auch die Statue in der Anekdote von Pygmalion.

Die Anekdote zum Thema: Der von den Frauen enttäuschte Bildhauer Pygmalion bearbeitete mit glücklicher Hand und wundersamer Geschicklichkeit schneeweißes Elfenbein, gab ihm eine Gestalt, wie keine Frau auf Erden sie haben kann, und verliebte sich in sie. Oft legte er prüfend die Hände an das Geschöpf, ob es Fleisch und Blut sei oder Elfenbein. Küsse gab er ihr und glaubte, sie erwidert; er redete mit der Statue und hielt sie im Arm. Bald schmeichelte er, bald brachte er Gaben. Er schmückte ihr die Glieder mit Gewändern, die Finger mit Edelsteinen, den Hals mit langen Ketten. Er legte sie auf Decken, nannte sie seine Gemahlin. Schließlich bat Pygmalion Venus um die Belebung der Statue. Daheim warf er sich auf das Lager und küsste sie. Da war ihm, als sei sie warm. Er tastete noch, da wurde das Elfenbein weich, gab den Fingern nach. Pygmalion staunte. „Fleisch und Blut ist’s!“ Mit dem Daumen prüfte er, wie es in den Adern pochte. Da presste Pygmalion den Mund endlich auf wirkliche Lippen. Das Mädchen hat den Kuss empfunden, sie ist errötet.54

Image: Das Image ist gemeinhin die bewusst geförderte Wirkung einer Person oder der Gesamteindruck, den sie vermittelt. Eine konsequente Imagepflege kann das schnelle Wiedererkennen fördern. Allerdings kann auch das Gegenteil der Fall sein, dann nämlich, wenn eine Person den gewohnten Rahmen ihres Images verlässt.


Abb. 35: Marilyn Monroe Foto 1940er-Jahre

Sie sind gefragt: Erkennen Sie diese Frau?

Antwort: Sie haben sicher keine Mühe, Marilyn Monroe in der Verfremdung auf dem berühmten Siebdruck von Andy Warhol zu erkennen. In der vorliegenden Fotografie aber hat man Schwierigkeiten damit. Warum? Normalerweise kennt man von der Monroe ausgewählte Aufnahmen, die sie in verschiedenen Posen gut ausgeleuchtet als glamourösen Star zeigen. Die bekannten Bilder pflegen ihr Image als Sexsymbol – das Warhol-Porträt macht da keine Ausnahme. Die vorliegende Fotografie – wohlgemerkt als authentisches Abbild – zeigt die Schauspielerin hingegen einfach nur als eine hübsche junge Frau.

Das Selbstporträt: Gruppenporträt, Frauenporträts, Herrscherbildnisse, Ehe- und Kinderbildnisse, sie alle haben etwas gemeinsam: sie sind meist Auftragswerke. Nicht so das Selbstporträt. Hier ist der Maler sich selbst Modell. Er kann sich malen, wann und wie er will, und ist dabei niemandem Rechenschaft schuldig. Er kann mit sich Studien betreiben oder aber Werbung machen, wie dies viele Maler mit ihren Selbstbildnissen taten. Das folgende Porträt gehört wohl nicht zu den bekanntesten seiner Gattung, doch der Kommentar des jungen Marcel Proust von 1895, der dazu überliefert ist, macht es zu einem seiner liebenswertesten Vertreter. Es ist das Selbstporträt des siebzigjährigen Jean-Baptiste Siméon Chardin (1699 – 1779).


Abb. 36: Jean-Baptiste Siméon Chardin Selbstbildnis mit Brille 1771, Pastell auf Papier, 46 x 37,5 cm Louvre, Paris

Zitat zum Bild: Gehen Sie also in die Pastellgalerie und schauen Sie sich die Selbstporträts an, die er mit siebzig Jahren gemalt hat. Über dem gewaltigen Lorgnon, bis zur Nasenspitze heruntergerutscht, die es zwischen den beiden Scheiben aus ganz neuem Glas einklemmt, sind weit oben in den erloschenen Augen die verbrauchten Pupillen hochgerückt; sie machen den Eindruck, viel gesehen, viel gespottet, viel geliebt zu haben und in prahlerischem und zärtlichem Tonfall zu sagen: „Na klar, ich bin alt!“ Unter der erloschenen Sanftheit, mit der das Alter sie bestäubt hat, besitzen sie noch Feuer. Doch die Augenlider, müde wie ein Verschluss, der ausgedient hat, sind an den Rändern gerötet. (…) Man staunt, wie genau die Fältelung des Mundes von der Öffnung der Augen bestimmt wird, der auch die Runzelung der Nase gehorcht. Die kleinste Hautfalte, das kleinste Relief einer Ader ist eine sehr getreue und sehr merkwürdige Übersetzung von drei sich entsprechenden Originalen: dem Charakter, dem Leben, der augenblicklichen Gemütsbewegung. Hinfort, hoffe ich, werden Sie auf der Straße oder in Ihrem Haus sich mit respektvollem Interesse über diese abgenutzten Charaktere beugen, die, wenn man sie zu entziffern weiß, unendlich mehr sagen, Ergreifenderes und Lebendigeres als die ehrwürdigen Manuskripte.55

 

Zusammenfassung: In der Porträtsituation treffen zwei Persönlichkeiten aufeinander: die des Künstlers und die des Modells. Beide können das Bildnis in unterschiedlichem Maß prägen. Der Künstler durch seinen Stil, das Modell durch seine Erscheinung und sein Image. Ein Porträt zielt auf Wiedererkennung ab. Diese kann durch verschiedene Hilfsmittel gefördert werden: durch Namensnennung (ev. mit Datierung), durch Accessoires, durch Ähnlichkeit der Darstellung. Der Wiedererkennung abträglich sein können dagegen Abstraktion, Überbetonung bzw. Missachtung des Images einer Person sowie deren Idealisierung. Aufgabe des Porträts ist es, zu erinnern oder auch zu vertreten.

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