Kunst sehen und verstehen

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Schubladen, die für Ordnung sorgen

Ordnung muss sein!

Sie sind gefragt: Blättern Sie doch einmal Ihr Fotoalbum oder klicken Sie Ihre letzte Foto-CD aus dem Urlaub durch. Welche sind Ihre Lieblingsmotive? Kreuzen Sie an:

❑ Landschaftsbilder

❑ Gebräuche und Sitten

❑ Familienmitglieder, Freunde, Bekannte

❑ Blumen und Tiere

❑ Hübsche Details

❑ Bauwerke

Vielleicht haben Sie keine besondere Vorliebe und Ihre persönlichen Bildmotive kommen alle etwa gleich häufig vor. Wahrscheinlich bewahren Sie Ihre Fotos auch nicht nach Sujets geordnet auf, sondern chronologisch nach Ereignissen. In der bildenden Kunst kann es aber durchaus hilfreich sein, Themen oder Motive zu unterscheiden. So sind gerade Sonderausstellungen von Museen häufig einem bestimmten Thema, Motiv oder einer Gattung gewidmet. Bildgattungen sollen uns helfen, Kunstwerke nach ihrer Thematik einzuordnen. Sie bieten ein objektives Hilfsmittel – wie die erwähnte Bildlegende – in der Auseinandersetzung mit einem Werk. Quasi das Album, beziehungsweise die Schublade, in die wir das Werk einordnen können.

Eine andere Methode der „Schubladisierung“ ist die zeitliche Einordnung nach Epochen. Nach diesem Ordnungsprinzip verfahren normalerweise Kunstmuseen mit den Bildern ihrer Sammlung. Wir betreten dann eingangs etwa die Räume mit mittelalterlicher Kunst, um nachher durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart vorzuschreiten. Verfügt ein Museum über viele Werke eines einzelnen Meisters, so können diesem gar einer oder mehrere Räume gewidmet sein. Epochen und Gattungen sind gute Raster, die uns helfen, Bildeindrücke zu ordnen und zu vergleichen.

Die folgenden Kapitel halten sich an die klassischen Bildgattungen, Historie, Porträt, Genre, Landschaft und Stillleben. Weshalb „klassisch“ und weshalb gerade diese Unterscheidungskriterien, mögen Sie sich fragen. Nun, wie so oft hat das eine mit dem anderen zu tun. Die Entstehung der einzelnen Gattungen geht ins 16. und 17. Jahrhundert zurück. In jener Zeit begannen sich verschiedene Maler auf bestimmte Themen zu spezialisieren. Gleichzeitig waren dies auch die großen Jahrhunderte der Akademiegründungen. Die Kunstschulen boten Ausbildungen in verschiedenen Fächern an. Die wohl einflussreichste unter ihnen war die Académie Française des Beaux-Arts in Paris. Sie sorgte nicht nur für ein strenges Aufnahmeverfahren ihrer Kandidaten, sondern auch für einen verbindlichen Fächerkanon, der zur klassischen Ausbildung gehörte. Dieser hat sich bis heute – wenn auch oft totgesagt und vielleicht in Ermangelung einer griffigeren Alternative – als Ordnungsprinzip der Kunstgeschichtsschreibung halten können. Allerdings versagt er da seinen Dienst, wo sich die Kunst auf neue Experimente (vgl. Kapitel Die Moderne) einlässt. Mit dieser Einschränkung scheint man aber gut zurechtzukommen, und so haben die Gattungen als zeitlose (klassische) Kategorien bis heute überlebt. Dabei wurden die genannten Disziplinen lange Zeit keineswegs gleichwertig behandelt, sondern stellten eine Rangfolge – wie aufgezählt – in fallender Wertung dar. Daraus ergibt sich: große Taten berühmter Menschen oder altbekannte Geschichten (Historienbild) vor der Darstellung von (berühmten) Menschen (Porträt), vor der Alltagsdarstellung verschiedenster Menschen (Genre), vor Belebtem (Landschaft, inklusive Mensch und Tier), vor unbelebten Gegenständen (Stillleben).

Im Folgenden wird die Hierarchie etwas durcheinandergebracht: Ausgehend vom Porträt steigen wir die Stufenleiter sukzessive bis zum Stillleben hinunter, um uns schließlich wieder zur Historie emporzuschwingen. Dieses zwanglose Vorgehen hat den Vorteil, dass einzelne Aspekte und Entwicklungen bereits besprochen und für das letzte Kapitel vorausgesetzt werden können, sodass das Kapitel Historie sich dann ganz dem Inhaltlichen widmen kann.

4|1 Porträtmalerei – Wie hätten Sie’s denn gern?

Sie sind gefragt: Was wäre Ihnen wichtig, wenn Sie sich porträtieren ließen? Kreuzen Sie an!

a) ❑ Das Porträt soll mir möglichst ähnlich sehen.

b) ❑ Das Porträt soll mich möglichst vorteilhaft zeigen.

c) ❑ Der Künstler soll mich zeigen, wie er mich sieht.

d) ❑ Es ist egal, wie ich aussehe, Hauptsache das Porträt stammt von einem berühmten Maler.

Antwort:

a) Hand aufs Herz: Diese Antwort braucht möglicherweise etwas Mut. Denn so ganz ungeschönt und ehrlich (oder vielleicht doch etwas überspitzt?) porträtiert zu werden, wie hier die Madame de Tournon, braucht ein gesundes Selbstbewusstsein oder doch einen so versierten Maler wie Jean-Auguste-Dominique Ingres. Die meisten von uns sind ja keine Fotomodelle.


Abb. 15: Jean-Auguste-Dominique Ingres Madame de Tournon 1812, Öl auf Leinwand, 92 x 73 cm Philadelphia Museum of Art

Hintergrund zum Bild: Ingres finanzierte sich einen längeren Italienaufenthalt durch Porträtmalerei. 1812 erhielt er vom damaligen Präfekten von Rom den Auftrag, dessen Mutter zu porträtieren. Eine Aufgabe nicht ohne Tücken, die der Maler jedoch geschickt löste: Wohl ganz den Tatsachen verpflichtet, besticht das Porträt nicht durch Schönheit, sondern durch einen äußerst intensiven Gesichtsausdruck. Leicht distanziert, leicht ironisch, dabei warm und wissend ist der Blick der Tournon, gleich demjenigen einer Frau, die viel gesehen und erlebt hat.

Antwort b) finden Sie auf S. 41

Antwort c) finden Sie auf S. 47

Antwort d) finden Sie auf S. 50

4|1|1 Was ist ein Porträt?

Die oben gestellte Frage hat uns bereits mit zwei grundlegenden Kennzeichen des Porträts konfrontiert, nämlich mit der Ähnlichkeit und mit der Vorstellung des Künstlers beziehungsweise der künstlerischen Auffassung. Die verschiedenen Lösungen zeigen zudem, dass offenbar nicht immer beides in Übereinstimmung gebracht werden kann. In der Tat lebt das Porträt von der Spannung zwischen Abbildfunktion und Ausdruckskraft des Künstlers. Ein Konflikt, der seit dem – wenn wir so wollen – ersten künstlerischen Schöpfungsakt besteht und hier archetypisch für alle Bildnisse zitiert werden soll:

Das Zitat zum Thema:

„Nun wollen wir den Menschen machen, ein Wesen, das uns ähnlich ist! … Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, er schuf Mann und Frau.“ (Gen. 1, 26.27)

„Gott hatte den Menschen als sein Ebenbild gemacht; als Mann und Frau hatte er die Menschen geschaffen, hatte sie gesegnet und ihnen den Namen, Mensch‘ gegeben.“ (Gen. 5, 1.2)

Liest man die beiden Zitate genau, stellt man fest, dass bezüglich der Urheberschaft beträchtliche Unklarheit vorliegt. Wie ist die Mehrzahl zu interpretieren, in der Gott von sich selbst redet? Spricht er von sich im sogenannten Majestätsplural, wie es Könige zu tun pflegten? Ist er im Gespräch mit Jesus, wie auch schon vermutet wurde? Oder geht er tatsächlich von sich als einem als Mehrzahl existierenden Wesen aus? Fest steht, dass offenbar die Gottes-Ähnlichkeit erst durch zwei Geschlechter gewährleistet ist. Deutungsspielraum lässt zudem die Formulierung, nach seinem Bild. Sie stellt uns vor die Frage, ob damit nach dem Aussehen, entsprechend der äußeren Erscheinung, oder nach der Vorstellung, entsprechend einem inneren Bild, gemeint ist. Auch wenn diese Fragen nicht schlüssig beantwortet werden können, demonstrieren sie doch die Wechselbeziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, die bestimmend für die Gattung Porträt ist.

Wenden wir uns nun aber einem ganz konkreten Punkt des Zitats zu. Vielleicht ist es Ihnen beim Lesen auch aufgefallen: Als weiterer wichtiger Aspekt des Porträts wird der Name ins Spiel gebracht. Wie wichtig die Namensnennung ist, erkennt man leicht beim Durchblättern eines Familienalbums. Die Fotos sind in der Regel mit einem Begleittext versehen, in dem der Name der Abgebildeten und das Aufnahmedatum genannt werden. Fehlt das eine oder das andere, wird die Zuordnung schwierig oder ist gar nicht möglich. Porträts verlangen also geradezu nach einer Namensnennung und einer Datierung, um eindeutig zu sein. Sie garantieren die Identifikation der Personen auch bei zeitlicher Distanz.

Notabene: Das wohl berühmteste Porträt, die Mona Lisa von Leonardo da Vinci, ist nicht zuletzt deshalb so geheimnisvoll, weil man bis heute nicht genau weiß, wer die Abgebildete ist. Der Bildtitel stammt nämlich nicht von Leonardo, sondern von dessen Biograf Giorgio Vasari. Demnach war die Mona (Madonna) Lisa (Elisabetta) die Frau des Marchese Francesco di Bartolomeo di Zanobi del Giocondo. Von dessen Namen leitet sich auch die zweite gebräuchliche Bezeichnung des Bildes La Gioconda ab.27

Definition: Im Bewusstsein der aufgezeigten Schwierigkeiten von Abbildfunktion und künstlerischem Ausdruck schließen wir uns der folgenden Definition von Porträtmalerei an:

Ein Porträt ist ein Gemälde, eine Fotografie, eine Plastik oder eine andere künstlerische Darstellung einer oder mehrerer Personen. Die Absicht eines Porträts ist, neben der Darstellung körperlicher Ähnlichkeit auch das Wesen beziehungsweise die Persönlichkeit der porträtierten Person zum Ausdruck zu bringen.28

 

Abb. 16: Leonardo da Vinci Mona Lisa (La Gioconda) um 1503 – 1506, Öl auf Pappelholz 76,8 x 53 cm, Louvre, Paris

4|1|2 Von wahrer Geistesgröße und weiblichen Kleiderstöcken – Der Künstler als Porträtist

Vergegenwärtigen wir uns doch einmal eine Porträtsituation. Zwei Persönlichkeiten treffen aufeinander: die des Künstlers und die des Modells. Vielleicht kennen sie sich schon, vielleicht aber auch nicht. Der Maler ist der Aktive, das Modell dagegen ist zum Stillsitzen verurteilt. Der Künstler steht unter einem gewissen Leistungsdruck, denn immerhin soll er in einer vernünftigen Zeit ein annehmbares Resultat erbringen. Der Porträtierte mag wohl, je nach Persönlichkeit, von einem gewissen Unbehagen oder Ungeduld geplagt sein. Alles in allem eine eher unangenehme Ausgangslage. Doch lassen wir doch einen Betroffenen sprechen, den Schriftsteller Émile Zola, der von einer Sitzung beim Maler Édouard Manet (1832 – 1883) berichtet:

„Ich erinnere mich an die langen Stunden des Stillsitzens. Während meine regungslosen Glieder allmählich einschliefen, während mein Blick in dem hellen Licht ermüdete, kamen mir immer wieder wie ein leises dumpfes Brausen dieselben Gedanken. (…) Bisweilen sah ich im Halbschlaf des Posierens den Künstler an, der mit angespanntem Gesicht und leuchtenden Augen ganz in seiner Arbeit versunken vor der Leinwand stand. Er hatte mich vergessen, er wusste nicht mehr, dass ich da war, er malte mich ab, wie er jedes andere Lebewesen gemalt hätte, mit einer Aufmerksamkeit, einer künstlerischen Gewissenhaftigkeit, die ich nirgendwo sonst je gesehen habe.“29

Was hingegen in einer vergleichbaren Situation im Kopf eines Künstlers vorgehen kann, beschreibt der Maler Francis Bacon (1909 – 1992) folgendermaßen:

„So habe ich neulich den Kopf von jemandem gemalt, und was die Augenhöhlen, die Nase, den Mund darstellte, waren, wenn man es genau untersucht, einfache Formen, die nichts zu tun hatten mit Auge, Nase, Mund; aber die Art, wie sich Farbe von einer Kontur in die andere hineinbewegte, schuf eine Ähnlichkeit mit dem Menschen, den ich zu malen versuchte. (…) Dann am nächsten Tag habe ich versucht, das noch weiterzutreiben, es noch klarer herauszuarbeiten, noch näher heranzugehen, und ich habe dabei das Bild vollständig verloren, weil eben ein solches Bild ein Seiltanz ist zwischen dem, was man figurative Malerei nennt, und der Abstraktion. (…) Es ist ein Versuch, das Figurative schärfer und durchdringlicher auf das Nervensystem einwirken zu lassen.“30

Das Resultat einer Porträtsitzung wird je nach Zeitalter und Maler anders ausfallen: Während einmal das Individuelle betont und Wert auf eine detailgetreue Wiedergabe gelegt wird, ist in einer anderen Epoche das Idealtypische ausschlaggebend. Während der eine Künstler um größtmögliche äußere Ähnlichkeit bemüht ist, versucht der andere das Wesen der Abgebildeten einzufangen, und einen Dritten – wie etwa Pablo Picasso (1881 – 1973) in der folgenden Anekdote – kümmert beides nicht. Was bei Picasso zählt, ist seine ganz persönliche Sichtweise. Zur Wiedererkennung sollen ihm zwei Accessoires genügen:

Picasso antwortete einer Dame, die sich ein Porträt wünschte und nach einem Termin für eine Modellsitzung fragte: „Ach was, Sie müssen mir nur eine Haarlocke und Ihre Halskette schicken.“31


Abb. 17: Gian Lorenzo Bernini Ludwig XIV. (Büste) 1665, weißer Marmor H: 105 cm; B: 99 cm, T: 46 cm Schloss Versailles, Frankreich

Etwas kniffliger war die Aufgabe freilich, wenn es galt, einen Monarchen zu porträtieren. Dass der Barockkünstler Gian Lorenzo Bernini (1598 – 1680) dieser Herausforderung gewachsen war, belegen die Aufzeichnungen eines Zeitgenossen. In seinem Tagebuch bespricht Paul Fréar de Chantelou (1609 – 1694) die Entstehung und (Zwischen-)Resultate der berühmten Büste Ludwigs XIV., des Sonnenkönigs. Sie gilt – dank Chantelous Schrift – als eines der bestdokumentierten Kunstwerke der Neuzeit.32 Aus dem Tagebuch geht das Ringen um die ideale Form des königlichen Bildnisses hervor, an dem sich offenbar der halbe Hof beteiligte.

Antwort b) zu Seite 38: Bernini ist in diesem Porträt idealisierend vorgegangen. Ludwig XIV. sieht wohl gut aus, ob die Büste ihm aber tatsächlich ähnlich ist, können wir heute – wenn überhaupt – nur noch aus dem Vergleich mit anderen Porträts feststellen.

Das Zitat zum Thema:

„21. August: Bernini bemerkt, der König habe große Augenhöhlen und kleine Augen.

6. September: Bernini stellt fest, die Augen des Königs wirkten etwas tot, manchmal mache er sie kaum auf.

19. September: Herr von Montausier bemängelt, die Büste habe zu große Augen. Chantelou verteidigt dies mit den Worten:, Am lebenden Modell hat es nichts zu sagen, wenn die Augen verhältnismäßig klein sind, aber die tote Masse braucht große Augen, um lebendig zu wirken.‘

29. Juli: Die Stirnbildung der Büste wird von Bernini als zum griechischen Idealtypus gehörig erklärt.

19. August: Der Bildhauer Varin kritisiert, dass Bernini zu viel Marmor an der Stirn abgetragen habe. Chantelou verteidigt dies als Absicht mit dem Argument, dieses Merkmal finde sich an den schönsten Köpfen der Antike. 26. September: Der Abbé Butti meint, man finde allgemein die Stirn über den Augen geschwollen und weiter oben eingedrückt, worauf Chantelou wiederum unter Hinweis auf die Antike erklärt, gerade das gebe der Büste den Ausdruck von Größe. Selbst wenn der König diese Stirnbildung nicht haben würde, hätte man sie in jedem Fall anstreben müssen, solange sie der Ähnlichkeit nicht direkt schädlich geworden wäre.“33

Eine Szene wie aus einer Komödie! Die von Bernini vorgenommenen Manipulationen, die hier von Ludwigs Höflingen kritisiert werden, dienten übrigens einem ganz bestimmten Zweck: Die Gesichtszüge des Sonnenkönigs sollten in Annäherung zu den Bildnissen des antiken Herrschers Alexander des Großen (356 – 323 v. Chr.) gebracht werden. Diese Anpassung ging wohl auf Kosten individueller Züge, ließ aber – für gebildete Zeitgenossen unverkennbar – die Identität eines der größten Herrscher der Antike durchscheinen. Die Idealisierung von Ludwigs Zügen diente somit der Verherrlichung des französischen Königs, der so in die Reihe der größten Herrscher manövriert wurde (vgl. Schlüsselbegriffe).34 Auch Michelangelo soll idealisierend vorgegangen sein, als er für die Bibliothek von San Lorenzo in Florenz die Statuen von Lorenzo und Giuliano de Medici anfertigte. So wird er in einem Brief von 1544 folgendermaßen zitiert – man beachte die Ironie!


Abb. 18: Albrecht Dürer Philipp Melanchthon 1526, Kupferstich, 174 x 127 mm Museum of Fine Arts, Boston

„Als Michelangelo, einzig und einmalig auf der Welt, in der Bibliothek von S. Lorenzo in der Stadt Florenz die hohen Herren des gesegneten Hauses Medici zu skulpieren hatte, da nahm er weder vom Herzog Lorenzo noch vom Herrn Giuliano das Vorbild genau so wie die Natur sie porträtiert und zusammengesetzt hatte, sondern er gab ihnen eine Größe, eine Proportion, eine Schicklichkeit, eine Grazie, einen Glanz, was ihnen, wie er meinte, mehr Lob einbringen würde, wobei er sagte, dass heute in tausend Jahren niemand mehr Kenntnis haben werde, dass sie anders gewesen seien, sodass die Leute, wenn sie sie betrachteten, in Erstaunen geraten würden.“35

Gerade umgekehrt erging es dem deutschen Maler Albrecht Dürer (1471 – 1528). Überwältigt von der Geistesgröße des Melanchthon vermerkte er auf einem Porträt des Humanisten:

Das Antlitz des lebenden Philipp, nicht seine Geistseele, vermochte Dürer mit gelehrter Hand zu malen.36

Wer die Wahl hatte, konnte auch sehr selektiv vorgehen, wie das Beispiel des österreichischen Künstlers Oskar Kokoschka (1886 – 1980) zeigt. Bei ihm musste ein mögliches Modell offenbar zuerst den Filter der Erinnerung passieren: Nur wer sich ihm durch Besonderheiten eingeprägt hatte, durfte mit seiner künstlerischen Zuwendung rechnen. So legt es jedenfalls das folgende Zitat nahe.

„Ich male, was mir im Gedächtnis bleibt; sei es im Gesicht eines Menschen der Blitz des Auges, eine kleine Veränderung der Miene, die innere Bewegung verrät. (...) Darum kann ich nur Porträts von Menschen malen, an denen mir etwas Sehenswertes aufgefallen ist, keine ordenbehängten Herren oder mit Perlenketten garnierte weibliche Kleiderstöcke.“37

4|1|3 Von Herrschern, Händlern und Idolen – Das Porträt im Laufe der Zeit


Abb. 19: Unbekannter Künstler Ägyptisches Mumienporträt einer jungen Frau 42 x 24 cm, Wachsmalerei und Blattgold auf Zedernholz 2. Jahrhundert n. Chr., Louvre, Paris

Zu den frühesten Zeugnissen antiker Porträtkunst zählen griechischrömische Mumienporträts aus dem 1. bis 4. Jahrhundert. Diese Bildnisse wurden bereits zu Lebzeiten angefertigt, um dann anstelle einer Gesichtsmaske am mumifizierten Körper angebracht zu werden.38 Unter römischen Patriziern war es zudem üblich, von einem Verstorbenen eine Wachsmaske im Abdruckverfahren herzustellen. Diese wurde dann in einem Schrein ausgestellt, der sich – für alle Besucher gut sichtbar – im Atrium des Hauses befand. Solche Bildnisse dienten einerseits der Erinnerung, andererseits unterstrich die Zurschaustellung der Ahnen die Herrschaftsansprüche einer Familie.

Ein eindrückliches Beispiel für die Verknüpfung von Erinnerung und Herrschaftsanspruch birgt die Kathedrale St.-Denis in Paris. Diese königliche Grabstätte beherbergt die Sarkophage von über hundert Angehörigen der französischen Königshäuser. Ihre Grabmäler dokumentieren die Kunst des plastischen Porträts vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Neben der Aufgabe, die Hinterbliebenen zur regelmäßigen Fürbitte zu ermahnen, dienten diese Grabplastiken der Legitimation eines Herrscherhauses. Die Figuren sind gleichsam Zeugen einer rechtmäßigen Erbfolge. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade bei einem Wechsel der Dynastie der erste Vertreter der neuen Herrscherfamilie besonderen Wert darauf legte, seinen Machtanspruch durch eine Grablegung in der Herrschaftslinie seiner Vorgänger zu bekräftigen. In diesem Sinne hatten die Grabplastiken über ihre Aufgabe des Erinnerns hinaus als Stellvertreter zu fungieren.

Hintergrund zum Bild: Um 1263 ließ Ludwig IX., der Heilige, 16 Grabfiguren anfertigen. 14 davon sind noch erhalten. Dieses ehrgeizige Projekt hatte vor allem ein Ziel: das kapetingische Herrscherhaus in der Reihe der beiden Vorgänger-Dynastien der Merowinger und der Karolinger einzuordnen.


Abb. 20: Unbekannter Künstler Grabfigur (gisant) des Karl Martell (Großvater Karls des Großen) der hier postum die Königswürde erhielt. Kathedrale St.-Denis, Paris

Während im Mittelalter die Zeugnisse der Porträtkunst allgemein gering waren und in der Malerei praktisch gar nicht vorhanden, erwachte mit Beginn der Renaissance das Interesse am individualisierenden Bildnis. Eine prominente Stellung in der Entwicklung der Porträtmalerei nimmt die Arnolfini-Hochzeit aus dem Jahre 1432 von Jan van Eyck ein (vgl. Kapitel Was Ihnen Ihr Kopf sagt). Sie haben bereits einiges über dieses Bild erfahren. Hier sei speziell noch einmal auf den Konvexspiegel zwischen den Eheleuten hingewiesen. Dieser gibt gleich einem Panoptikum den ganzen Raum mit allen Anwesenden wieder. Das sind nebst den Brautleuten in Rückenansicht der Maler van Eyck und ein weiterer Zeuge. An der Wand über dem Spiegel findet sich zudem in lateinischen Worten die Inschrift: Johannes van Eyck war hier. Mit diesem Zeugnis scheint gleichsam die Rechtmäßigkeit des Ereignisses dokumentiert. So gesehen erhält das Doppelporträt über den Aspekt des Erinnerns hinaus einen bindenden um nicht zu sagen rechtlichen Charakter, für den der Maler als Zeuge eintritt.

 

Abb. 21: Jan van Eyck Die Arnolfini-Hochzeit (Detail) 1434, Öl auf Holz, 82 x 60 cm National Gallery, London

Dass hier ein Kaufmann und seine Frau porträtiert sind, weist im Übrigen darauf hin, dass diese Gattung nicht mehr allein dem Adel und dem Klerus vorbehalten war. Auch vermögende Bürgerliche fanden Gefallen an ihren Bildnissen. Zu diesem Einzug des Porträts in die bürgerlichen Kreise hat Jan van Eyck wesentlich beigetragen, war er doch bis weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt für seine Fähigkeit, verblüffende Ähnlichkeit zu erreichen. Gerade Handelsleute, die in Brügge Geschäfte betrieben, ließen sich deshalb gerne – und sei es auf der Durchreise – von ihm malen.39

Die Genauigkeit der Darstellung, für die van Eyck und die niederländischen Maler bekannt waren, griff bald auch auf Italien über. Hier, wo bis weit ins 15. Jahrhundert hinein noch die Darstellung im Profil – wie sie von römischen Münzen bekannt war – bevorzugt wurde, begann sich nun das Gesicht allmählich dem Betrachter zuzuwenden. Es gewann so an Tiefe und Unmittelbarkeit. Ein Eindruck, der noch durch den direkten Blick der Dargestellten auf den Betrachter verstärkt wurde (vgl. Mona Lisa, S. 39).

Ob ein Porträtierter in Profil, Halbprofil oder en face (von der Seite, halb oder ganz dem Betrachter zugewandt) dargestellt wurde, war zunächst abhängig von der landesüblichen Tradition, aber auch von der jeweiligen Mode. Ebenso waren Bildhintergrund und Bildausschnitt bestimmten Vorbildern und Vorlieben unterworfen. In Italien etwa wurden mit der Erfindung der Fluchtpunktperspektive (vgl. Kapitel Die Renaissance) Porträtierte gerne vor monumentalen Architekturen gezeigt. Angereichert mit Symbolen und Allegorien geben sie oft auch detailliert Auskunft über Herkunft, Stand und Status der Porträtierten. Aber auch Landschaften waren beliebte Bildhintergründe. Sie konnten verschieden instrumentalisiert werden und dienten zur Veranschaulichung der Weltläufigkeit einer Person oder gaben Auskunft über deren Besitztümer. So etwa im Doppelporträt der Eheleute Montefeltro und Sforza.

Sie sind gefragt: Betrachten Sie nacheinander je eine Bildhälfte, indem Sie die jeweils andere abdecken. Worauf hat der Maler besondere Sorgfalt verwendet?


Abb. 22: Piero della Francesca Doppelporträt des Federigo di Montefeltro und der Battista Sforza 1472, Tempera auf Holz je 47 x 33 cm, Uffizien, Florenz

Antwort: Sie werden bestimmt festgestellt haben, dass bei der Person der Battista Sforza besonderer Wert auf die genaue Ausführung ihrer Kleider, insbesondere des Brokatstoffes, ihres Schmuckes und ihrer Haartracht gelegt wurde. Ihr vornehm blasses Gesicht wirkt dagegen relativ flächig und leblos. Ganz anders ihr Ehemann: Sein Gesicht ist braungebrannt, präzise modelliert, Runzeln um die Augen- und Kinnpartie sind genau wiedergegeben, ja der Maler scheut sich nicht einmal vor der Darstellung der vier Warzen auf der Wange des Grafen. Sein Rock dagegen ist von ähnlicher Flächigkeit wie das Gesicht seiner Frau, und wenn dieses blendend hell ist, so ist jener nicht weniger intensiv rot.

Notabene: An dieser Stelle sei noch auf zwei Besonderheiten in diesem Doppelporträt hingewiesen.

1. Die Stirne der Battista ist merkwürdig hoch. Verantwortlich dafür ist keine Laune der Natur oder des Malers, sondern die Mode jener Zeit: Frauen rasierten sich die Stirnhaare, sodass die Wölbung des Schädels freigelegt wurde.

2. Das prägnante Profil des Herzogs wurde lange als Adlernase und damit als besondere Adelung seiner Person verstanden. Seine Höckernase hat aber einen ganz praktischen Grund. Der Herzog, offenbar ein Haudegen erster Güte und Feldherr von Beruf, soll bei einem Turnier sein rechtes Auge verloren haben. Um trotzdem einen möglichst breiten Gesichtswinkel zu haben, ließ er sich die Nasenwurzel einschneiden. Piero della Francesca griff bei seinem Porträt wohl auch deshalb auf die Profildarstellung zurück, um den Herzog von seiner unversehrten Seite zu zeigen. Solche Kunstgriffe kommen in der Porträtkunst immer wieder vor.

Im Doppelporträt Montefeltro/​Sforza (vgl. Kapitel Landschaftsmalerei) verbindet sich, wie wir sehen, die italienische Profildarstellung mit der nordischen Genauigkeit und der Vorliebe für Landschaften. Die Überlieferung und Verbreitung solcher Bildtypen verweist auf eine rege Reisetätigkeit der Maler, die voneinander lernten und neue Erkenntnisse und Bildschemata weitergaben. Dass dabei oft auch Konkurrenz im Spiel war, belegt die folgende Begebenheit.

Die Anekdote zum Thema: Der deutsche Maler Albrecht Dürer beschwerte sich bei seinem Venedig-Aufenthalt im Jahre 1506 über seine italienischen Kollegen: „Dagegen sind unter ihnen auch die untreuesten, verlogenen, diebischen Bösewichte, von denen ich nicht geglaubt hätte, dass sie auf dem Erdreich lebten. Ich habe viele gute Freunde unter den Italienern, die mich warnen, dass ich mit ihren Malern ja nicht esse und trinke. Auch sind mir ihrer viele feind und machen mein Werk nach in den Kirchen und wo immer sie es bekommen mögen; nachher schelten sie es und sagen, es sei nicht antikischer Art, darum sei es nicht gut.“40


Abb. 23: Giuseppe Arcimboldo Kaiser Rudolf II. als Vertumnus um 1591, Öl auf Holz 70,5 x 57,5 cm Skokloster Slott, Stockholm

An einem Porträt kommt man in diesem Kapitel nicht vorbei. Sie ahnen es, es ist die Mona Lisa von Leonardo da Vinci (1452 – 1519). Es gibt wohl kaum ein anderes Kunstwerk, das über die Jahrhunderte so faszinierte, zu dem so viel geforscht, geschrieben und spekuliert wurde wie dieses Frauenporträt. Dass man dabei kaum zu schlüssigen Erkenntnissen gelangte, berechtigt mehr noch als bei anderen Bildnissen, hier einen ganz persönlichen Zugang zu suchen. Das Bild scheint jenseits von Zeit und Deutungsversuchen zu stehen und für sich zu sprechen (vgl. Seite 39).

Sie sind gefragt: Betrachten Sie dieses Porträt eingehend und lassen Sie sich Zeit dabei.

Antwort: Sie machen gewiss Ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen mit diesem Bildnis, vielleicht teilen Sie aber auch meine: Erstaunlicherweise scheint sich das Lächeln der Mona Lisa bei längerem Hinschauen zu intensivieren. Es scheint, als würde sich das Gesicht fast unmerklich bewegen, und mit der Zeit hat man das unangenehme Gefühl, man sei nicht mehr Betrachter, sondern der beziehungsweise die Beobachtete! Dieser Eindruck ergibt sich einerseits aus dem direkten Blick der Porträtierten, andererseits aus ihrem gleichsam wissenden Gesichtsausdruck. Ein solcher Ausdruck von Befindlichkeit ist neu und wegweisend für das 16. Jahrhundert und eine Option, die fortan eine wichtige Rolle in der Porträtkunst spielen sollte.

Eine ganz eigene Art des Porträtierens pflegte der italienische Maler Giuseppe Arcimboldo (1526 – 1593) mit seinen collageartigen Kompositbildnissen. Das Herrscherporträt Kaiser Rudolfs II. als Gemüsegarten mag auf Anhieb despektierlich wirken. Doch was uns heute als Kuriosum erscheint, wurde im 16. Jahrhundert als Verherrlichung verstanden: der Kaiser als Vertumnus, als römischer Gott der Jahreszeiten. Er ist die Personifikation lukullischer Fülle und somit Garant für Wohlstand und Wohlergehen. Allerdings vermochte selbst diese sinnbildliche Darstellung nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der Herrschaftsanspruch des Kaisers im ausgehenden 16. Jahrhundert im Schwinden begriffen war.

Antwort c) zu Seite 38: Ganz der Vorstellung des Künstlers entspringt das Porträt links unten. Dafür musste der Künstler allerdings bei der Ähnlichkeit Abstriche machen. Eine Tatsache, die Arcimboldo jedoch durch die Idealisierung und Gleichsetzung des Kaisers mit einer antiken Gottheit wohl wieder mehr als wettmachte.

Die Fülle des Garten Eden war bald andernorts zu suchen: Nicht umsonst wird das 17. Jahrhundert in den Provinzen der nördlichen Niederlande das „Goldene Zeitalter“ genannt. Hier, wo der Handel blühte und sich der Wohlstand auf das erstarkende Bürgertum ausbreitete, erlebte auch die Malerei und insbesondere die Porträtmalerei eine ihrer produktivsten Phasen (vgl. auch Kapitel Genre und Landschaft). Nach Schätzungen wurden von den etwa drei Millionen Menschen, die über drei Generationen dieses Land bevölkerten, etwa fünfzigtausend in Bildnissen festgehalten.41 Der Delfter Maler Michiel van Mierevelt allein soll 10.000 Porträts gemalt haben.42 Angesichts einer solchen Leistung versteht es sich von selbst, dass eine gewisse Standardisierung in Körperhaltung und Posen üblich wurde. Häufig arbeitete man auch in Arbeitsteilung: Der Meister selbst war dann nur für das Einfügen der Gesichter verantwortlich, während Körper und Bildhintergrund von anderen Mitgliedern der Malwerkstatt ausgeführt wurden.