Kunst sehen und verstehen

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2|3 Das Publikum – das sind Sie!

Dieses Kapitel müssten eigentlich Sie schreiben. Denn es geht um den Bildbetrachter, also um Sie. Hier könnte dann etwa stehen, welche kulturellen und persönlichen Voraussetzungen Sie mitbringen, welche Interessen Sie haben und welche Erfahrungen beziehungsweise Erwartung an die Kunst. Verallgemeinernd sprechen wir nun aber vom Publikum und von seinem Umgang mit Kunst.


Abb. 11: Andrea del Verrocchio (Modell) Alessandro Leopardi (Ausführung) Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni 1479 – 1496, Bronze, Campo SS. Giovanni e Paolo, Venedig

Das Zitat zum Thema: „Jeder geistige Genuss führt etwas Arbeit mit sich; so wird man auch den Kunstwerken irgendwie entgegenkommen müssen, wenn man sie nicht völlig übergehen will.“16

Dieses Zitat des Schweizer Kunsthistorikers Jacob Burckhardt (1818 – 1897) mag für heutige Ohren etwas antiquiert klingen. Wer will in einer Zeit des Hier, Jetzt und Alles schon arbeiten, um zu genießen?! Trotzdem wollen wir in diesem Kapitel – ohne allzu großen Aufwand zu betreiben – herausfinden, was dieses „irgendwie“ bedeuten könnte.

Sie sind gefragt: Wo kann Ihnen Kunst begegnen?

Antwort: Die naheliegende Antwort ist: in Museen und Galerien. Doch auch ohne Eintrittsticket hat man Gelegenheit, auf Kunst zu treffen. Denken Sie an die Innenräume von Kirchen oder öffentlichen Gebäuden. Haben Sie sich schon einmal in Ihrer Bank umgesehen, bei Ihrem Arzt, vor Ihrem Rathaus?

Erinnern Sie sich an das Kirchenportal des Berner Münsters. Es richtet – bis heute – seine Botschaft an alle Passanten. Die zentrale Aussage des Bildes ist so stark, dass sie auch 600 Jahre später noch verstanden werden kann. So trifft man überall auf Kunstwerke, die darauf warten, wahrgenommen zu werden. Meist gut sichtbar auf öffentlichen Plätzen befinden sich Plastiken von bekannten Persönlichkeiten, Herrscherstatuen – oder Reiterstandbilder. Der Condottiere Bartolomeo Colleoni beispielsweise steht seit 1483 auf dem Campo SS. Giovanni e Paolo in Venedig. Wer sich die Mühe macht, einmal an dem monumentalen Sockel emporzublicken, entdeckt beinahe schon in schwindelnder Höhe Pferd und Reiter. Die Grandezza des Dargestellten lässt zweifelsfrei auf eine bedeutende Persönlichkeit schließen, auch wenn ihr Name nur wenigen der vorbeiziehenden Touristen bekannt sein dürfte. Dem Ritter ist grimmige Entschlossenheit ins Gesicht geschrieben. Seine Rüstung deutet an, dass er seine Meriten im Kampf erwarb. Die Bildbotschaft ist eindeutig: Stärke, Macht, Ruhm.

Die Anekdote zum Thema: Der Senat von Venedig schrieb einen Wettbewerb aus, worin das Modell eines Pferdes für das Reiterdenkmal des 1475 verstorbenen Feldhauptmanns Colleoni verlangt wurde, und Andrea del Verrocchio ging als Sieger hervor. Als der Künstler das Modell für das Pferd vollendet hatte und bereits den Bronzeguss vorbereitete, wurde aufgrund von Intrigen einiger Edelleute der Beschluss gefasst, Bellano aus Genua solle die Figur und Verrocchio das Pferd machen. Kaum hatte Verrocchio das vernommen, zerschlug er die Beine und den Kopf seines Modells und wandte sich voll Zorn, ohne ein Wort zu sagen, nach Florenz. Als der Senat davon hörte, ließ er ihn wissen, dass er nie mehr wagen solle, nach Venedig zu kommen, sonst würde ihm der Kopf abgeschlagen. Darauf antwortete der Meister, er würde sich davor hüten, da es nicht in ihrer Macht stünde, abgeschlagene Menschenköpfe zu ersetzen; sie könnten es ja nicht einmal bei einem Pferd, während er wenigstens seinem Pferde einen noch viel schöneren wiedergeben könne. Diese Antwort gefiel den Senatoren sehr, und Andrea wurde mit doppeltem Gehalt nach Venedig zurückgerufen. Dort stellte er sein erstes Modell wieder her und goss es in Bronze.17


Abb. 12: Marino Marini Il Miracolo (das Wunder) 1953, Bronze, Höhe: 255 cm

Während die meisten Touristen Verrocchios Standbild mehr am Rande zur Kenntnis nehmen dürften, zieht eine andere Plastik, als Teil einer Museumssammlung, die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich: Marino Marinis Il Miracolo. Ein Reiterbild, das Fragen provoziert: „Was ist das?“, „Ist es ein stürzendes oder ein sich aufbäumendes Pferd?“, „Wie ist es möglich, dass sich der Reiter in waagrechter Position halten kann?“, „Warum hält er sich nicht fest?“, „Warum hat er die Hände gefaltet?“, „Geht es um eine Zirkusnummer?“, „Ist das Kunstwerk verkehrt herum installiert?“, „Was hat das alles zu bedeuten?“

Auch hier haben wir es mit einer Reiterplastik zu tun, wobei der Ausdruck „Reiterstandbild“ bewusst vermieden werden soll. Denn obwohl man nicht damit rechnen muss, dass das Kunstwerk gleich kippen wird, wirkt es doch recht labil. Es steht nicht – wie das Pferd des Colleoni, das Macht und Stärke assoziiert, fest auf seinen vier beziehungsweise drei Pferdebeinen. Vielmehr bäumt sich dieses Tier auf und scheint sich gegen etwas zu wehren.

Will man die Fragen beantwortet haben, benötigt man offensichtlich zusätzliche Informationen zum Werk und allenfalls zur Person des Künstlers. Diese liefert im vorliegenden Fall ein Blick in die Biografie Marino Marinis (1901 – 1980) sowie eine Aussage von ihm selbst.

Hintergrund zum Thema: Marino Marinis Atelier befand sich unmittelbar neben einem Reitstall, was ihn zu zahlreichen Reiterbildern inspirierte. Während die frühen Plastiken noch eine Einheit zwischen Mensch und Tier zeigen und in der Tradition des Reiterstandbildes im Sinne eines Colleoni sind, tritt nach dem Zweiten Weltkrieg ein radikaler Wandel ein: Die Pferde bäumen sich auf, die Figuren werden abstrakter. Miracoli (Wunder) nennt Marini diese Plastiken, möglicherweise in Anlehnung an den biblischen Bericht der Bekehrung des Saulus zum Paulus. „Meine Reiterstatuen drücken die Beängstigung aus, die mir die Ereignisse meines Zeitalters verursachen. Die Unruhe meiner Pferde wächst mit jedem neuen Werk; die immer kraftloser werdenden Reiter haben die Herrschaft über die Tiere verloren, und die Katastrophen, denen sie erliegen, gleichen jenen, die Sodom und Pompeji vernichtet haben. Ich suche so, das letzte Stadium in der Auflösung eines Mythos zu versinnbildlichen, des Mythos vom heldenhaften, siegreichen Individuum, vom Uomo di virtù (tugendhaften Menschen) des Humanisten.“18

Wenn man die Sprache der Bildbotschaft nicht oder nur teilweise versteht, kann es sich also lohnen, einen „Übersetzer“ beizuziehen. Dieser – ein ausgebildeter Kunsthistoriker oder ein Führer in Buchform oder auch nur eine Kurzbeschreibung in einem Museumsprospekt – wird uns bei der Übersetzung helfen und zusätzliche Informationen liefern. Diesen Aufwand sollte man nicht scheuen, wenn man sich mit Kunst vertiefter auseinandersetzen will. Gerade da, wo der Zugang zu einem Kunstwerk oder einem Künstler schwerfällt, kann eine gute, fundierte Führung zu Aha-Erlebnissen verhelfen. In diesem Sinne ist auch das am Anfang des Kapitels zitierte Burckhardt-Wort zu verstehen. Freilich kann man sich in diesem Zusammenhang fragen, ob das Publikum nicht auch mit etwas mehr Entgegenkommen seitens der Künstler rechnen darf. Etwa nach folgender (von der Autorin erdachter) Variante des Zitates von Jacob Burckhardt.

Das modifizierte Zitat zum Thema: Jeder geistige Genuss führt etwas Arbeit mit sich; so wird man auch dem Kunstpublikum irgendwie entgegenkommen müssen, wenn man es nicht völlig übergehen will.

Diese Forderung scheint gerade bezüglich der Gegenwartskunst ihre Berechtigung zu haben. Denn je mehr ein Künstler sich seiner eigenen Sicht der Welt verschreibt, und je mehr er sich von der Abbildung der Realität entfernt, desto weniger kann er mit dem Publikumsverständnis rechnen. In der Tat spricht man von einer Schere, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – seit der Teilung der Kunst in die obengenannten „Ismen“ – also zwischen Publikumsgeschmack und künstlerischer Entwicklung aufgetan hat. In gleichem Maß, wie sich der Künstler seiner persönlichen Sicht der Dinge verpflichtete und nicht mehr die Welt als solche abbildete, ging er auf Distanz zur Mehrzahl der Betrachter. Eine Entfremdung, die zum Teil durch die Zeit wieder wettgemacht werden konnte. Das zeigt das Beispiel der impressionistischen Kunst, die zuerst abgelehnt wurde, heute aber als Publikumsmagnet wirkt.19 Andererseits kann der Faktor Zeit der Verständlichkeit auch hinderlich sein. Bei Themen nämlich, die uns heute nicht mehr geläufig sind, also etwa bei der Darstellung von Heiligen mit ihren Attributen, bei Allegorien, bei biblischen Szenen und solchen aus der Mythologie (vgl. Kapitel Historienmalerei).

Wie ein Bild spricht oder eben nicht spricht, zeigt uns im Übrigen die folgende Anekdote.

Die Anekdote zum Thema: Der Maler Annibale Carracci (1560 – 1609) wurde einmal gefragt, welcher seiner beiden Schüler, die in der gleichen Kirche ein Bild zum gleichen Thema gemalt hatten, die Aufgabe besser gelöst hätte. Lange wusste er nicht, welcher mehr Lob verdient hätte, bis ihm eines Tages eine alte Frau die Augen öffnete. Mit einem kleinen Mädchen an der Hand blieb sie zuerst vor dem einen Gemälde stehen. Ihr Blick schweifte nach allen Seiten, um es ganz zu beschauen. Sie sagte aber kein Wort und drückte auch sonst in keiner Weise eine Gemütsbewegung aus, die das Werk bei ihr hervorgerufen hätte. Dann wandte sie sich dem anderen Gemälde zu. Kaum hatte sie dies getan, begann sie auch schon dem Mädchen die dargestellten Figuren zu erklären. Und so betrachtete sie eine Figur nach der andern, indem sie mit dem Finger darauf wies. Mit Vergnügen erklärte sie in dieser Weise dem Mädchen, dem es ebenfalls zu gefallen schien, die Handlungen. „Jetzt seht ihr“, schloss Annibale, „wie ich zu verstehen gelernt habe, welcher von unseren beiden Malern die Affekte lebendiger ausgedrückt und seine Geschichte klarer dargelegt hat.“ Bei den beiden Schülern Carraccis handelt es sich übrigens um die Maler Guido Reni und Demenichino, die im Auftrag des Kardinals Scipione Borghese (1577 – 1633) das Oratorium S. Andrea in Rom mit zwei Szenen aus dem Leben des Apostels Andreas bemalt hatten.20

 

Folgen wir der Anekdote, so muss das Kunstwerk offenbar zwei Bedingungen erfüllen, um in der Betrachterin eine Reaktion auszulösen. Es muss sie innerlich bewegen, so erzählt die Frau in der Geschichte „mit Vergnügen“ und das Mädchen hört „mit Gefallen“ zu, und es muss etwas Bekanntes – hier die dargestellten Figuren – veranschaulichen. Die Betrachterin wird also auf der Gefühls- wie auf der Wissensebene „ergriffen“. Wo dies nicht geschieht – wie im Falle des ersten Bildes –, bleibt die Kunst stumm. Gewiss ist es eine Frage der Persönlichkeit, von welchen Bildern wir ergriffen sind oder welche uns gefühlsmäßig ansprechen. Ob wir dagegen Bekanntes in einem Bild erkennen können, hängt im Wesentlichen von unserem Wissen ab. Oder anders gesagt, ob wir uns in der Kultur, in der Zeit oder Epoche und in der Darstellungsweise, in der das Bild gemalt wurde, auskennen. In der gegenständlichen Malerei – also in der Malerei mit Abbildcharakter – wird uns deshalb das Erkennen von Bekanntem leichterfallen, als in moderner, nichtgegenständlicher Kunst.

Zusammenfassung: Kunst kann als Medium aufgefasst werden, durch das ein Künstler mit seinem Publikum kommuniziert. Sie ist mit einer Universalsprache vergleichbar, die über kulturelle Grenzen hinweg Botschaften verständlich machen kann. Der talentierte Künstler wurde im Laufe der Zeit unter verschiedenen Aspekten gesehen: als der von Gott Inspirierte, der von Natur aus Geniale, der an seiner Begabung Leidende, ja sogar als Kranker und Geisteskranker. Er schafft seine Kunst in einer ihm eigenen Bildsprache. Je mehr wir als Betrachter davon verstehen, umso mehr können wir aus einem Kunstwerk lesen. Sich mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen, kann also für den Betrachter mit etwas Aufwand verbunden sein. Andererseits wurde gezeigt, dass auch vonseiten des Künstlers eine Aufgabe zu erfüllen ist, nämlich dem Publikum einen Schritt entgegenzukommen. Wo dies nicht oder nur ungenügend geschieht, müssen die Museen und Ausstellungsmacher eine vermittelnde Rolle übernehmen. Als Publikum haben wir zwei Möglichkeiten, auf ein Kunstwerk zu reagieren: mit dem Bauch und mit dem Kopf.


Nur keine falschen Hemmungen!

3|1 Ihr Bauchgefühl oder: Wie Sie einen persönlichen Zugang zu Kunst finden

Sie sind gefragt: Welche Haltung würden Sie beim Betrachten eines Bildes vorziehen?

1. Vor ein Bild hat jeder sich hinzustellen wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde.21

2. [Die Bilder] beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muss er einen bestimmten Weg suchen.22

3. Sie sind der Empfänger einer Bild-Botschaft. Fühlen Sie sich also angesprochen!

Antwort: Ihre Antwort muss sich nicht mit der hier weiterverfolgten Methode decken. Wenn Sie sich aber für Punkt 3 entschieden haben, liegen Sie auf der Linie dieses Buches! Aber: 1 und 2 sind keine Irrwege. Es gibt tatsächlich Kunstwerke, die einen überwältigenden Eindruck machen und den Betrachter vor Ehrfurcht erstarren lassen. Andere faszinieren, und man versucht herauszufinden weshalb.

Fühlen Sie sich einfach einmal angesprochen! Die erste Reaktion beim Betrachten eines Kunstwerkes läuft bei den meisten Menschen auf die Beurteilung gefallen beziehungsweise nicht gefallen hinaus. Wir reagieren damit nicht anders, als wenn wir einen Menschen kennenlernen: Wir fällen eine spontane, mehr oder weniger bewusste Entscheidung: sympathisch – unsympathisch beziehungsweise gefallen – nicht gefallen. Wenn wir uns etwas näher mit einem Menschen auseinandersetzen, fragen wir uns, weshalb wir ihn sympathisch beziehungsweise unsympathisch finden. Genauso können Sie sich beim Kunstwerk fragen, weshalb es Ihnen gefällt oder nicht. Es genügt schon, wenn Sie die Entscheidung begründen: Dieses Bild gefällt mir, weil … Hier können Sie nun das Passende einsetzen, also etwa: … weil es in meinen Lieblingsfarben gemalt ist; weil es mich an … erinnert; weil ich auch gerne so malen würde; weil ich es einfach schön finde; weil es in mir ein Gefühl von … auslöst etc. Analog verfahren Sie bei Nicht-Gefallen: Dieses Bild gefällt mir nicht, weil … mir das Sujet nichts sagt; weil mir zu viel Farbe drauf ist; weil es mich abstößt, weil ich es langweilig finde etc. Sie haben damit Ihr Urteil des Gefallens beziehungsweise Nichtgefallens begründet und als ein Angesprochener auf die Mitteilung reagiert.

Die Anekdote zum Thema: Über einen Besuch Aurelio Luinis in Tizians Atelier wird erzählt: „Er sah ein wunderbares Landschaftsbild, das Tizian im Hause hatte. Auf den ersten Blick hielt Aurelio es für eine Schmiererei. Nachdem er aber zurückgetreten war, schien es ihm, aus größerer Distanz, als ob ihm das Bild die Sonne leuchtete und die Straßen vor ihr nach allen Seiten zurückwichen.“23

Wie bei Menschen kann es auch beim Kunstwerk sein, dass Sie nach näherem Kennenlernen Ihr erstes Urteil überdenken oder gar revidieren müssen. Dies kann geschehen, indem Sie es differenzieren. Vielleicht sticht Ihnen in einem Bild, das Ihnen grundsätzlich missfällt, doch noch etwas ins Auge, das Sie gelungen finden. Möglicherweise gefallen Ihnen die Farben, obwohl Sie die Figuren unschön finden, oder Sie finden ein Bild kitschig, aber technisch gut gemalt, oder Sie fühlen sich auf gut Deutsch „verarscht“, und trotzdem finden Sie die Idee des Künstlers originell, oder Sie würden ein bestimmtes Bild nie in Ihre Wohnung hängen, können es sich aber gut in einem öffentlichen Raum vorstellen. Allein aufgrund dieser persönlichen Annäherung findet eine Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk statt und Sie lernen schon einiges über das Werk.

3|2 Was Ihnen Ihr Kopf sagt oder: Wie Sie einen sachlichen Zugang finden

Diesem ersten persönlichen Schritt auf ein Bild zu kann nun ein sachlicher folgen, eingeleitet durch die Frage: Was sehe ich? Vielleicht fällt Ihnen – noch bevor Sie Einzelheiten betrachten – auf Anhieb ein vorherrschendes Bildthema auf. Dann benennen Sie es. Das können ein Blumenstrauß, eine Küchenszene, eine weiße Leinwand sein. Nun wenden Sie sich – wenn vorhanden – den übrigen Bestandteilen zu: der Umgebung des Blumenstraußes, dem Hintergrund oder den Nebenschauplätzen der Küchenszene. Danach können Sie ins Detail gehen. Es gibt Bilder, bei denen man sich in den Details verlieren kann, da erkennt man noch die Fliege auf der Birne, den Wasserbeschlag am kühlen Bierglas oder das einzelne Haar des Pelzbesatzes. Der genaue Blick kann Ihnen aber noch ganz andere Einzelheiten offenbaren. Treten Sie doch noch einen Schritt näher an das Bild – so nahe es die Sicherheitsvorkehrungen des Museums Ihnen erlauben – und schauen sich den Farbauftrag an, Sie werden staunen, was Sie da entdecken: Da sieht man ja die einzelnen Pinselstriche! Sind das überhaupt Pinselstriche oder hat der Maler da eine andere Technik verwendet? Da schaut noch die Leinwand zwischen der Farbe hervor! Oder: Dieses Grün ist ja eigentlich ein Schwarz-Blau! Nachdem Sie sich auf diese Weise eine Übersicht verschafft haben, werfen Sie nun einen Blick auf die Begleittafel. Sie liefert Ihnen sachdienliche Hinweise, wie den Namen des Künstlers, Titel, Technik, Jahr und eventuell Herkunft des Bildes. Bei Reproduktionen in Büchern ist zudem unbedingt die Formatangabe zu beachten.

Die Anekdote zum Thema: Der englische Maler Joshua Reynolds bemerkte voller Bitterkeit, dass britische Reisende, anstatt sich der Schönheit der berühmten Werke zu widmen, nur das Thema wissen wollen, den Namen des Malers, die Geschichte der Skulptur und wo sie gefunden wurde, und dieses dann aufschrieben. „Manche Engländer kamen in den Vatikan, als ich dort war, verbrachten sechs Stunden damit, das aufzuschreiben, was der Reiseführer ihnen diktierte. Sie schauten die ganze Zeit so gut wie nie auf die Bilder.“24

Sie sind gefragt:

Wie gehen Sie mit dem Bild auf der rechten Seite um? Hier die Hilfestellungen:

1 Gefallen/​Nichtgefallen

2 Begründen

3 Differenzieren

4 Hauptthema

5 Details/​genauer Blick

6 Begleittafel

Antwort: Nachdem Sie die ersten drei Punkte individuell für sich beantwortet haben, setzen wir unsere Betrachtung mit dem Bildthema fort. Hauptgegenstand ist zweifellos ein Paar. Als weitere Bestandteile erkennt man einen Innenraum, der offenbar ein Schlafzimmer ist, denn auf der rechten Bildseite befindet sich ein Himmelbett ganz in Rot. Im Bildhintergrund steht eine Liege oder eine ebenfalls mit roten Kissen bedeckte Bank. Von der Decke herab ragt ein mehrarmiger Leuchter. Zwischen dem Paar an der Wand im Hintergrund hängt ein runder Spiegel. Auf der linken Bildseite befindet sich ein geöffnetes Fenster. Auf dem Fußboden vor dem Paar steht ein kleiner Hund. Außerdem fallen zwei Paar Schuhe auf, die einen gut sichtbar in der unteren Bildecke, links des Mannes, die anderen von dominanter roter Farbe, etwas im Hintergrund, zwischen dem Paar vor dem Liegebett. Wir stellen fest, dass die Farben Grün, Rot und Braun dominieren und die Szene sehr genau und detailgetreu gemalt ist. Des Weiteren ersehen wir aus der Kleidung des Paares und der Einrichtung des Raumes, dass es sich um eine ältere Darstellung handelt. Je nachdem, wie gut sich jemand in Kostümkunde und Interieurs auskennt, lässt sich sogar das Jahrhundert bestimmen. Die pelzbesetzten Gewänder der Dargestellten, die kunstvolle Fältelung am Kleid der Frau sowie ihre spitzenbesetzte Haube lassen zudem auf begüterte Verhältnisse schließen. Die Einrichtung des Raumes bestätigt diesen Eindruck. Geht man nun ins Detail, erkennt man, dass auf dem Leuchter eine einzige Kerze steckt, die angezündet ist. Zudem wird die ganze Szene vom Spiegel wiedergegeben. Über dem Spiegel ist in verschnörkelten Buchstaben eine Inschrift an die Wand gemalt. Scharfe Augen vermögen die Worte „Johannes de Eyck fuit hic“ (Johannes van Eyck war hier) zu entziffern.


Abb. 13:

Wenn Sie dieses Bild im Original an seinem Stammplatz in der National Gallery in London oder als Abbildung in einem Buch sehen, erhalten Sie noch die folgenden Angaben mitgeliefert: >

Künstler: Jan van Eyck Titel: Die Arnolfini-Hochzeit Datierung: 1434

Technik: Öl auf Holz

Größe: 82 x 60 cm

Standort:

National Gallery, London

Was Sie vielleicht schon vermuteten, erschließt sich nun aus der Bildlegende: Es handelt sich um die Darstellung eines Hochzeitspaares, dem Namen nach eines italienischen. Tatsächlich ist es der Spross einer Kaufmanns- und Bankiersfamilie, Giovanni Arnolfini, mit seiner Braut Giovanna Cenami. Vielleicht tippten Sie sogar bei der Datierung ins 15. Jahrhundert richtig. (Hier soll man ruhig auch Spaß am Spiel haben!) Der Name des Künstlers schließlich verweist auf eine nördliche Herkunft, im Falle van Eycks auf das flämische Brügge. Der Maler ist kaum erkennbar im Spiegel zwischen den Eheleuten abgebildet. Was wir aber aus einer Reproduktion nicht erschließen können, ist die Größe eines Bildes. Mit den genannten Maßen von nicht einmal einem Meter Höhe und einer Breite von etwas über einem halben Meter ist das Bild möglicherweise kleiner beziehungsweise größer, als wir es uns vorgestellt hätten.

 

Aus der Bildlegende erfährt man also einiges, unter anderem, dass zwischen unserer Gegenwart und dem Entstehungsjahr des Bildes eine Zeitspanne von fast sechshundert Jahren verflossen ist. Dass wir heutigen Betrachter das Bild anders wahrnehmen als ein Mensch des 15. Jahrhunderts, versteht sich von selbst. Es kann denn auch ganz spannend sein, herauszufinden, was ein Zeitgenosse von van Eyck alles in der Arnolfini-Hochzeit „mitgelesen“ haben könnte. Vieles ist uns dank der kunstgeschichtlichen Erforschung der Bildinhalte und der Symbolik auch heute bekannt. Generell können wir davon ausgehen, dass in einem Bild aus dem 15. Jahrhundert jeder Gegenstand, ja, jede Geste eine Bedeutung haben konnte. Einige der wichtigsten seien hier genannt:


Hund: Symbol der Treue
Spiegel: einerseits (Selbst-)Erkenntnis, Wahrheit, andererseits Eitelkeit, Wollust
ausgezogene Schuhe: Betreten von heiligem Boden
Bett: Hochzeitssymbol
Kopfbedeckung: Zeichen der verheirateten Frau
Leuchter/​Kerze: begleitet das Ablegen eines Eides, das allwissende Auge Gottes
Orangen: Symbol der Fruchtbarkeit
Apfel: Symbol des verlorenen Paradieses

Was machen wir aber mit einem ungegenständlichen Bild der folgenden Art?


Abb. 14: Mark Rothko, Four Darks in Red (Vier Dunkelheiten in Rot) 1958, Öl auf Leinwand, 2,59 x 2,94 m Whitney Museum of American Art, New York

Gehen Sie genau gleich vor wie im ersten Beispiel. Stellen Sie sich die Frage, ob Ihnen das Bild gefällt, fragen Sie sich anschließend genauer, was Ihnen gefällt beziehungsweise nicht gefällt. Gehen Sie dann einen Schritt weiter und stellen Sie fest, was Sie sehen. Hier könnte die Antwort folgendermaßen lauten: Ich sehe vier dunkle Flächen/​Streifen auf einem roten Grund. Zwischen jedem Streifen schimmert ein schmaler Streifen des roten Grundes durch. Die drei oberen Flächen erstrecken sich über die gesamte Bildbreite, während die untere von der roten Farbe eingerahmt wird. Der oberste Streifen ist der schmalste. Er ist von dunkelgrüner Farbe. Die folgende Fläche dominiert die anderen durch ihre Größe und ihre dunkle Farbe. Die zwei unteren Streifen haben in etwa den gleichen oliven Farbton, der das Rot des Untergrundes durchscheinen lässt. Geben Sie dem Bild nun einen Titel oder ein Thema. Also etwa „Vier dunkle Flächen auf rotem Grund“ oder „Der schwarze Balken“. Vielleicht erinnern Sie die vier Streifen auch an Dünen, einen Sandstrand und das Meer mit einem Streifen Himmel im Hintergrund. Dann nennen Sie es „Am Meer“ …

Sie werden merken, dass es gar nicht so einfach ist, dieses an sich schlichte Bild zu beschreiben. Versucht man es trotzdem, wird man gezwungen, genau hinzusehen. Welche Formen sind vorhanden, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie beschreibe ich die Farbtöne, die Nuancen etc.? Diese Fragen schulen unser Auge. Wir haben also durchaus einen Gewinn, wenn wir ein Bild genau betrachten, selbst dann, wenn es uns auf den ersten Blick vielleicht nichts bedeutet.

Notabene: Hier stößt man allerdings an die Grenzen der Reproduzierbarkeit. Denn Farben weichen in der Wiedergabe oft beträchtlich von Originaltönen ab. Zudem ist es nur begrenzt möglich, Farbmischungen wiederzugeben.

Auf die Bedeutung der Größe eines Bildes haben wir schon hingewiesen. So macht es einen wesentlichen Unterschied, ob man die Vier Dunkelheiten in Rot in der Originalgröße von 2,59 x 2,94 m oder in einer Reproduktion von einem Zwanzigstel der Größe sieht. Nicht nur die Wirkung ist eine andere, auch der Betrachter verhält sich ganz anders. Steht man vor dem fast drei Meter hohen Original, so reicht es nicht, lediglich die Augen zu bewegen, um das Bild zu erfassen. Man muss dazu schon den Kopf bewegen oder gar von einer Seite zur anderen gehen. Will man gar das Bildganze überschauen, ist man gezwungen, sich davon zu entfernen. Gleich wie bei einem Fotoapparat ohne Zoom. Erst aus der richtigen Entfernung kann man das Bild überblicken. Aus der Nähe ist man dagegen gleichsam im Bild drin. Möglicherweise ist es auch die Intensität der Farbe, die Sie dazu nötigt, zurückzutreten. So viel Rot muss man schon aushalten können! Diese Eindrücke versagt die Reproduktion, von ihr erhält man lediglich eine Idee des Bildes. Es lohnt sich also, Kunstwerke – wo immer dies möglich ist – im Original zu betrachten, um ihre tatsächliche Wirkung zu erleben.

Nachdem Sie ein Bild in seiner formalen und allenfalls inhaltlichen Dimension erfasst haben, kann noch ein dritter Schritt folgen. Er betrifft nun die geistige Dimension eines Werkes. Dieser Zugang ist freilich nicht immer gegeben und fordert vom Betrachter Zeit und Muße. Trotzdem kann es sein, dass ein bestimmtes Werk in einer Ausstellung Sie nicht mehr loslässt und Sie zum Verweilen oder mehrmaligen Zurückkehren einlädt. Vielleicht können Sie den Grund dieser Attraktion sofort benennen. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass Sie vorerst nicht in Worte fassen können, was Sie anzieht. Eine solche Faszination könnte man am besten – um nochmals auf das Kommunikationsmodell zurückzukommen – mit nonverbaler Kommunikation vergleichen. Es sind gleichsam unterschwellige oder begleitende, nicht benennbare Bildaspekte, die zu uns sprechen und die einem Bild eine Bedeutung verleihen, die Form und Inhalt übersteigt. Es ist dann, als würde über das Materielle hinaus – und dies ist ganz ohne esoterischen Beigeschmack zu verstehen – der Geist des Malers die Bildatmosphäre durchdringen. Oder wie es der bekannte deutsche Kunsttheoretiker Werner Schmalenbach in seinem ebenso lesens- wie liebenswerten Buch Über die Liebe zur Kunst und die Wahrheit der Bilder formulierte: „In dem, was auf dem Bild passiert, […] ist natürlich Geistiges enthalten.“25 Das löst möglicherweise Fragen nach der Persönlichkeit des Malers, nach seiner Verfassung, nach seiner Motivation aus, die uns sozusagen in Konversation mit dem Werk bringen. Wenn Sie ein Werk derart ausloten, kann es auch hilfreich sein, mit jemandem darüber zu sprechen.

Das Zitat zum Thema: „Das Besondere der Kunsterfahrung ist jedoch, dass Reiz und Reaktion sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Mit dem Empfinden wächst auch die Empfindungsfähigkeit, mit dem Sehen das Gespür für das Ansehnliche und mit dem Betrachten die Mündigkeit des Betrachters.“26

Zusammenfassung: Gehen Sie selbstbewusst auf ein Kunstwerk zu und fühlen Sie sich angesprochen! Gehen Sie von Ihrem „ersten Eindruck“ aus und versuchen Sie ihn zu begründen (gefällt mir/​gefällt mir nicht, weil …). Machen Sie noch einen Schritt weiter und differenzieren Sie. Wenn Ihnen ein Bild also nicht gefällt, so suchen Sie nun etwas, das Sie trotzdem anspricht und umgekehrt. Und schließlich tragen Sie innerlich zusammen, was Sie sehen, und geben dem Bild einen Titel oder ein Thema. Scheuen Sie sich nicht, ein Werk, das Sie anspricht, weiter auszuloten.