Kunst sehen und verstehen

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Kunst hat uns etwas zu sagen – Hat sie das?

Wir leben bekanntlich in einer Kommunikationsgesellschaft, und das nicht erst seit gestern. Allerdings stehen uns heute viel mehr technische Mittel des Informationsaustausches zur Verfügung als beispielsweise noch unsern Großeltern. Was sich aber bis heute nicht geändert hat, sind die Grundsätze des Informationsflusses, wie sie in sogenannten „Kommunikationsmodellen“ dargestellt werden. Ihnen gemeinsam ist das Grundschema von Produzent ➞ Mitteilung ➞ Konsument. Oder anders: Sender ➞ Botschaft/​Medium ➞ Empfänger. Das heißt nichts anderes, als dass Kommunikation eine Übermittlung von Information von einem Absender zu einem Empfänger mittels eines Mediums ist.

Sie sind gefragt: Was heißt das für Sie als Betrachter oder Betrachterin von Kunst? Wie sieht ein entsprechendes Diagramm aus, an dem Sie beteiligt sind?

Antwort: Wenn wir davon ausgehen, dass der Künstler seine gestalterische Botschaft nicht einfach ins Nichts hinausschickt, sondern mit einem Publikum rechnet, sieht das Diagramm so aus:

Künstler ➞ Kunstwerk ➞ Publikum/​Ich

Übertragen auf die Kunst ist das Kunstwerk das Bindeglied oder Medium, das die Informationen beziehungsweise Botschaft an Sie übermittelt. Der Künstler aber ist der Urheber, derjenige, der etwas mitzuteilen hat. Oder anders gesagt: keine Kunst ohne Künstler.

2|1 Keine Kunst ohne Künstler

Sie sind gefragt: Welche Künstler kennen Sie (ankreuzen) und von welchem haben Sie auch schon einmal ein Werk gesehen? (Buchstabe ins passende Kästchen setzen.)


❑ Andy Warhol (A)

❑ Leonardo da Vinci (B)

❑ Claude Monet (C)

❑ Pablo Picasso (D)

Antwort: B, C, A, D.

Kennen Sie einen, zwei oder alle? Leonardo da Vinci, das Universalgenie des 15. Jahrhunderts, Maler der Mona Lisa? Claude Monet, dessen Ausstellungen jeweils Rekordbesucherzahlen erzielen und dessen berühmte Seerosen- und Blumenbilder beliebte Kalendermotive sind? Pablo Picasso, der Maler des 20. Jahrhunderts schlechthin, oder Andy Warhol, der Mitbegründer der Pop-Art, dessen Porträt Marilyn Monroe zum Status einer Pop-Ikone verhalf? Bei allen genannten Malern sind sich Fachkreise und Laien einig: Es handelt sich zweifelsfrei um Künstler. Niemand käme auf die Idee, ihr Können oder ihre Leistungen infrage zu stellen. Was aber unterscheidet sie von anderen Malenden, die diesen Titel nicht für sich beanspruchen können? Was genau macht einen Künstler aus?

„Er ist eben ein Künstlertyp.“ Ein oft gehörter Satz. Eine Mischung aus Bewunderung und Entschuldigung, aus der man nicht ganz klug wird. Ein Satz, der vieles offen lässt, anderes ausschließt, aber mit Sicherheit bestimmte Vorstellungen in Ihnen weckt. Natürlich gibt es nicht den Künstler, ebenso wenig wie es den Pfarrer, den Lehrer oder den Arzt gibt, und doch scheinen sich gewisse Eigenschaften, Erwartungen und Ansprüche unter dem Begriff Künstler zu subsumieren.

Sie sind gefragt: Mit welchen positiven oder negativen Eigenschaften charakterisieren Sie den „Künstlertyp“?

Antwort: Wie wär’s mit: außergewöhnlich, genial, begabt, verrückt, voller Ideen, ein Könner, ein Einzelgänger, ein Individualist, ein Außenseiter, schräg, würde ihm meine Buchhaltung nicht anvertrauen etc.?

Die wohl früheste Beschreibung von Künstlern findet sich im 2. Buch Moses im Alten Testament der Bibel. Verfasst im 5. Jahrhundert v. Chr. nimmt das Zeugnis Bezug auf die Erbauung der Stiftshütte, des transportablen Heiligtums der Israeliten.

Hintergrund zum Thema: Die Geschichte berichtet, wie Gott die beiden Künstler Bezalel und Oholiab mit den Arbeiten für das Heiligtum betraut. Dabei geht es um mehr als um die Erteilung eines Auftrages an zwei Begabte. Es ist von göttlicher Inspiration der beiden Beauftragten die Rede, die sich nicht nur auf die auszuführende Arbeit, sondern auch auf die Anleitung weiterer Helfer erstreckt. Von Bezalel wird gesagt, Gott habe ihn mit seinem Geist erfüllt, ihm Können und Umsicht gegeben und ihn zu jeder künstlerischen Tätigkeit befähigt. So könne er Bilder und Gegenstände entwerfen (Idee) und sie in Gold, Silber oder Bronze ausführen, Edelsteine schneiden und fassen und Holz kunstvoll bearbeiten (Fertigkeit), und er sei auch in der Lage, andere zu solchen Arbeiten anzuleiten (Vermittlung). Welche Bedeutung dieser künstlerischen Tätigkeit zukommt, zeigt sich in der umfangreichen Beschreibung, die fünf Kapitel (von vierzig) des ganzen Buches einnimmt. Immer wieder werden dabei die Namen der Künstler genannt und ihr Werk – das im eigentlichen Sinne ein Gesamtkunstwerk ist – bis ins Detail beschrieben. Die Geschichte endet mit dem Segen Mose – also einer Einweihung, in deren Verlauf die Künstler aber nicht mehr genannt werden.8

Bereits in diesem frühen Text werden gewisse Voraussetzungen des Künstlerseins genannt. So etwa die Aufteilung künstlerischer Tätigkeit in die drei wichtigen Bereiche, Planung/​Idee, Ausführung/​Fertigkeit und Anweisung/​Vermittlung an Dritte. Unabdingbare Grundvoraussetzung für dieses Tun aber ist hier die göttliche Inspiration. Erst durch sie wurden Bezalel und Oholiab zur Ausführung des Auftrages befähigt. Nach Abschluss der Arbeiten verliert die Geschichte dann jegliches Interesse an den Künstlern. Bei der Einweihung des Kunstwerks sind bereits andere „Fachkräfte“ am Werk, während der Kult alleine der Verherrlichung Gottes gilt.

Erstaunlicherweise pflegte auch die griechische Antike, ausgerechnet jene Epoche also, die wegen ihrer künstlerischen Produktivität jahrhundertelang verehrt und als Maßstab künstlerischen Schaffens betrachtet wurde, einen sehr prosaischen Umgang mit „ihren“ Künstlern. Zwar galten sie als inspirierte Ausführende einer von Gott gegebenen Idee, aber ihnen selbst wurde kaum Ehre zuteil. Im Gegenteil: Der griechische Philosoph Platon (4./​5. Jh. v. Chr.) vergleicht sie mit Banausen, Schiffsbauern und Handwerkern. Der römische Philosoph Seneca (1. Jh. n. Chr.) berichtet: „Die Götterbilder verehrt man, man betet sie an und opfert ihnen, aber die Bildhauer, die sie verfertigt haben, verachtet man.“9 Diesen abwertenden Zeugnissen stehen freilich zahlreiche Anekdoten gegenüber, die von der Meisterschaft gewisser Maler berichten und von ihrer Wertschätzung durch die jeweiligen Herrscher. Eine Geschichte, die von Plinius d. Ä. (1. Jh. n. Chr.) überliefert ist, bringt beide Aspekte des Künstlertums zum Ausdruck, sowohl die Wertschätzung als auch die soziale Kluft, die zwischen Herrscher und Künstler bestand.

Die Anekdote zum Thema: Als Alexander [der Große] veranlasst hatte, dass eine von ihm ganz besonders geliebte Nebenfrau, Pankaspe, wegen ihrer Schönheit von Apelles gemalt werde, und dabei beobachtete, dass dieser, indem er gehorchte, selbst in Liebe entbrannte, gab er sie ihm zum Geschenk – groß durch seine Selbstbeherrschung und durch diese Tat nicht weniger bedeutend als durch irgendeinen Sieg. Denn er hat sich selbst besiegt und schenkte nicht nur seine Lagergenossin, sondern auch seine Neigung dem Künstler, wobei er sich nicht einmal durch Rücksicht auf seine Geliebte abhalten ließ, die erst einem König angehört hatte und nun einem Maler gehören sollte.10

Nicht viel besser erging es den Künstlern des Mittelalters. Kunstwerke entstanden damals meist im Kollektiv einer Werkstatt, einer klösterlichen Schreibstube oder einer Bauhütte, die für eine Kathedrale tätig war. Der Künstler war ein begabter Handwerker oder Mönch, der überwiegend im Auftrag der Kirche arbeitete und weitgehend anonym blieb. Erst gegen Ende des Mittelalters wuchs das Bedürfnis einzelner Ausführender, ihr Werk zu signieren oder sich in Form eines Porträts darin zu verewigen. Zu diesen frühesten signierten Kunstwerken, die uns überliefert sind, zählt der Klosterneuburger Altar des Nikolaus von Verdun.


Abb. 5: Nikolaus von Verdun Samson kämpft mit dem Löwen 1181, Email und Goldschmiedearbeit (eine der 51 Bildplatten des Verduner Altars im Stift Klosterneuburg bei Wien)

Hintergrund zum Bild: Der unter dem Namen Nikolaus von Verdun bekannte Goldschmied und Emailkünstler schuf 1181 51 Emailbilder, in denen er Darstellungen des Alten Testaments solchen aus dem Neuen gegenüberstellte. Signiert ist das Werk mit den lateinischen Worten QVOD NICOLAVS OPVS VIRDVNENSIS FABRICAVIT (was Nikolaus von Verdun herstellte).

Erst in der Renaissance erfuhr die Stellung des Künstlers eine grundlegende Änderung. Leonardo da Vinci war Maler, Bildhauer, Architekt, Kunsttheoretiker, Anatom, Ingenieur und Erfinder; Albrecht Dürer Maler, Grafiker, Mathematiker und Kunsttheoretiker. Beide waren also Maler und Wissenschafter und verbanden ihr „Handwerk“ mit theoretischen Erkenntnissen. Sie betrachteten die Malerei nicht mehr als handwerkliche Fertigkeit, sondern betrieben sie als Wissenschaft. Dadurch gewannen sie und ihre Kunst nicht nur ein neues Selbstverständnis, sondern auch an gesellschaftlichem Ansehen.

 

Schon eine Generation später kennzeichnete den Maler, Bildhauer und Architekten Michelangelo Buonarroti (1475 – 1564) eine ganz andere Persönlichkeit. Mit seinem ausgeprägten Willen und seiner schöpferischen Kraft, seiner technischen Meisterschaft und dem eigenwilligen Temperament verkörperte er den Künstler-„Typ“ schlechthin. Er war, was man postum auch gerne als Genie bezeichnet, ein Exzentriker im Sinne eines das Normale überragenden Individuums. Als solches schwankte er zwischen Melancholie und Inspiration, Leiden und Schöpferkraft, als einer, der sein Leben ganz der Kunst und die Kunst Gott widmete.


Abb. 6: Michelangelo Buonarroti Die Erschaffung Adams (Detail aus dem Deckenfresko), 1508 – 1512 Vatikan, Sixtinische Kapelle

Auch der Norden hatte seine überragenden Meister: Allen voran Peter Paul Rubens und Rembrandt van Rijn. Während der eine weltmännisch von sich sagte, er erachte die ganze Welt als seine Heimat11 (in einer Zeit, als man darunter noch vorwiegend Europa verstand), und nicht nur sein malerisches, sondern auch sein diplomatisches Können in den Dienst der spanischen Krone stellte12, fühlte sich der andere zeitlebens den Armen und Ausgestoßenen verbunden. Während der eine seine Doppelrolle geschäftstüchtig auszunutzen verstand, sah sich der andere am Lebensende mit dem finanziellen Ruin konfrontiert. Während die Kunst von Rubens durch Licht und Farbe besticht, zeichnet sich die Malerei Rembrandts durch dramatisches Hell und Dunkel aus. Eines aber hatten die beiden gemeinsam: In ihren Ateliers gaben sie ihr Wissen an viele Schüler weiter, denn die Lehrtätigkeit war ein wichtiger Bestandteil ihres Künstlerberufes. Diese wurde allerdings erst im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts mit der Gründung von Kunstschulen und Akademien zu einem lukrativen und prestigeträchtigen Amt.

Ab dem 18. Jahrhundert schlüpfte der Künstler vermehrt in eine neue Rolle. Maler wie William Hogarth (1697 – 1764), der Spanier Francisco de Goya (1746 – 1828), die Franzosen Honoré Daumier (1808 – 1879) und Gustave Courbet (1819 – 1877) wurden zu eigentlichen Gesellschaftskritikern, indem sie in ihren Werken Missstände aufzeigten.

Hintergrund zum Bild: Nachdem seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die englische Bevölkerung ermutigt worden war, Gin zu brennen und zu verkaufen, um so die Kornpreise und die Exporte in die Kolonien hochzuhalten, zeigten sich ein Jahrhundert später die negativen Auswirkungen im eigenen Lande. Sozialer Abstieg, Verzweiflung und Tod vieler waren die Folgen. Hogarth prangerte mit seinem Kupferstich die desolaten Zustände an und stellte ihnen in einer zweiten Illustration, der Beer Lane, die Alternative eines prosperierenden, auf Bierproduktion gegründeten Alltags gegenüber (vgl. auch Kapitel Genremalerei).


Abb. 7: William Hogarth Gin Lane

Solche und ähnliche Bilder entstanden immer häufiger aus dem Mitteilungsbedürfnis der Maler, das mehr und mehr zur treibenden Kraft ihres Schaffens wurde. Während sich der Künstler allmählich von seinen traditionellen Auftraggebern und Mäzenen emanzipierte, gewannen künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit die Oberhand über Kunstfertigkeit und naturalistische Darstellung. Ein Prozess, der nicht selten auf Kosten sozialer Anerkennung ging. So zeugen die zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts entstehenden „Ismen“, wie Impressionismus oder Symbolismus, von jenem Aufbruch in der Malerei, der von der Gesellschaft vorerst mehrheitlich nicht verstanden wurde und Künstler ins gesellschaftliche Abseits manövrierte. Viele führten deshalb mehr oder weniger freiwillig ein Leben als Bohemiens. Dieses Außenseitertum ging vermehrt mit einer dezidiert antibürgerlichen Haltung einher. Der unverstandene Künstler, der an sich und der Welt leidet, der um seiner Kunst willen Entbehrung und Krankheit auf sich nimmt, der geradezu zum Märtyrer wird, wurde bald zum Inbegriff wahren Künstlertums. Gerade dieses Leben außerhalb der Konventionen scheint den Künstler seit dem 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu charakterisieren. Künstlerische, oft auch moralische Freiheit und gesellschaftliche Ungebundenheit garantierten aber noch lange keine Unabhängigkeit. Denn im gleichen Maß, wie sich der Künstler von seinen Auftraggebern löste, wurde er vom freien Markt abhängig.

Notabene: Der Versuch einer Rückbindung des Künstlers an die Gesellschaft findet sich wieder in den totalitären Regimes des Kommunismus und des Nationalsozialismus. Ersterer betrachtete die Kunst, wie jede andere Arbeit auch, als einen Sektor der Planwirtschaft. Ziel war das Kunstwerk als Produkt einer rationalisierten Gemeinschaftsarbeit unter Einbezug der neuesten technischen Entwicklungen. Stilwille und individueller Ausdruck – die als künstlerische Eitelkeit verpönt waren – wurden dagegen für die Entfremdung zwischen der Kunst und dem Volk verantwortlich gemacht. Es galt das Primat des Inhalts über die Form. Beliebt waren in beiden Ideologien Arbeitersujets.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts schlossen sich einzelne Künstler vermehrt auch in Gruppen zusammen, um so einer Kunstauffassung mehr Gewicht zu verleihen. Die Brücke, Der Blaue Reiter, De Stijl, aber auch die Dada-Bewegung (vgl. Kapitel Die Moderne) machten ihr Kunstverständnis durch Gemeinschaftsausstellungen oder -veranstaltungen und theoretische Schriften publik. Eine solche Bewegung jüngeren Datums war in den 1960er-Jahren die Fluxus-Bewegung. Diese Kollektivkunstbewegung wollte den Kunstbetrieb anonymisieren und zugunsten des Kollektivs auf das Signieren der Werke verzichten. Hand in Hand mit der Forderung nach Entpersonalisierung des Künstlers ging der Wunsch, das Gefälle zwischen Künstler und Kunstpublikum zu überwinden. Bestrebungen dieser Art finden sich bis heute in der Kunstszene. Mittlerweile zeichnen zahlreiche Künstlerkollektive oder -paare gemeinschaftlich für ihre Werke (Christo und Jeanne Claude, Gilbert & George, Fischli/​Weiss). Nicht selten sind sie auch selber nicht mehr Ausführende ihrer Kunst, sondern lediglich Ideengeber, Konzepter oder, um einen Begriff aus der Wirtschaft zu verwenden, Manager.13

Die Nähe von Kunst und Wirtschaft hat selbstverständlich auch ihre Wirkung auf die Künstlerlaufbahn. So scheint gegenwärtig der Karriereerfolg in erster Linie von der Marktnische oder vom Trend abzuhängen, die sich Kunstschaffende zunutze machen können. Das heißt, ob es ihnen gelingt, durch etwas ganz Neues oder durch die originelle Umsetzung einer bereits bestehenden Idee auf sich aufmerksam zu machen. Ist ein Künstler dann erst einmal etabliert, wird alles zum Kunstwerk, was den Weg ins Museum schafft oder seine Unterschrift trägt. Was so eine Signatur für eine Bedeutung haben kann, zeigt ein Tagebucheintrag von Andy Warhol vom 8. März 1981:

Die Anekdote zum Thema: „Wir frühstückten mit Joseph Beuys. Er bestand darauf, dass ich in sein Haus komme und mir sein Atelier anschaue. Ich sollte sehen, wie er lebt, mit ihm Tee trinken und Kuchen essen. Es war sehr nett. Er schenkte mir ein Kunstwerk, das aus zwei Flaschen mit Sprudelwasser bestand. Sie explodierten in meinem Koffer und zerstörten alles, was ich mithatte. Ich kann den Koffer nicht aufmachen, weil ich nicht weiß, ob es sich noch um ein Kunstwerk handelt oder nur um zerbrochene Flaschen. Wenn er nach New York kommt, muss ich ihn dazu bringen, den Koffer zu signieren, denn sonst ist er zu nichts mehr zu gebrauchen.“14

2|2 „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ (Kurt Tucholsky)

In diesem Abschnitt soll Kurt Tucholsky beim Wort genommen werden. Sagt ein Bild tatsächlich mehr als tausend Worte? Sie haben bereits erfahren, dass Kunst so alt ist wie die Menschheit. Man malte oder zeichnete an die Wände von Höhlen, schnitzte in Holz oder Knochen oder errichtete Monumente für rituelle Zwecke, wie etwa die berühmte Anlage von Stonehenge in England. Auch wenn sich die Forschung über die genaue Bestimmung der Anlage nicht einig ist, so war sie doch unbestritten ein Monument von überragender Bedeutung. Das belegt die Tatsache, dass Stonehenge über mehrere Jahrtausende benutzt und erweitert wurde, von der Jungsteinzeit bis in die Bronzezeit.

Noch bevor sich die Menschheit einer Schrift bedienen konnte, kommunizierte sie also durch Bilder. Bei jedem einzelnen Menschen ist das nicht anders: Bevor ein Kind lesen und schreiben lernt, zeichnet es. Dabei sind in der frühkindlichen Zeichnung durchaus kulturübergreifende Aspekte ersichtlich, bevor sich kulturell bestimmte Entwicklungsschritte bemerkbar machen: angefangen beim Kritzeln, zum Zeichnen von Inhalten, bis hin zu planmäßig angelegten Bildern aus seiner Umwelt. In gewissem Sinne scheinen Bilder als einfachste Ausdrucksform des Menschen einer grundlegenden Verständigung zu dienen.


Abb. 8: Stonehenge bei Salisbury in Südengland: Ein Grabmal oder Denkmal oder doch eher eine Art Kalender, wie es bestimmte, zur Sonnenwende und Tagundnachtgleiche markierte Steine nahelegen?

Sie sind gefragt: Machen Sie die Probe aufs Exempel.

Was sehen Sie auf Abb. 9 rechts?


Abb. 9: Yan Li-pen, Cao Pi, Kaiser von Wei (eines von 13 Kaiserporträts des chinesischen Künstlers) 7. Jh. n. Chr., 51,3 x 53,1 cm Tinte und Farbe auf Seide Boston Museum of Fine Arts

Antwort: Auf den ersten Blick unterscheidet man drei Männer in Dreiviertelansicht. Der mittlere ist in einem größeren Maßstab dargestellt als die beiden anderen. Auch trägt er ein prächtiges Gewand mit reichem Faltenwurf und schönen Verzierungen. Der Größe und Kleidung nach muss er sehr bedeutend sein. In der rechten oberen Ecke erkennt man Schriftzeichen.

Hätten sie einen chinesischen Text vor sich, der einen wichtigen Mann und seine zwei Begleiter beschreibt, so würden die meisten Europäer im besten Fall die Schriftzeichen als chinesische identifizieren. In der bildnerischen Umsetzung dagegen erkennt man auf Anhieb Anzahl, Geschlecht und den gesellschaftlichen Rang der Dargestellten. Kunst vermag also etwas, das Geschriebenes nicht kann: über Sprachgrenzen hinweg Inhalte zu vermitteln.

Gerade im Mittelalter, einer Zeit also, in der die meisten Menschen weder lesen noch schreiben konnten, baute die Kirche auf die Wirksamkeit der bildlichen Darstellung. So entstanden viele Kunstwerke im Auftrag der Kirche, um den Gläubigen die biblischen Botschaften vor Augen zu führen beziehungsweise in Erinnerung zu rufen. Kreuzigungsszenen beispielsweise sollten ihnen die Leiden Christi vergegenwärtigen, während Darstellungen des Jüngsten Gerichts auf die Vergänglichkeit und die Wichtigkeit eines sündenfreien Lebens hinwiesen. Beide Motive waren beliebte Themen für die plastische Ausgestaltung von Kirchenportalen. Diese Eingangsbereiche waren – und sind bis heute – zentral gelegene, von Passanten gut frequentierte, weithin sichtbare Orte. Heute würde man sagen: prominente Werbeträger. Auf den Kirchplätzen fanden zudem an gewissen Feiertagen Kirchmessen, also Märkte, statt, zu denen die Menschen von Stadt und Land herbeiströmten. Dies war der ideale Standort, um eine zentrale Botschaft der Kirche, wie jene des Jüngsten Gerichts, zu verkünden. Das Publikum wurde dadurch ermahnt, erinnert oder gar belehrt und reagierte im Idealfall mit Andacht, Ehrfurcht oder Erkenntnis.

Das Zitat zum Thema: Die Malerei sei ein offenes Buch, in dem sowohl Gelehrte als auch Ungebildete die Ereignisse der Heils- und Menschheitsgeschichte zu lesen vermöchten. „Von daher gebührt ihr der einzigartige Ruhm, universelle Sprache zu sein, (…) denn ihre Sprache wird nicht nur von den Angehörigen einer Nation verstanden, sondern von denen aller Nationen, weil ihre Schreibart italienisch, französisch, spanisch, deutsch, türkisch, griechisch, chinesisch, chaldäisch ist und auch alle anderen Sprachen des Universums mit einschließt: ein unvergleichlicher Vorzug dieser Kunst, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Bei einer derartigen Vielfalt also von Menschen, Nationen und Sprachen drückt sie sich mit nur einer einzigen Sprache aus!“15

 

Für den modernen Betrachter eines mittelalterlichen Kunstwerks mag nicht mehr unbedingt das religiöse Moment im Vordergrund stehen. Er kann sich aber auch heute noch an seiner Schönheit oder Aussagekraft erfreuen und, wenn er sich etwas Zeit nimmt, Erstaunliches entdecken. Nehmen wir beispielsweise das Westportal des Berner Münsters, so erkennen wir ohne große Vorkenntnisse: Das Bild zeigt eine Ansammlung von Menschen. Auf der linken Bildhälfte erscheinen sie wohlgeordnet, in farbigen oder weißen Kleidern. Ihre Gesichter sind nach oben gerichtet, einige haben die Hände gefaltet. Sie scheinen zu singen und zu beten. Die ganze linke Bildhälfte ist zudem reich vergoldet. Auf der rechten Seite überwiegen dagegen dunkle Farbtöne. Hier herrscht das Chaos: Die Menschen sind nackt oder nur spärlich bekleidet. Einige sind in wilden Verrenkungen dargestellt, von anderen sind nur einzelne Körperteile erkennbar. Die Gesichter dieser Gruppe grinsen oder haben einen gleichgültigen Ausdruck. Während auf der linken Bildseite ein goldenes Tor zu erkennen ist, dominiert auf der rechten ein Feuerschlund, aus dem einige leblose Menschengesichter und Monsterfratzen starren. Auf beiden Bildhälften befinden sich gekrönte Häupter, Angehörige der Geistlichkeit und sogar Kinder. Kein Zweifel: hier wird das Böse vom Guten getrennt. Der dominant vor die Szene gestellte Engel mit Schwert und Waage in der

Bildmitte unternimmt gleichsam die Teilung in Himmel und Hölle, quer durch alle Volksschichten. Eine wahrhaft schaurige Szene, die freilich in einer Zeit, die nicht so von Bildern überflutet war wie die unsrige, noch viel gewaltiger wirken musste.


Abb. 10: Erhart Küng, Jüngstes Gericht letztes Drittel 15. Jh. Tympanon des Hauptportales des Berner Münsters, Bern, Schweiz

Allein durch das Betrachten lässt sich also schon einiges aus dem Bild herauslesen. Selbst wenn wir die Hauptfiguren nicht identifizieren können, sich uns der Symbolgehalt nicht völlig erschließt, wir die biblische Quelle nicht genau kennen, so verstehen wir die Hauptbotschaft: die Trennung von Gut und Böse.

Nachdem wir nun je ein Bild aus einer uns nicht mehr vertrauten Zeit und eines aus einer uns fremden Kultur betrachtet haben, stellen wir fest: Wir haben von der bildlichen Botschaft mehr verstanden, als wenn wir sie als mittelhochdeutschen bzw. chinesischen Text vorgesetzt bekommen hätten.