Syltmond

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Kapitel 3

Das letzte Stück von der Bushaltestelle bis zu dem Haus ging er zu Fuß. Er brauchte die Bewegung, außerdem konnte er unterwegs seine Gedanken ordnen. Der Nebel hielt sich nach wie vor zäh, sodass man keine 50 Meter weit sehen konnte, den Weg aber hätte er selbst mit verbundenen Augen gefunden. Als er sein Ziel erreicht hatte, zögerte er kurz und sah sich um. Ringsherum war niemand zu erblicken. Dann atmete er tief durch, straffte die Schultern und drückte schließlich beherzt die Türklinke nach unten. Wie eh und je war die Haustür nicht verschlossen, sondern ließ sich ohne Weiteres öffnen. Drinnen roch es genauso wie damals. Auch die Einrichtung hatte sich kaum verändert, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die alten Dielen unter seinen Füßen knarrten bei jedem seiner Schritte.

»Hallo? Jemand zu Hause?«, rief er in die Stille, erhielt jedoch keine Antwort. Es herrschte absolute Ruhe bis auf das gleichmäßige Geräusch der alten Standuhr, deren Pendel unermüdlich im Takt schlug. An der Garderobe hing eine dunkelgrüne Jacke, der man deutlich ansehen konnte, dass sie ihrem Besitzer seit langer Zeit ein treuer Begleiter sein musste. Er ging die Treppe hinauf. Vor einer verschlossenen Zimmertür blieb er stehen, dann öffnete er sie. Die Luft in dem Raum roch muffig, als wäre seit ewigen Zeiten nicht gelüftet worden. Sein Blick fiel zunächst auf das große Bett, auf dem eine glatt gezogene Tagesdecke lag, als hätte heute Morgen jemand das Bett frisch gemacht. Er sah sich weiter in dem Zimmer um und hatte das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf, von denen er sich gewünscht hätte, sie für immer aus seiner Erinnerung zu löschen. Ein Geräusch aus dem Erdgeschoss ließ ihn aufhorchen. Es waren Schritte, gefolgt von einer leisen weiblichen Stimme. Als er sie erkannte, entspannte er sich und machte sich auf den Weg nach unten. Auf einer der letzten Stufen blieb er abrupt stehen, denn am Fuße der Treppe stand ein imposanter Schäferhund und fixierte ihn neugierig.

»Na, wer bist du denn?«, sprach er das Tier an.

»Isco, komm her! Futter!«, hörte er zeitgleich aus der Küche rufen. Gleich darauf näherten sich abermals Schritte. »Da steckst du, was …« Augenblicklich blieb sie wie angewurzelt stehen. »Sönke!«, hauchte sie und fasste sich mit der Hand an den Hals.

Er nickte. Zögerlich näherte sie sich ihm und betrachtete ihn, als stehe ein Gespenst vor ihr. In ihren Augen standen Tränen. Zaghaft berührte sie ihn am Arm, als müsse sie prüfen, ob nicht alles bloß ein Traum wäre.

»Ich kann es kaum glauben, dass du es wirklich bist.«

»Moin, Mutter. Ja, es ist lange her«, erwiderte er und bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle.

»Ich habe nicht gewusst, dass du heute kommen würdest«, räumte sie ein.

»Das wusste niemand. Ich will nur ein paar Sachen holen, dann bin ich verschwunden«, unterbrach er sie, und sein Ton klang barscher als beabsichtigt.

»Warum willst du wieder gehen?« Verständnislos sah sie ihren Sohn an.

»Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn ich bleiben würde.« Er nahm die letzten drei Stufen und stand nun unmittelbar vor ihr. Der Hund schnupperte an seinen Hosenbeinen, während er ihm den Kopf kraulte.

»Sonderbar, er ist Fremden gegenüber sonst nicht so zutraulich.« Im selben Moment, da sie die Worte aussprach, bemerkte sie die unglücklich gewählte Formulierung und versuchte, sie umgehend zu korrigieren. »Ich meine Menschen, die er nicht kennt.«

»Ich verstehe schon. Ein sehr schönes Tier. Hast du ihn schon länger?«

»Seit einem knappen Jahr. Früher hatten wir immer Hunde auf dem Hof, es war an der Zeit.«

»Ich dachte, Rieke hätte eine Tierhaarallergie?« Auf seine Frage erhielt er lediglich ein müdes Achselzucken.

»Bitte bleib, Sönke. Meinetwegen musst du nicht gehen. Falls es mit deinem Vater zu tun haben sollte, brauchst du dir keine Gedanken zu machen.« Er legte fragend seine Stirn in Falten. »Er ist tot.«

»Seit wann?« Die Nachricht überraschte ihn nicht sonderlich, da sein Vater seit Langem gesundheitliche Probleme hatte.

»Seit zwei Monaten. Ich weiß, ich hätte dich informieren müssen, aber ich wusste nicht, wie«, gestand sie.

Seine Miene wirkte wie versteinert. »Da, wo ich herkomme, gibt es sogar Telefon.« Der gleichermaßen zynische wie anklagende Ton in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Es tut mir sehr leid, Sönke«, sagte sie leise und senkte schuldbewusst den Kopf. »Dein Vater hat dich sehr geliebt.«

»Seltsame Art, das zu zeigen. Wo ist Ole?«, erkundigte sich Sönke und richtete seinen Blick durch das Fenster nach draußen in die Hofeinfahrt.

»Dein Bruder ist heute früh auf das Festland gefahren, um sich mit einem potenziellen Abnehmer für die Schafwolle zu treffen. Seine Frau begleitet ihn.« Als sie sah, wie ihr Sohn die Augenbrauen nach oben zog, fügte sie erklärend hinzu: »Friederike und er haben im vergangenen Jahr geheiratet.«

»Ich merke, während meiner Abwesenheit hat sich eine Menge verändert. Wie gesagt, ich wollte nur schnell ein paar Sachen von mir abholen, sofern sie nicht längst entsorgt wurden. Dann werde ich euch nicht länger mit meiner Anwesenheit belästigen.«

»Aber Junge, natürlich habe ich all deine Sachen aufgehoben. Bitte, Sönke, gehe nicht gleich wieder weg, es gibt so viel zu sagen«, bat sie ihn und legte ihre Hand auf seinen Unterarm.

»Nicht jetzt, Mutter. Ein anderes Mal vielleicht. Ich brauche Zeit«, entgegnete er, wobei seine Gesichtszüge für den Bruchteil einer Sekunde Milde ausstrahlten, bevor sie abermals zu Stein wurden.

»Dann komm wenigstens heute Abend zum Essen, es gibt Grünkohl so wie früher. Den mochtest du immer gern.«

»Nichts ist mehr wie früher, Mutter.«

»Bitte, Sönke! Mir zuliebe.« Sie sah ihn flehend an und hätte sich am liebsten fest an ihn geklammert.

»Ich kann es nicht versprechen.«

»Wo willst du jetzt hin? Hast du eine Bleibe?«

»Mach dir um mich keine Sorgen, ich komme zurecht«, beruhigte er sie und löste sich von ihr. Er hatte vorhin mit seinem alten Freund Lorenz telefoniert, der ihm eine Unterkunft organisieren wollte. Für die kommende Nacht hatte er sich ein Zimmer in einer günstigen Pension gemietet. Dort kannte man ihn nicht, und niemand stellte unnötige Fragen.

Kapitel 4

»Nick? Bist du soweit? Wir müssen los!«

»Komme schon!«, tönte seine Stimme aus dem Obergeschoss, gefolgt von dem Knarren der alten, hölzernen Stufen, als Nick die Treppe herunterkam.

»Dein Daddy ist heute nicht der Schnellste«, sagte ich zu unserem kleinen Sohn Christopher, während ich ihm seine Mütze aufsetzte und anschließend den Reißverschluss seines Anoraks hochzog.

»Also, ich wäre startklar«, bestätigte Nick hinter mir und schlüpfte in seine Jacke.

»Dann kann es ja endlich losgehen. Nein, Pepper, du kannst nicht mitkommen. Pass schön auf unser Haus auf«, sagte ich zu unserem Labradormischling, der mich mit seinen treuen Augen erwartungsvoll ansah. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen und sah zu Nick.

»Nein, Anna, er bleibt hier. Ich dachte, wir waren uns einig, dass dort kein Ort für einen Hund ist«, erstickte er umgehend meine Zweifel im Keim.

»Da hörst du, was Herrchen gesagt hat, Pepper. Wir sind bald zurück«, tröstete ich ihn, streichelte ihm über den Kopf und reichte ihm zum Abschied einen Hundekeks, den er nahm und damit zufrieden abschob. Nicks Mundwinkel zuckten belustigt, als ich zu ihm sah.

»Was ist?«

»Ach, nichts«, erwiderte er und schloss hinter uns ab.

Auf unserer Fahrt begegneten wir Horden von Menschen, die zu Fuß dem Feuerplatz am Morsumkliff entgegenströmten.

»Hier ist ja der Teufel los«, brummte Nick mehr zu sich selbst und passierte eine Gruppe Personen, die einen voll beladenen Bollerwagen hinter sich herzogen.

»Solange alle gut gelaunt und friedlich bleiben, ist es doch in Ordnung.« Ich schenkte ihm einen Seitenblick.

»Hoffen wir es.«

»Oh nein, ich glaube, wir müssen umdrehen«, stellte ich fest, als der Parkplatz in Sichtweite kam.

»Warum? Hast du etwas vergessen? Pepper geht es gut, er kennt das Alleinsein.«

Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, erklang ein fröhliches »Peppa Hause!« aus dem Kindersitz auf der Rückbank, von dem aus sich Christopher zu Wort meldete.

»Nein, beim Biikebrennen sind Hunde fehl am Platz, das sehe ich genauso wie du. Ich habe vergessen, Christophers Kopfhörer einzupacken. Die laute Musik des Fanfarenzuges ist zu laut für junge Ohren.«

»Entspann dich, Sweety. Sie liegen seit gestern im Kofferraum.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Du bist ein wahrer Schatz!«, sagte ich, lehnte mich zu ihm rüber und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange, als ein lautes Hupen ertönte. Gleich darauf riss der Fahrer vor uns die Wagentür auf, lehnte sich halb aus dem Auto und brüllte dem Fahrzeug vor ihm wütend etwas hinterher.

»Die Schlacht um die Parkplätze ist in vollem Gang. Steigt schon mal aus, ich parke vorne an der Straße und komme dann nach«, entschied Nick beim Anblick des überfüllten Parkplatzes.

Kurz darauf sah ich Nick hinterher, wie er wendete und den Weg ein ganzes Stück zurückfuhr, wo er den Wagen auf dem seitlichen Grasstreifen abstellen wollte. Während ich wartete, zogen immer mehr Menschen an uns vorbei, und ich hatte das Gefühl, als würde der Strom kein Ende nehmen.

»Moin, ihr beiden!« Meine Freundin Britta mit ihrem Mann Jan tauchte plötzlich neben uns auf.

»Moin, Britta! Hallo, Jan! Ich habe euch gar nicht kommen sehen.«

»Wir standen dort hinten. Wo ist Nick?«

 

»Er kommt gleich nach, er parkt den Wagen an der Straße, hier war es ihm zu voll«, erklärte ich.

»Dieses Mal ist wirklich viel los.« Sie ließ ihren Blick über die Menschenansammlung schweifen.

»Auf jeden Fall ist es gehörig kalt heute.« Jan setzte seine Mütze auf und zog dicke Handschuhe über die Hände. »Wie gemacht fürs Biikebrennen, da schmeckt und wärmt der Glühwein wenigstens ordentlich«, feixte er.

»Und erst der Grünkohl im Anschluss«, ergänzte Nick.

»Daddy!«, krähte Christopher und streckte seine kleinen Ärmchen nach seinem Vater aus, der ihn sogleich auf den Arm nahm.

»Hey, Nick! Da bin ich ganz bei dir. Allein bei dem Gedanken bekomme ich Hunger«, bestätigte er mit einem Lachen. Dann wanderte sein Blick zum Himmel. »Ich glaube, wir bekommen heute noch Schnee.«

»Was du nicht sagst. Bist du neuerdings unter die Meteorologen gegangen oder schmerzt die alte Kriegsverletzung?«, erkundigte sich Britta mit einem Augenzwinkern.

»Sehr witzig. Nein, das spüre ich.«

»Soso, das ist ja höchst interessant, mein Wettergott«, erwiderte Britta belustigt und hakte sich bei ihm unter.

»Mach dich nur lustig über mich. Laut meiner WetterApp zieht ein Niederschlagsgebiet direkt auf uns zu. Hier, überzeuge dich selbst, wenn du mir nicht glaubst!« Er zog den Handschuh aus und wischte über das Display seines Smartphones, bevor er es demonstrativ in die Runde hielt.

»Na, lassen wir uns überraschen. Wo bleiben eigentlich Uwe und Tina? Sie wollten sich mit uns treffen, aber ich kann sie nirgends entdecken.« Suchend sah ich mich auf dem überfüllten Platz nach unseren Freunden um.

»Sie werden sicher jeden Augenblick kommen. Sieh dir die Autoschlange an, die sich den schmalen Weg entlang wälzt. Höchstwahrscheinlich stecken sie mittendrin«, vermutete Nick, als sein Handy klingelte.

»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte er mit Blick auf das Display und hielt sich das Gerät ans Ohr. Während er zuhörte, zog er die Augenbrauen zusammen, sodass sich zwei senkrechte Falten in seine Stirn gruben. »Ich bin unterwegs, bis gleich!« Mit diesen Worten war das Gespräch beendet.

»Sag schon, was ist los!«, erkundigte sich Jan, dessen Augen neugierig aufblitzten.

»Das war Uwe. Offenbar gibt es ein Problem auf dem Feuerplatz.«

»Ein Problem?«, wiederholte ich und versuchte, in Nicks Gesicht zu lesen.

»Lass mich raten: Die Jungs von der Feuerwehr haben dem Glühwein bereits im Vorfeld den Garaus gemacht und es gibt keinen Nachschub. Richtig?«, scherzte Jan.

»Nein, leider nicht«, entgegnete Nick, dem offensichtlich alles andere als zum Scherzen zumute war. »Die Feuerwehr hat einen anonymen Hinweis erhalten«, fuhr er stattdessen mit ernster Miene fort.

»Ein anonymer Hinweis? Nun rück raus mit der Sprache und spann uns nicht länger auf die Folter!« Britta sah ihn erwartungsvoll an.

»Uwe hat vage Andeutungen gemacht, dass mit dem aufgeschichteten Haufen etwas nicht stimmt. Genaueres weiß ich wirklich nicht, aber ich treffe mich gleich mit ihm vor Ort.«

»Wir kommen mit«, entschied Britta kurzerhand.

»Nein.« Nick schüttelte vehement den Kopf. »Ich gehe allein. Wenn wir wissen, was los ist, und grünes Licht geben, kommt ihr mit dem Fackelzug hinterher. Wir treffen uns bei den Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr am Glühweinstand.« Er gab mir einen Kuss, übergab mir Christopher und bahnte sich den Weg durch die dicht gedrängte Menschenmenge.

»Pass auf dich auf!«, rief ich ihm nach, was jedoch vom allgemeinen Stimmengewirr verschluckt wurde.

»Was stimmt mit dem Feuerhaufen nicht?«, überlegte Britta laut vor sich hin.

»Das weiß ich nicht, aber Nicks Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wird es sich nicht um eine Lappalie handeln.«

»Das klärt sich bestimmt. Ich hoffe nur, dass sich das Ganze nicht allzu sehr verzögert, mir ist nämlich verdammt kalt.« Britta rieb trotz Handschuhen demonstrativ die Hände gegeneinander und trat von einem Fuß auf den anderen. »Wo ist Jan geblieben? Er war eben noch hier.«

»Er hat einen Bekannten entdeckt.« Ich deutete nach rechts, wo sich Jan ein paar Meter von uns entfernt angeregt mit einem Mann in einer abgewetzten Wachsjacke unterhielt.

»Ach, das ist Kai! Kai Paulsen, der Weltenbummler. Den habe ich ewig nicht gesehen«, zeigte sich Britta beim Anblick des Gesprächspartners ihres Mannes hocherfreut.

»Weltenbummler?«

Britta grinste. »Ich nenne ihn so, weil er beinahe überall auf der Welt gewesen ist. Ein echter Weltenbummler eben. Erst vor Kurzem ist er zurück nach Sylt gekommen. Kai ist ein alter Schulfreund von Jan und hat mehrere Jahre im Ausland gearbeitet, unter anderem in den USA, Südamerika und Indien. Er ist Softwareentwickler oder etwas in der Art. Ganz genau habe ich es nicht verstanden. Jedenfalls war er neulich bei uns und hat eine Menge Geschichten erzählt. Er führt mit Sicherheit ein aufregendes Leben, aber für mich wäre das nichts. Außerdem bin ich mit meinem Leben äußerst zufrieden, auch ohne um den gesamten Erdball getingelt zu sein. Wir leben auf Sylt, was will man mehr! Oder was meinst du? Anna?«

»Was?«

»Hörst du mir eigentlich zu?«

»Entschuldige, Britta, ich war gerade mit meinen Gedanken woanders. Was sagtest du?«

»Vergiss es!«

»Nun sei nicht eingeschnappt.«

»Bin ich nicht. War nicht so wichtig«, wiegelte sie ab. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie eine Strähne aus ihrem Sichtfeld streichen, dabei legte sie leicht den Kopf in den Nacken. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie beleidigt war.

»Eben ist ein Rettungswagen zum Feuerplatz gefahren«, begründete ich meine vorübergehende Ablenkung. »Vielleicht ist etwas passiert?«

»Das will ich nicht hoffen!«

Mittlerweile war es nach 18 Uhr, und alle Anwesenden warteten voller Ungeduld darauf, dass sich der Fackelzug endlich in Bewegung setzte. Obendrein wurde mir trotz warmer Kleidung zusehends kälter und Christopher langweilig. Er machte seinen Unmut deutlich, indem er zu nörgeln begann und ständig an meiner Jacke zupfte. Von Nick hatte ich seit seinem Weggang nichts gehört. Nahezu unbemerkt hatte sich die Dunkelheit über die Insel gelegt.

»Ich hoffe, es geht bald los, bevor ich vollkommen steif gefroren bin«, sagte ich an Britta gewandt, deren Gesicht beinahe vollständig von ihrer dicken Fellkapuze verschluckt wurde. Lediglich ihre blauen Augen blitzten munter hervor.

»Dein Flehen wurde erhört. Da drüben werden die ersten Fackeln entzündet. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es losgeht«, bemerkte sie und zauberte ein Feuerzeug aus ihrer Jackentasche hervor. »So, dann wollen wir mal. Gib mir deine Fackel!«

Die Flamme griff gierig nach der mit einer brennbaren Flüssigkeit getränkten Fackel, die umgehend mit hellem Lichtschein zu brennen begann. In kürzester Zeit befanden wir uns inmitten eines Lichtermeeres aus orange-gelben, unruhig zappelnden Feuerpunkten. Seit Tagen wurden auf der Insel in den meisten Geschäften Fackeln verkauft, oder man erhielt sie als kostenlose Zugabe beim Einkaufen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr, in dem bis zum letzten Moment nicht feststand, ob die Biiken aufgrund des stürmischen Windes überhaupt stattfinden konnten, herrschte heute fast Windstille. Nun gab der Anführer des Musikzuges das Signal zum Aufbruch. Ein Trommelwirbel erklang, und gleich darauf setzte sich der lange Fackelzug, bestehend aus Einheimischen und Gästen, in Richtung des Feuerplatzes am Morsumkliff mit Trommeln und Trompeten in Bewegung. Der Marsch, begleitet von der Musik und den vielen Lichtern, bescherte mir regelmäßig eine Gänsehaut. Seitdem ich meinen Lebensmittelpunkt nach Sylt verlegt hatte, verstand ich erst die Leidenschaft für das Ereignis, mit dem die Menschen in Nordfriesland diesem Brauchtum begegneten, und wollte es selbst nicht mehr missen. Diese tief verwurzelte Tradition, um die sich zahlreiche Geschichten ranken, symbolisiert nicht nur das Ende des eisigen Winters, der mithilfe der Feuer vertrieben werden soll, sondern steht für die nordfriesische Heimatliebe und das ehrliche Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Einheimischen. Im Jahre 2014 erhielt dieser Brauch sogar einen Platz im nationalen Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Unter die Einheimischen mischte sich von Jahr zu Jahr eine stetig steigende Anzahl an Gästen, die eigens zum 21. Februar anreisten, um den Feuern beizuwohnen.

Nach wenigen Minuten Fußmarsch erreichten wir den Feuerplatz und positionierten uns vor dem gigantischen Berg aus aufgeschichteten Tannenbäumen, Gestrüpp und Stroh. Etwas weiter abseits standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr, davor war für den Glühweinverkauf ein langer Tresen aufgebaut worden, an dem mehrere Mitglieder der ortsansässigen Feuerwehr die Getränke verkauften. Wie im vergangenen Jahr wurde der Glühwein aus Mehrwegbechern mit Pfand ausgeschenkt, um einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten. Der eine oder andere Becher mit dem Logo der Feuerwehr landete mit Sicherheit als Erinnerungsstück im Gepäck einiger Touristen, vermutete ich.

»Ich möchte behaupten, der Berg ist im Vergleich zum letzten Jahr um einiges größer geworden«, bemerkte Jan beim Anblick des aufgeschichteten Stapels.

»Da! Mann oben!« Christopher zeigte aufgeregt mit dem Finger auf die menschengroße Stoffpuppe, die an einem langen Holzpfahl befestigt war. Sie war von den Kindern der Jugendfeuerwehr Morsum angefertigt worden.

»Ja, da baumelt der Pidder, mit Latzhose und Gummistiefeln«, erklärte Britta lachend und strich ihrem Patenkind über die Wange.

»Idda«, wiederholte Christopher und sah Britta mit großen Augen an.

»Genau, der Pidder. Gleich wird er lichterloh brennen und läutet das nahende Ende des Winters ein.«

»Genau genommen ist das ganz schön grausam, wenn du mich fragst«, überlegte ich beim Anblick der Strohpuppe. »Das erinnert an die Hexenverbrennungen im Mittelalter.«

»Das gehört zur Biike dazu. Obwohl …« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Solange es sich tatsächlich nur um eine Stoffpuppe handelt, ist alles gut. Man weiß ja nie!«

»Was willst du damit andeuten?«

Augenblicklich prustete Britta los. »Ach, Anna! Dich kann man wirklich leicht aus der Fassung bringen.«

»Haha, sehr lustig!«, gab ich beleidigt zurück.

»War nur Spaß! Da kommt übrigens Nick!«

Ich drehte mich um und erkannte meinen Mann in Begleitung von Uwe und Tina, wie sie sich den Weg durch das dichte Gedränge in unsere Richtung bahnten. Kaum hatten sie sich zu uns gesellt, ergriff der Bürgermeister das Wort, begrüßte die Anwesenden und hielt eine flammende Rede, in der er sich unter anderem den Themen Tourismus, Wohnsituation der Einheimischen und dem Bahnverkehr zwischen der Insel und dem Festland annahm. Allesamt echte Dauerbrenner. Zunächst wurde die Ansprache traditionell auf Söl’ring, dem Sylter Friesisch, und anschließend auf Hochdeutsch gehalten. Zu guter Letzt erklang der Ruf »Tjen di biiki ön«, und Dutzende von Fackeln flogen ins Geäst. Die zehrenden Flammen ließen die Biike in Windeseile in einem hellen Feuerschein erstrahlen, begleitet von Zischen und Knacken des trockenen Materials. Anschließend wurde die inoffizielle Sylter Hymne von Christian Peter Christiansen angestimmt, die ich – wie ich zu meiner Schande gestehen musste – noch immer nicht auswendig konnte und von einem kleinen Spickzettel ablesen musste.

Üüs Söl’ring Lön’

Üüs Söl’ring Lön’, d übest üüs helig;

Dü blefst üüs ain, dü best üüs Lek!

Din Wiis tö hual’en, sen wü welig;

Di Söl’ring Spraak auriit wü ek.

Wü bliiv me di ark Tir forbün’en,

Sa lung üs wü üp Warel’sen.

Uk diar jaar Uuning bütlön’fün’en,

Ja leng dach altert tö di hen.

Kumt Senenskiin,

Kum junk of lekelk Tiren,

Tö Söl’wü hual’Aural;

Wü bliiv truu Söl’ring Liren!

Unser Sylter Land

Unser Sylter Land, du bist uns heilig,

Du bist unser Eigen, du bist unser Glück!

Deine Art zu halten, sind wir willig.

Die Sylter Sprache vergessen wir nicht.

Wir bleiben mit dir jederzeit verbunden,

So lange wir auf der Welt sind.

Auch jene, die ihr Zuhause außerhalb fanden,

Sie sehnen sich doch immer zu dir hin.

Kommt Regen,

Kommt Sonnenschein,

Kommen dunkle oder glückliche Zeiten,

Zu Sylt halten wir immer,

 

Wir bleiben treue Sylter Leute.

»Ist etwas vorgefallen? Ich habe einen Rettungswagen gesehen«, wollte ich von Uwe wissen, als Nick und Jan sich auf den Weg gemacht hatten, um Glühwein zu besorgen.

»Angeblich sollte sich in dem Haufen ein Fass mit einer explosiven Flüssigkeit befinden, aber wir haben glücklicherweise nichts dergleichen gefunden.«

»Wisst ihr, von wem der Hinweis kam?«

»Nein, er kam anonym.« Uwe schüttelte den Kopf. »Sollte vermutlich ein Scherz sein, aber das weiß man im Vorfeld nicht. Vor einigen Jahren ist es zu einem ähnlichen Zwischenfall gekommen, als jemand ein Fass mit Altöl in den Stapel geschmuggelt hat, um es zu entsorgen. Damals wurde wie durch ein Wunder niemand ernsthaft verletzt, hat uns Barne Detlefsen eben erzählt.«

»Muss ich den kennen?«, wollte ich wissen.

»Barne war bis vor Kurzem Wehrführer bei der Morsumer Feuerwehr. Ein Feuerwehrmann mit Leib und Seele und immer zur Stelle, wenn Hilfe benötigt wird«, erklärte Uwe.

»Das klingt, als wäre er nicht mehr bei der Feuerwehr?«, hakte Britta nach.

»Doch, nur das Amt des Wehrführers hat er abgegeben. In den letzten beiden Jahren hat er es sehr schwer gehabt. Erst ist seine kleine Tochter tödlich verunglückt, dann ein knappes Jahr später ist seine Frau Finja unerwartet gestorben. Er hat lange getrauert und hatte sich zurückgezogen. Jetzt kehrt er langsam wieder zurück.«

Automatisch musste ich an Nick in dem Wissen um seine Vergangenheit denken und sah nachdenklich in das prasselnde Feuer, das eine enorme Wärme ausstrahlte. Die Menschen standen in dichten Trauben drum herum, tranken Glühwein, unterhielten sich und lachten ausgelassen. Die Kinder suchten die nähere Umgebung nach Stöcken und kleinen Zweigen ab, warfen sie in die Glut und beobachteten anschließend mit Begeisterung, wie die Flammen gierig danach griffen und sie zu brennen begannen, bevor sie verglühten und schließlich zu weißer Asche zerfielen.

»Achtung, hier kommt der Glühweinexpress!«, rief Jan froh gelaunt und hielt uns ein langes Brett unter die Nase, in das Aussparungen gesägt worden waren, in denen jeweils ein Becher mit der dampfend roten Flüssigkeit steckte. Eine äußerst originelle Idee, wie ich zugeben musste. Damit ließen sich mehrere Becher auf einmal transportieren, ohne sich dabei die Hände zu verbrennen.

»Das wurde aber auch Zeit. Ich brauche dringend etwas Wärmendes von innen. Ist auch einer mit Schuss dabei?«, verkündete Tina mit einem Augenzwinkern, ließ sich nicht lange bitten und griff nach einem Glühwein.

»Der hier ist für Christopher, das ist Kinderpunsch.« Uwe bückte sich zu ihm hinunter und verzog schlagartig schmerzhaft das Gesicht. »Nur ein bisschen Rückenschmerzen«, versicherte er, bevor ich nachfragen konnte.

»Zum Wohl!« Jan prostete in die Runde.

»Das tut gut! Es geht doch nichts über einen schön heißen und leckeren Glühwein.« Britta bekam einen verzückten Gesichtsausdruck und wärmte sich die Hände an dem Becher.

»Für meinen Geschmack ein bisschen zu süß«, befand Uwe mit skeptischer Miene.

»Seht mal! Täusche ich mich oder steht dort Doktor Luhrmaier?«, fragte ich und deutete auf einen Mann, der im hellen Scheinwerferlicht geduldig in der Schlange wartete.

Alle Köpfe folgten meinem Blick zum Glühweinausschank.

»Mal den Teufel nicht an die Wand«, brummte Uwe in seinen Bart.

»Tatsächlich, das ist er«, stellte Nick fest.

»Der hat mir gerade noch gefehlt.« Uwe trank auf den Schreck hin in einem Zug seinen Becher leer.

»Von wem sprecht ihr?«, mischte sich Jan ein.

»Doktor Luhrmaier ist der Rechtsmediziner, mit dem Nick und Uwe des Öfteren zusammenarbeiten«, setzte ich den Mann meiner Freundin in Kenntnis. »Was ihn wohl nach Sylt führt?«

»Solange er mich in Ruhe lässt, ist es mir egal.« Uwe erntete für diese Äußerung einen strafenden Blick seiner Frau.

»Sei doch nicht so unfreundlich. Worauf wartet ihr? Uwe? Nick? Wollt ihr euren Kollegen nicht begrüßen gehen?«, forderte Tina die beiden auf.

»Er ist kein Kollege, außerdem sind wir nicht im Dienst. Wahrscheinlich ist es ihm sogar lieber, wenn wir ihn in Ruhe lassen«, versuchte Uwe mit allen Mitteln, den Kelch an sich vorbeigehen zu lassen.

»Er ist offenbar in Begleitung. Kennt ihr die Frau an seiner Seite?«, stellte Britta interessiert fest.

»Vielleicht ist es seine Frau, und die beiden machen Urlaub auf der Insel«, nahm ich an.

»Luhrmaier ist nicht verheiratet«, erwiderte Uwe unwirsch.

»Dann ist es eben seine Freundin oder Lebensabschnittsgefährtin oder eine Bekannte«, spekulierte Tina und reckte den Hals, um besser sehen zu können.

»Bei der Frau handelt es sich um Ellen Seiler. Sie ist Anwältin und hat eine eigene Kanzlei in Westerland. Denkt man gar nicht, wenn man sie so sieht. Soll knochenhart sein, wenn es drauf ankommt. Habe ich jedenfalls gehört«, verkündete Jan zu unserer aller Überraschung und hob abwehrend die Hände.

»Was du nicht sagst! Erstaunlich, wen du alles kennst«, gab Britta spitz zurück.

Bevor Jan zu einer Erklärung ausholen konnte, sah Doktor Josef Luhrmaier zu uns herüber und hob zaghaft die Hand zur Begrüßung.

»Er hat uns gesehen«, stellte Tina fest und winkte zurück.

»Kein Wunder, so wie ihr dauernd in seine Richtung starrt«, knurrte Uwe missmutig und zog sich seine Mütze ein Stück tiefer ins Gesicht, als könne er sich auf diese Weise unsichtbar machen.

»Los, worauf wartet ihr? Geht rüber und sagt Hallo«, verlangte Tina, sehr zum Unmut ihres Mannes.

»Das wäre ihm sicher nicht recht, wo er doch in Begleitung ist. Am Ende vermasseln wir ihm sein Rendezvous.«

»Blödsinn, Uwe! Das ist unhöflich, ihn nicht zu begrüßen. Wenn ihr nicht geht, gehe ich.«

»Tina, bitte!«, versuchte Uwe vergeblich, seine Frau aufzuhalten, denn sie marschierte bereits mit forschen Schritten schnurstracks auf den Rechtsmediziner und dessen Begleitung zu.

»Zu spät«, bemerkte Britta mit einem süffisanten Grinsen. »Was hast du gegen ihn, Uwe?«

Dieser stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nichts, aber wenn er in meiner Nähe ist, macht er mich mit seiner zappeligen Art nervös. Er muss als Kind Espresso statt Muttermilch bekommen haben. Obendrein ist er ein furchtbarer Erbsenzähler und sofort beleidigt, wenn man wagt, seine Ergebnisse in Frage zu stellen.«

»Trotz allem ist er ein ausgezeichneter Mediziner und arbeitet präzise und schnell, was für unsere Arbeit stets von Nutzen war«, hielt Nick dagegen.

»Das will ich keineswegs in Frage stellen. Er ist trotzdem ein komischer Vogel«, stellte Uwe klar.

»Jeder Mensch hat eben seine Eigenheiten und …« Ich beendete den Satz nicht, da ich plötzlich von einem brennenden Schmerz an der Hand heimgesucht wurde. »Autsch!«

»Anna, was hast du?«, fragte Nick erschrocken.

»Irgendetwas hat meine Hand gestreift«, jammerte ich und besah die starke Rötung auf meinem linken Handrücken.

»Vermutlich hat dich jemand im Vorbeigehen mit einer brennenden Fackel erwischt!«, nahm Britta an und blickte sich suchend um, konnte den Verursacher jedoch nicht ausfindig machen. Dann wandte sie sich mir erneut zu. »Zeig mal, ist es sehr schlimm?« Sie knipste ihre mitgebrachte Taschenlampe an und beleuchtete die Stelle.

»Ich glaube nicht, aber es tut ziemlich weh«, erwiderte ich und verzog das Gesicht, während die anderen die Köpfe zusammensteckten und kritisch meine Verletzung im schmalen Lichtschein beäugten.

»Mama! Aua? Pusten?«, fragte Christopher.

»Ja, mein Schatz, das ist eine gute Idee«, erwiderte ich und pustete demonstrativ auf die Wunde.

»Da hat sich eine fiese Brandblase gebildet. Du solltest die Hand schnellstmöglich kühlen und mit einer Brandsalbe versorgen, damit sich die Wunde nicht entzündet und eine unschöne Narbe bildet«, meldete sich Jan zu Wort.

»Jan hat recht, Anna. Du solltest solch eine Verletzung nicht auf die leichte Schulter nehmen«, pflichtete Britta ihrem Mann umgehend bei.

»Nun macht bitte kein Drama daraus, die Hand ist ja noch dran«, war ich bemüht, die Angelegenheit herunterzuspielen.