Liljecronas Heimat

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Der gute Vater hatte sicher dasselbe auch zu der Pfarrfrau gesagt, sie aber hatte sich nicht abschrecken lassen. Sie sagte, wenn der Pfarrer den Branntweingenuß in seinem Hause ein für allemal abschaffen wollte, dann würde sie ihm gewiß beistimmen, da er nun aber doch Branntwein im Hause habe, sowohl für die Gäste als auch fürs Gesinde, könnte man ihn doch ebensowohl selbst herstellen, denn wenn man ihn zu Hause brenne, koste er nur die Hälfte. So sprach sie, und sie quengelte so lange darum, bis der Vater nachgab.

Als nun zum erstenmal Branntwein gebrannt werden sollte, entlehnte die Pfarrfrau von einem Nachbarhof einen Kessel mitsamt Hut und Rohr, und sobald er da war, machte sie sich an die Arbeit.

Während das Maischen und Gären im Gang war, ließ sie der Braumagd keinen Augenblick Ruhe, und als destilliert wurde, stand sie die ganze Zeit selbst im Brauhaus drüben. Nein, sicher hätte ihr niemand vorwerfen können, sie schone sich in irgendeiner Weise!

Der Vater dagegen saß die ganze Zeit, solange die Branntweinbrennerei dauerte, in seinem Zimmer und tat seiner Frau nicht ein einziges Mal die Ehre an, den Kopf zur Brauhaustür hineinzustecken und um eine Probe von dem Getränke zu bitten.

Daran merkte die Pfarrfrau wohl, daß er noch immer gegen die Sache war. Und über etwas anderes war sie auch nicht im Zweifel: Sobald nur ein einziger Mensch auf dem Hofe nur im geringsten beduselt wäre, würde er sofort kommen und das ganze Verfahren einstellen und verbieten. Deshalb wachte die Mutter mit Argusaugen darüber, daß keines von denen, die ihr halfen, zu oft eine Kostprobe bekam; und da alle Leute einen Riesenrespekt vor ihr hatten, gelang es ihr auch, die Ordnung die ganze Zeit über aufrechtzuerhalten.

Nur ein einziges kleines Mißgeschick ereignete sich.

Die Mutter war mit der Klärung schon ganz fertig und hatte nichts mehr zu tun als den Branntwein in große Flaschen und Krüge zu füllen. Außerdem wollte sie auch noch den ‘Nachtropfen’ versorgen; da er aber noch warm war, füllte sie ihn in einen Eimer und stellte diesen zum Abkühlen vor die Brauhaustüre.

Gleich darauf kam der lange Bengt am Brauhaus vorüber. Es zog ihn mit aller Macht zu dem Eimer hin; aber sofort stand die Mutter unter der Tür.

‘Lieber Bengt’, sagte sie. ‘Ihr werdet doch davon nicht trinken wollen? Das ist nicht für Menschen, es ist nur das Spülicht.’

Der lange Bengt machte ein einfältiges Gesicht und ging weiter, indem er sagte, er sei eben auf dem Wege nach dem Stall, und es sei doch wohl nichts Strafbares, wenn er am Brauhaus vorbeigehe.

Danach ging er auch richtig in den Stall und holte eine Heugabel, die die Stallmagd von ihm entlehnt hatte. Diese Heugabel wollte er in die Scheune zurücktragen. Als nun aber der lange Bengt das Gittertor zum Wirtschaftshofe öffnete, traf er mit dem großen Bock zusammen, der, die Nase zwischen den Gitterstäben, nach dem Brauhaus hinüber schnupperte. Es war ein schöner Tag, alle Ziegen waren im Freien, und die ganze Schar hielt sich in der Nähe eines Reisighaufens auf, nur der große Bock stand an dem Gatter.

Aber es ist ein wahres Rätsel, wie der lange Bengt so ungeschickt sein konnte! Er machte das Gittertor gerade so weit auf, daß der große Bock sich neben ihm durchdrängen konnte, und danach gab er sich gar keine Mühe, ihn wieder zurückzutreiben, was er doch eigentlich hätte tun müssen, sondern er sah nur nach, ob die andern Türen alle geschlossen waren, damit der große Bock nicht in Vaters Obstgarten und nicht auf der Mutter Kohlbeete kommen könnte. Wahrscheinlich dachte er, es könnte nichts schaden, wenn der Bock ein bißchen auf dem Rasen im Hof weidete.

Und nun sollst du hören! Der große Bock würdigte das Gras nicht eines einzigen Blickes, sondern sprang in kurzem Trab geradeswegs auf das Brauhaus zu. Und er kam so leicht und elegant dahergetrippelt, daß die Mutter ihn gar nicht hörte, obgleich die Brauhaustür angelehnt war.

Dieser Bock war von jeher ein richtiger Schlauberger gewesen. Beim Saufen schlapperte er weder wie ein Hund, noch schlürfte er wie ein Pferd, sondern er trank so leise, daß niemand merkte, was er tat. Auf diese Weise hatte er manche Kanne Milch hinter dem Rücken der Viehmagd ausgetrunken, und jetzt gelang es ihm, den ganzen ‘Nachtropfen’ in aller Ruhe auszutrinken, ohne daß die Pfarrfrau auch nur eine Ahnung davon hatte, was geschah.

Als er jedoch den ganzen Eimer ausgetrunken hatte, fing er nach seiner Gewohnheit zu meckern an; denn wenn er einen losen Streich ausgeführt hatte, dann wollte er auch sehen, wie ärgerlich und aufgebracht die andern über das, was er angestellt hatte, waren, sonst machte es ihm keine Freude. So meckerte er also lustig drauflos, und im nächsten Augenblick stand die Mutter auf der Schwelle und sah, daß der Eimer leer war.

Da ergriff sie eine lange schwarze Backschaufel, die immer in der Ecke hinter der Brauhaustür stand, und wollte den großen Bock damit züchtigen. Aber nach der großartigen Bewirtung, die diesem zuteil geworden war, meinte er gewiß, die Mutter könnte nicht im Ernst böse sein, und so stellte er sich auf die Hinterbeine vor ihr auf und begann zu tanzen. Nun war ja der große Bock ein altes großes Tier, und es war nicht immer so angenehm, wenn man mit ihm zusammentraf. Die Mutter schlug mit der Backschaufel nach ihm, und wer den großen Bock kannte, mußte nun glauben, die Sache würde kein gutes Ende nehmen. Auch eilten nun alle, der Vater und Schneewittchen mitsamt den Mägden, eiligst aus dem Wohnhaus herbei, um der Pfarrfrau beizustehen. Der große Bock tat ihr indes nichts zuleide, sondern tanzte nur vor ihr auf und ab, und da machte der Vater den andern ein Zeichen, sie sollten zurückbleiben und sich nicht in das Spiel mischen.

Zugleich rief er der Mutter zu, sie solle sich rasch ins Brauhaus zurückziehen, solange der Bock noch in seiner guten Laune sei.

Aber die Pfarrfrau kümmerte sich nicht um diese Warnung, und schließlich gelang es ihr, dem Bock einen recht harten, empfindlichen Schlag zu versetzen. Da ließ er sich auf alle viere nieder; aber damit war nicht viel gewonnen, denn im nächsten Augenblick sprang er mit einem Satz ins Brauhaus hinein und benützte da seine Hörner dazu, so viele von den mit Branntwein gefüllten Flaschen und Krügen umzustoßen, als er nur erreichen konnte. Und kaum war die Mutter hinter ihm hereingekommen, als er auch schon wieder hinauswitschte.

Und der große Bock war schlau! Er wußte recht wohl, nun hatte die Mutter mit dem Aufrichten aller der umgestoßenen Gefäße sehr viel zu tun, da war er eine Weile sicher vor ihr und konnte in aller Ruhe seiner guten Laune die Zügel schießen lassen. Zuerst blieb er vor der Brauhaustür ein paar Sekunden lang ruhig stehen und schaute sich um, dann schritt er langsam und ernst die Anhöhe zum Wohnhaus hinauf.

Der große Bock hatte meistens ein würdiges und feierliches Benehmen, und das kam ihm wohl zustatten, denn man hätte von einem so stattlichen Tier ja nie geglaubt, daß es je daran dächte, einen losen Streich auszuhecken. Aber noch nie hatte man ihn so großartig gesehen wie jetzt. Er hob einen Fuß um den andern langsam hoch auf, trug den Kopf stolz zurückgelegt, streckte die Nase in die Luft und protzte gleichsam mit seinem langen Bart und seinen großen Hörnern. Es blinkte allerdings etwas unruhig in seinen Augen, und der hintere Teil seines Körpers schlenkerte hin und her.

Der Vater glaubte, der Bock sei auf dem Wege zu seinen Ziegen im Wirtschaftshof; deshalb rief er Schneewittchen und den andern Frauenzimmern zu, sie sollten dem Bock aus dem Wege gehen und ihn nicht scheuchen. Wenn aber der große Bock diese Absicht gehabt hatte, dann änderte er sie jedenfalls, denn als er an der Freitreppe des Wohnhauses vorüberkam, sah er, daß der, der zuletzt herausgeeilt war, um ihn fortzujagen, die Haustür offen stehen gelassen hatte. Und war er eben noch ganz ernsthaft dahingeschritten, so machte er jetzt plötzlich einen Satz und sprang die Stufen hinauf geradeswegs ins Haus hinein.

Sofort stürzte die ganze Schar der Mägde hinter ihm drein, um ihn hinauszujagen. Da floh der Bock die Bodentreppe hinauf; als sie ihn aber auch auf den Bodenraum verfolgten, sprang er zum Bodenfenster hinaus. Und als er diesen Sprung machte, gab er sich gar nicht erst Mühe, zu sehen, wie weit es von da auf die Erde hinunterging.

Aber dieses Tier hatte immer Glück, und so war es auch gerade an das Fenster gekommen, das direkt über dem Dach des Hauseingangs war.

Es war ein kleines, steil abfallendes Dach mit einem ganz schmalen Giebelspieß in der Mitte, und auf diesen kam der Bock in seinem Sprung zu stehen. Er konnte von da keinen Schritt machen, ohne herunterzufallen, weder nach rechts noch nach links, und ebenso unmöglich schien es auch, daß er wieder auf den Bodenraum zurückgelangen könnte.

‘Rasch hinein mit dir!’ rief der Pfarrer und drohte ihm mit dem Stock.

Aber der Bock blieb da stehen, wo er stand. Die Mägde waren voller Schrecken darüber, wie es nun gehen würde, wieder aus dem Haus herausgelaufen. Aber der große Bock sah ganz vergnügt aus; er drehte nur den Kopf und zwinkerte ihnen zu, und man konnte wohl sehen, wie sehr er sich über ihr Entsetzen freute.

Indessen hatte die Pfarrfrau ihre Flaschen wieder aufgerichtet und trat nun, mit der Backschaufel in der Hand, heraus, um den Bock zu vertreiben. Aber als dieser sie sah, zwinkerte er nur noch lustiger als zuvor; in diesem Augenblick hatte er nicht den geringsten Respekt vor ihr.

Sie aber schwang die Backschaufel noch einmal gegen den Bock; in demselben Augenblick zog dieser die Beine an, flog wie ein Pfeil durch die Luft und landete dicht vor der Pfarrfrau auf dem Boden.

Kaum war er unten angelangt, als er sich auch schon auf die Hinterbeine aufrichtete und der Mutter einen Stoß versetzte, daß sie umfiel. Darauf sprang er nach dem Wirtschaftshof davon, war mit einem Satz übers Gatter weg und tanzte dann seinen Ziegen noch mehrere Minuten lang etwas vor.

 

Aber im ersten Augenblick dachte niemand mehr an den Bock. Alle rannten herbei, der Mutter aufzuhelfen. Und wer von allen zuerst zur Stelle war, das war Schneewittchen. Aber die Mutter stieß sie heftig zurück und rief:

‘Verstelle dich nur nicht! Ich weiß wohl, wie du gegen mich gesinnt bist, denn ich sehe, daß du dich über meinen Unfall freust! Ja, lache nur, solange du kannst, ich weiß jemand, der dich zum Weinen bringen wird!’

Und es ist allerdings wahr, Schneewittchen sah nicht so schrecklich ängstlich aus. Sie hatte ja über den Bock lachen müssen, und da war ihr Gesicht noch nicht wieder ganz ernsthaft geworden.

Aber die Worte ihrer Stiefmutter genügten, sie für den ganzen übrigen Tag betrübt zu machen.

Und du, meine liebe Pflegeschwester, wirst wohl verstehen, daß dieses dem Schneewittchen nicht gerade neuen Mut einflößte. Nein, das tat ein Traum, den sie in der folgenden Nacht hatte.

Da sah Schneewittchen wieder den Bock vor sich, wie er da droben auf dem Dachfirst des Hauseingangs stand; aber jetzt war es kein wirklicher Bock mehr, sondern alle Freudigkeit und aller Humor, die von jeher in diesem Hause gewohnt hatten, waren da auf das Dach hinausgestiegen und machten sich über die Stiefmutter lustig. Und der Bock in Schneewittchens Traum konnte sprechen, und er sagte zu der Stiefmutter, es werde ihr nicht gelingen, dieses Haus zu einem kalten, harten Gefängnis zu machen, wie sie es gerne möchte, denn es sei zuviel von dem alten Geiste da, der leiste ihr Widerstand.

Und als Schneewittchen dann erwachte, dachte sie, das sei ganz wahr, und nun war es ihr, als sei sie nicht mehr so ganz allein in ihrem Kampf gegen die Stiefmutter.«

»Und du kannst dich darauf verlassen, sobald ich Schneewittchen wieder besuche, werde ich dem großen Bock ein paar Brotlaibe mitbringen!« sagte Anna Brogren, als die Pfarrerstochter eine Pause machte.

»Ach, ich fürchte, dieser Schmaus kommt zu spät«, versetzte die Pfarrerstochter; »denn im letzten Brief, den ich von Schneewittchen bekam, berichtete sie gerade, die Stiefmutter habe den großen Bock schlachten lassen.«

»Ei, sieh, ei, sieh!« sagte die Pröpstin nachdenklich. »Aber tat denn Schneewittchens Vater gar nichts dagegen und ließ den Bock einfach schlachten? Ich sage dir, jetzt bekomme ich wirklich Angst, diese Stiefmutter werde Schneewittchen noch einmal etwas Böses antun.«

Aber da entgegnete die Pfarrerstochter rasch: »Ach nein, dem Schneewittchen tut sie wohl nichts zuleid; sie meint im Gegenteil, Schneewittchen denke an nichts anderes, als wie sie die Stiefmutter recht ärgern könnte.«

»Das müßte sie doch besser wissen.«

»Ach, es trifft sich auch immer so schlimm für Schneewittchen; und ich will dir gleich noch eine Geschichte erzählen, damit du siehst, wie unglücklich es Schneewittchen immer geht.«

»Ja, ich will die Geschichte bis zu Ende hören«, versetzte die Pröpstin; »aber ich sehe eben doch, daß Schneewittchen in Gefahr ist und nicht ihre Stiefmutter.«

»Du weißt doch,« fuhr die Pfarrerstochter fort, »daß Schneewittchens Vater selbst den ganzen Garten des Pfarrhofs angelegt hat. Ihm allein hatte man die Stachelbeeren und Johannisbeeren und die herrlichen Erdbeerländer und die Gewürzbeete sowie auch den Rosengarten auf der Westseite des Hauses zu verdanken.

Aber das prächtigste von allem waren doch die Apfelbäume. Der Vater hatte alle selbst gepflanzt und gepfropft, und weit und breit gab es gewiß keine so herrlichen Äpfel wie die des Pfarrgartens. Wenn Schneewittchen von diesen Äpfeln aß, meinte sie immer, sie seien aus lauter Sonnenschein und Sommerwärme bereitet.

So schöne Äpfel wie in diesem Sommer hatte Schneewittchen noch nie in ihres Vaters Garten gesehen. Ach, die herrlichen Paradiesäpfel, die Astrachaner und Goldparmänen, die Renetten und Winteräpfel! Die Bäume hingen zwar vielleicht nicht ganz so voll wie sonst, aber die Früchte waren darum um so schöner. Nicht ein einziger Apfel war wurmig; alle waren gleich groß und schön geformt. Alle Astrachaner leuchteten durchsichtig hell, alle Goldparmänen glänzten goldgelb, alle Paradiesäpfel schimmerten dunkel grünlichrot, und alle Winteräpfel hatten glühend rote Bäckchen.

Ja, wirklich, die Äpfel waren so wundervoll, daß man in der ganzen Gegend davon sprach. Groß und schön glänzten sie bis auf die Straße hinaus, und die Vorübergehenden kamen oft in den Hof herein und baten, ob sie nicht in den Garten hineingehen und die Äpfel ansehen dürften.

Aber nun muß ich etwas sagen. So schön und gut die Äpfel auch waren, so hatten die Pfarrleute doch auch ihren Ärger damit, und in den andern Jahren war immer eine große Menge von den Äpfeln des Pfarrgartens gestohlen worden. In diesem Jahr jedoch kam kaum ein einziger Apfel weg, denn die Pfarrfrau hielt unermüdlich Wache darüber. Von Ende August an, wo die Äpfel allmählich reif wurden, war sie immer draußen im Obstgarten, und sie wachte auch jede Nacht dort.

Ja, sie tat sogar noch mehr als das. Sie hütete die Äpfel auch vor den Hausbewohnern. Die Gattertüren wurden mit Vorlegschlössern versehen, und die Schlüssel dazu verwahrte die Pfarrfrau in ihrer eigenen Tasche. Wenn sie dann einen recht süßen schimmernden Astrachaner fand, brach sie ihn wohl für den Vater; aber weder Großmutter Beata noch Schneewittchen bekamen je auch nur einen einzigen Apfel zu kosten.

Ach, in den andern Jahren hatte man zwar keine so schönen Äpfel, aber mehr Freude davon gehabt! Da war niemand auf den Hof gekommen, der seine Lust nach einem Apfel nicht hätte stillen dürfen. Und man gab nicht nur den eigenen Hausbewohnern, sondern wer nur zu Besuch kam, durfte die Äpfel versuchen, und die meisten erhielten auch ein Bündelchen mit auf den Weg.

Aber nicht einmal dann bekam irgend jemand einen davon zu essen, als die Äpfel von den Bäumen gebrochen wurden, denn diese Arbeit besorgte die Pfarrfrau ganz allein. Sie zog Handschuhe an und brach jeden einzelnen Apfel sehr fürsorglich von seinem Ast, damit keiner angestoßen oder verletzt wurde.

Schneewittchen kam es freilich ein wenig bitter vor, daß sie gar keine von den Äpfeln bekam, während sie noch die erste Sommersüße hatten; aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, wie schön es dann sein würde, wenn sie im Spätjahr und den ganzen Winter hindurch Äpfel zu essen hätten. Die Stiefmutter verstand sie auch sicher so gut aufzubewahren, daß sie nicht faulten.

Aber die Mutter hatte andere Pläne mit den Äpfeln, das mußte Schneewittchen bald merken. Nein, nicht im Pfarrhaus sollte all das schöne Obst gegessen werden, daran dachte die Pfarrfrau keinen Augenblick.

Der Pfarrer hätte gewiß auch seine Äpfel gerne daheim behalten wie in den andern Jahren. Aber die Pfarrfrau hatte ausgerechnet, daß man Geld damit verdienen könnte, und so wollte sie die ganze schöne Obsternte auf dem Brobyer Markt verkaufen.

Und es geschah, wie die Mutter es wollte. Mit zwei schwerbeladenen Wagen voll Äpfel nebst einem Knecht und einer Magd, die ihr beim Verkauf helfen sollten, fuhr sie zu Markte.

Als sie auf dem Marktplatz angekommen war, stellte sie einen Tisch auf, öffnete die Kisten und Fässer und legte die Äpfel zum Verkauf aus. Nein, sie fürchtete sich wirklich vor keiner Arbeit! Grobe Handschuhe an den Händen und einen großen Schal umgebunden, stand sie hinter dem Tisch und bot die Äpfel feil. Sie konnte sich einfach nicht dazu entschließen, jemand anders mit dieser Sache zu betrauen. Und ich muß sagen, die Ware konnte sich sehen lassen, und die Pfarrfrau konnte stolz darauf sein. Wundervoll im herrlichsten Rot und Grün und Gelb und Weiß leuchtete es von ihrem Stand, und die Leute strömten schon der Augenweide wegen herbei. Auf den großen Brobyer Markt kamen immer die Gärtner von den sörmländischen Schlössern und von den großen Herrenhöfen von Nässet; aber keiner von allen konnte so schönes Obst auslegen wie die Pfarrfrau.

Sobald sie alles zum Verkauf bereit hatte, eilte auch gleich eine Menge Leute herbei und fragte nach dem Preise der Äpfel. Aber da verlangte sie einen so hohen Preis, daß die Leute ganz bestürzt wurden und nicht kaufen wollten.

Und siehe, schließlich mußte die Pfarrfrau wirklich trotz ihrer wundervollen Auslage sehen, wie die Marktbesucher ihre Einkäufe bei ihren Nachbarn machten! Aber sie gab nicht nach und setzte ihren Preis nicht um einen einzigen Heller herunter, ja, sie verlangte gerade doppelt soviel wie alle andern. Sie dachte wohl, später am Tage, wenn die Fremden ihr Obst verkauft hätten, würden ihre Äpfel schon an die Reihe kommen.

Vielleicht rechnete sie auch noch mit etwas anderem. Sie wußte wohl, wieviel Branntwein immer auf dem Brobyer Markt getrunken wurde, und daß mittags um zwölf Uhr kaum noch ein nüchterner Mann da zu finden war, und so meinte sie, die Bauersleute würden es am Nachmittag nicht mehr so genau mit dem Gelde nehmen.

Und es sah auch aus, als sollte Schneewittchens Stiefmutter recht behalten. Je später es wurde, desto mehr Leute versammelten sich um ihren Stand. In erster Linie alle Kinder, Jungen und Mädchen, die auf dem Markt waren. Diese standen um den Tisch herum, mit einem Finger im Mund, und schauten gar sehnsüchtig nach den Äpfeln hinüber, es hätte einem wirklich das Herz rühren können. Die Kinder hatten natürlich nichts, um zu kaufen, aber es standen auch Erwachsene herum, die ihre Augen nicht von dem schönen Obst abwenden konnten.

Immer wieder trat der eine oder der andere näher und fragte nach dem Preis. Aber die Pfarrfrau blieb dabei und verlangte ebensoviel wie am Morgen. Jetzt, wo alle andern Äpfel verkauft waren, wollte sie nicht abschlagen, denn sie war fest überzeugt, daß sie nun doch noch an die Reihe käme.

Schneewittchens Stiefmutter sah wohl, wie aller Gesichter um sie her vor Verlangen nach den Äpfeln glühten, und jeden Augenblick dachte sie: ‘Jetzt können sie nicht mehr widerstehen, es muß nur erst einer anfangen.’

Aber es währte länger und immer länger, und schließlich glaubte sie selbst, sie müsse am Ende mit ihren schönen Äpfeln wieder heimfahren.

Doch nun wollte sie einen letzten Versuch machen, und so trug sie der Magd auf, Fräulein Schneewittchen zu holen, die zwischen den Marktbuden umherging, um für alle daheim, die nicht mit auf den Jahrmarkt gedurft hatten, kleine Geschenke einzukaufen.

Als Schneewittchen zu ihrer Stiefmutter hinkam, sagte diese, Schneewittchen solle jetzt eine Weile ihre Stelle einnehmen und die Äpfel verkaufen; sie habe nun solange auf einem Fleck gestanden und ganz kalte Füße bekommen, sie müsse sich deshalb ein wenig Bewegung machen.

Ach, Schneewittchen war es außerordentlich zuwider, da auf dem Brobyer Markt verkaufen zu sollen! Aber sie wagte sich der Mutter nicht zu widersetzen. So zog sie denn deren Handschuhe an, band sich den Schal um und nahm den Platz hinter dem Tisch ein. Und nach vielen Ermahnungen, sich streng an den festgesetzten Preis zu halten, durchaus nicht mit sich handeln zu lassen und selbst keine Äpfel zu essen, ging die Stiefmutter ihres Wegs.

Aber wenn die Mutter gedacht hatte, die Leute würden von ihrer Stieftochter eher kaufen als von ihr, dann hatte sie sich verrechnet.

Das Fräulein mußte hinter ihrem Tisch stehen und ihre Äpfel bewachen, konnte jedoch nicht einen einzigen davon verkaufen. Es ging ihr genau wie der Mutter; der dichte Kreis von großen und kleinen Leuten verringerte sich zwar nicht, aber niemand kaufte.

Doch nun kamen zwei halbbetrunkene Bauernburschen mit ihren Mädchen am Arm daher und drängten sich durch den Haufen der Herumstehenden vor. Es war eine laute, ausgelassene Gesellschaft, die Burschen hatten Geld in der Tasche, mit dem sie klimperten, und sie waren in der richtigen Laune, etwas draufgehen zu lassen. Schneewittchen bekam zwar Angst vor ihnen und wäre am liebsten davongelaufen, blieb dann aber doch stehen, in der Hoffnung, nun endlich etwas zu verkaufen.

Die jungen Leute drängten sich auch ganz bis zum Tisch hin, und der vorderste fragte gar nicht nach dem Preis, sondern legte sofort seine große Faust auf einen Haufen der schönsten Äpfel. Zugleich sah er die Pfarrerstochter an und versuchte so nüchtern und bieder wie nur möglich auszusehen.

‘Woher sind denn diese Äpfel?’ fragte er.

Und die Pfarrerstochter antwortete, sie seien aus ihres Vaters Garten.

‘Ja, da bin ich schon oft gewesen, ich kenne Euren Vater und auch Euch recht wohl. Das ist ein guter Mann, Euer Vater.’

 

Schneewittchen erwiderte einige freundliche Worte, denn es gefiel ihr, daß der Bursche so gut von ihrem Vater sprach.

‘Ja, Ihr und Euer Vater seid alle beide gute Leute’, fuhr der Bursche fort. ‘Ja, Ihr seid so gut, daß Ihr es einem armen Burschen wohl gönnet, Eure Äpfel zu versuchen, ohne dafür zu bezahlen.’

Und ehe Schneewittchen recht begriff, was er im Schilde führte, hatte er eine Handvoll der schönen Äpfel ergriffen und war auf und davon gelaufen.

Und das Mädchen, das er am Arm gehabt hatte, packte auch rasch ein paar Äpfel und lief hinter ihm drein. Ganz ebenso machte es dann auch das nächste Paar.

Aber Schneewittchen war auf so etwas natürlich gar nicht gefaßt gewesen. Wie hätte sie sich das denken können! Sie war ganz außer sich, als diese Burschen und Mädel sich mit so vielen Äpfeln, für die sie kein Geld bekommen hatte, aus dem Staube machten. Im ersten Augenblick wollte sie ihnen nachlaufen, um ihnen die Äpfel wieder abzujagen; sie wagte es aber doch nicht, sondern schickte den Knecht und die Magd nach, die hinter ihr standen. Zugleich aber sah sie, daß der ganze Volkshaufen sich noch näher an den Tisch herandrängte.

‘Jetzt kaufen sie doch noch’, dachte sie, und ihr gesunkener Mut hob sich wieder.

Aber die und kaufen! Oh, kein Gedanke, sondern sie sprangen vor, packten so viele Äpfel, als sie konnten, und riefen zugleich, sie und ihr Vater seien ja so gut, da verlangten sie sicher nicht, daß arme Leute so ein paar Äpfel bezahlten. Und alle die kleinen Jungen, die sich den ganzen Tag lang an den Äpfeln fast blind gesehen hatten, rissen ihre Mützen herunter und füllten sie sich; und alle die kleinen Mädchen, denen vor lauter Begierde das Wasser im Munde zusammengelaufen war, stürzten auch vor und strichen sich die Äpfel ungezählt in ihre Schürzen.

Schneewittchen legte sich weit über die Äpfel vor, um sie mit ihrem Körper zu beschützen. Aber was half das? Sie weinte und bat und rief, sie machten sie unglücklich. Aber wer fragte danach? Es waren nicht nur kleine Buben und Mädel, die die Äpfel an sich rissen, sondern auch Erwachsene, und alle lachten vergnügt und hielten die ganze Sache nur für einen kleinen Jahrmarktsscherz. Und sooft wieder jemand einen Apfel packte, rief er ihr zu, sie und ihr Vater seien ja so gute Leute, daß sie ihnen wohl ein paar Äpfel gönnten.

Schneewittchen schlug um sich, und Schneewittchen rief nach Hilfe, aber die Äpfel waren verloren. Die Marktleute stülpten den Tisch um, wälzten die Kisten und Fässer herbei und rissen die Äpfel an sich. Es waren auch viele Raufbolde auf dem Markt, die sich nun mit in den Tumult mischten. Da gab es Streit und eine wilde Schlägerei, und Schneewittchen mußte sich zurückziehen und ihre Äpfel im Stich lassen, sonst wäre sie zertreten worden.

Gerade da kam die Mutter zurück und fand die Stieftochter ausgeplündert, verlassen und vor Zorn und Entsetzen laut weinend. Die Stiefmutter faßte sie am Arm und schüttelte sie. ‘Warte nur, bis wir heute abend nach Hause kommen,’ sagte sie, ‘da werde ich dich lehren, meine Äpfel zu verschenken!’

Und man konnte sich ja über den Ärger der Stiefmutter nicht wundern; aber Schneewittchen war es recht schwer, daß die Mutter glaubte, sie habe es mit Absicht getan.

Ach, war das eine schwere Heimfahrt vom Markte! Sie saßen miteinander im Wagen, der Vater, die Mutter und Schneewittchen. Im Anfang versuchte der Vater, die andern wie sonst freundlich zu unterhalten. Aber die Mutter saß stocksteif mit fest zusammengekniffenen Lippen in der Wagenecke und erwiderte kein Wort. Schneewittchen aber weinte nur immerfort. Der gute Vater konnte sich gar nicht einmal sosehr grämen; auch ergötzte er sich wohl ein wenig darüber, daß die Leute gerufen hatten, er sei gar so gut und gönne ihnen die Äpfel gewiß auch ohne Bezahlung. Außerdem versuchte er wohl auch, sich den Mut aufrechtzuerhalten, indem er alle Marktleute, an denen sie vorüberfuhren, anredete und sie fragte, ob sie ihre Kühe gut verkauft, was sie für ihre Schafe bekommen und ob sie nicht auch einige von seinen Äpfeln gesehen hätten.

Aber nach einiger Zeit wurde Vater sonderbar still; er wendete sich nach der Mutter um und sah sie lange unverwandt an. Dann starrte er wieder lange vor sich hin, und da sah er plötzlich alt und müde aus.

Wieder nach einer Weile merkte ich, daß Vater jetzt auch mich lange und betrübt ansah. Es war, als wolle er mir ganz bis auf den Grund meines Herzens sehen.

Dann sagte er plötzlich: ‘Du wirst deiner Mutter sehr ähnlich’, und er nahm meine Hand zwischen seine beiden und streichelte sie ganz sachte.

Es war, als wollte mich der gute Vater beruhigen und mich fröhlich machen. Und ich dachte: ‘Der Herr Vater versteht, daß ich es nicht mit Absicht getan habe; er weiß, daß ich nicht so bin.’

Er behielt meine Hand in der seinigen, bis wir zu Hause ankamen. Aber er beugte sich immer weiter vor, und als wir daheim waren, sank er ganz zusammen und machte keinen Versuch, auszusteigen, als Mutter und ich aufstanden. Ich glaubte, er sei tot.

Aber so schlimm war es doch nicht, obgleich es wohl nahe genug daran gewesen war.«

Hier machte die Pfarrerstochter eine Pause. Ihre Stimme bebte, und sie brauchte Zeit, sich zu beruhigen, ehe sie weitersprechen konnte.

»So, nun weißt du, wie es mir hier geht«, sagte sie dann. »Die Stiefmutter mag mit mir machen, was sie will, ich kann bei Vater nicht klagen, denn ich fürchte, der Schlag könnte ihn dann wieder treffen wie damals, als er vom Brobyer Markt nach Hause fuhr und an unseren Unfrieden dachte.«

»Aber sieht er es denn nicht selbst?«

»Das ist wohl möglich, aber er kann nichts mehr tun. Es sieht jetzt aus, als sei er wieder gesund, aber ich weiß wohl, wie schwach er ist. Niemals kann Vater wieder so werden, wie er an jenem Morgen war, als wir miteinander zu den Mähern auf den südlichen Anger hinausgingen.«

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