Gösta Berling

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Geliebt hast du, Kind, doch nimmermehr Sollst die Wonne der Liebe du kosten. Stürme der Leidenschaft schüttelten dich, Freu dich, o Seele, nun fandst du Ruh! Hebst nicht mehr die Schwingen zu himmlischer Wonn. Freu dich, o Seele, nun fandst du Ruh! Sinkst nicht hinab mehr in Schmerzensnacht, Ach, nimmermehr!

Geliebt hast du, Kind, doch nimmermehr Loht deine Seele in Flammenglut. Gleich einer Flur mit versengtem Gras Füllten dich Gluten eine flüchtige Stund! Erstickende Wolken aus Rauch, Wolken aus Feuer Scheuchten die Vöglein des Himmels, die schreiend entflohen. Kehrten sie heim doch! Du brennst nicht mehr, Kannst nicht mehr brennen!

Geliebt hast du, Kind, doch nimmermehr Sollst du hören der Liebe Stimme. Des Herzens Kräfte gleich müden Kindern, Auf der Schule harter Bank sie sitzen, Sich sehnend nach Freiheit und Spielen, Doch niemand rufet sie mehr! Sie sitzen wie der Wachtposten, den man vergessen, Niemand rufet sie mehr!

Kind, er ist fort nun Und mit ihm all Liebe und Liebeswonne, Er, den du liebtest, wie er dichs gelehrt Zu fliegen mit Flügeln im Himmelsraum. Er, den du liebtest, als hätt er dir gewiesen Den einzig sichren Platz in der überschwemmten Stadt: Er ging von dannen, er, der allein Die Tür deines Herzens zu öffnen verstand.

Um Eins nur will ich dich bitten, Geliebter: »Ach, wälze nimmer die Last des Hasses auf mich!« Das Schwächste von allem, was schwach, ists nicht ein Menschenherz? Wie könnt es leben unter der nagenden Pein, Daß einem andern zur Qual es gereicht?

O mein Geliebter, willst du mich töten, Da schaff dir keinen Dolch, kaufe kein Gift, keinen Strick. Laß mich nur wissen, daß du wünschst, ich entschwände Von der Erde blühender Flur, aus des Lebens Reich – Und ins Grab will ich sinken.

Du gabst mir des Lebens Leben. Du gabst mir die Liebe. Und du nimmst deine Gabe zurück. Ach, ich weiß es – Doch gib mir nicht Haß stattdessen! Ich liebe ja dennoch das Leben. O, denke daran! Doch ich weiß, daß des Hasses Last mich tötet.

Die junge Gräfin

Die junge Gräfin schläft bis um zehn Uhr des Morgens und will jeden Tag frisches Gebäck auf dem Frühstückstisch haben. Die junge Gräfin macht feine Stickereien und liest Gedichte. Auf Kochen und Weben versteht sie sich nicht. Die junge Gräfin ist ein verhätscheltes Kind.

Aber sie ist fröhlich und läßt ihre Heiterkeit auf alles und alle strahlen. Man verzeiht ihr gern den langen Morgenschlaf und das frische Gebäck, denn sie ist verschwenderisch in ihren Wohltaten gegen die Armen und freundlich gegen jedermann.

Der Vater der jungen Gräfin ist ein schwedischer Edelmann, der sein ganzes Leben lang in Italien gewohnt hat, weil das schöne Land und eine von seinen schönen Töchtern ihn dort gefesselt hat. Als Graf Henrik Dohna in Italien reiste, war er in dem Hause des Edelmanns gastlich aufgenommen worden und hatte mit den Töchtern Bekanntschaft gemacht und schließlich eine von ihnen als Gattin nach Schweden heimgeführt.

Sie, die stets Schwedisch gesprochen hat und so erzogen ist, daß sie alles liebt, was schwedisch ist, befindet sich sehr wohl hier oben im Bärenland. Sie schwingt sich so fröhlich im Reigen und nimmt so gern teil an allen Vergnügungen, die den langen Löfsee umkreisen, daß man glauben sollte, sie habe stets hier oben gelebt. Eins aber versteht sie nicht recht – Gräfin zu sein. Da ist nichts Steifes, keine herablassende Würde an dieser fröhlichen jungen Frau.

Besonders die alten Herren waren ganz entzückt von der jungen Gräfin. Es war ganz sonderbar, welch einen Stein sie bei ihnen im Brett hatte. Wenn sie sie auf einem Ball getroffen hatten, so konnte man sicher sein, daß sie alle, sowohl der Amtsrichter aus Munkerud wie der Probst in Bro und Melchior Sinclaire und der Hauptmann von Berga, hinterher ihren Frauen im tiefsten Vertrauen mitteilten, daß, wenn sie die junge Gräfin vor dreißig, vierzig Jahren getroffen hätten – so –

»Ja, damals war sie noch gar nicht geboren«, sagen dann die alten Frauen. Und das nächstemal, wenn sie die junge Gräfin sehen, necken sie sie damit, daß sie ihnen das Herz ihrer Männer raubt.

Die alten Frauen sehen sie mit einer gewissen Sorge an. Sie denken an die Gräfin Märta. Die war ebenso fröhlich und gut und geliebt, als sie zum erstenmal nach Borg kam; und aus ihr war eine eitle, genußsüchtige Kokette geworden, die jetzt an nichts weiter dachte, als wie sie sich am besten amüsieren könne.

»Hätte sie nur einen Mann, der sie zur Arbeit anhalten könnte!« sagen die alten Frauen.

»Wenn sie nur einen Webstuhl einzurichten verstände!« Denn das ist ein Trost gegen allen Kummer, das verschlingt alle Interessen, das ist die Rettung manch einer Frau gewesen.

Die junge Gräfin möchte gern eine tüchtige Hausfrau werden. Sie kennt nichts Schöneres, denn als glückliche Gattin in einem guten Heim zu leben; in den großen Gesellschaften setzt sie sich oft zu den Alten.

»Henrik möchte so gern, daß ich eine tüchtige Hausfrau würde«, sagte sie. »So wie seine eigene Mutter. Lehrt mich doch weben!«

Da seufzten die Alten zweimal tief auf; einmal über Graf Henrik, der glauben kann, daß seine Mutter eine tüchtige Hausfrau war, und dann über die Schwierigkeit, dies junge, unerfahrene Kind in so verwickelte Sachen einzuweihen. Fing man nur an, ihr die technischen Ausdrücke und die einzelnen Teile des Webstuhls zu nennen, so lief ihr schon alles rund im Kopf herum, geschweige denn, wenn man von »Gerstenkorn« und »Gansauge« und »Drillich« sprach.

Niemand, der die junge Gräfin sieht, kann umhin, sich darüber zu wundern, daß sie sich hat mit dem dummen Grafen Henrik verheiraten können.

Die Ärmsten, die dumm sind! Es ist hart für sie, wo sie auch sein mögen. Am schlimmsten aber ist es für den, der dumm ist und in Wermland wohnt.

Es waren schon viele Geschichten über Graf Henriks Dummheit im Umlauf, und doch war er erst Anfang der Zwanziger. Man erzählte sich, auf welche Weise er einstmals Anna Stjärnhök auf einer Schlittenfahrt unterhalten habe.

»Du bist schön, Anna!« sagte er.

»Ach, Unsinn, Henrik!«

»Du bist die Schönste in ganz Wermland!«

»Nein, das bin ich nicht.«

»Aber die Schönste hier auf der Schlittenpartie bist du doch.«

»Nein, Henrik, das bin ich auch nicht.«

»Ja, aber die Schönste hier im Schlitten bist du; das kannst du doch nicht leugnen!«

Nein, das konnte sie nicht, denn Graf Henrik ist nicht schön, er ist ebenso häßlich, wie er dumm ist. Man pflegt von ihm zu sagen, der Kopf, der auf seinen Schultern sitzt, habe sich mehrere hundert Jahre hindurch in der Familie vererbt; deswegen sei das Gehirn bei dem letzten Erben so abgenutzt. »Der Kopf ist bei seinem Vater und bei seinem Großvater in Gebrauch gewesen; woher sollte sonst wohl das Haar so dünn, das Kinn so spitz, sollten die Lippen so blutlos sein?«

Er ist stets von Spaßmachern umgeben, die ihn verleiten, Dummheiten zu sagen, die sie dann in verbesserter Auflage weiterverbreiten. Ein wahres Glück für ihn ist es, daß er nichts davon merkt. Er selber ist feierlich und würdevoll in seinem ganzen Auftreten; er kann es sich nicht vorstellen, daß andere nicht ebenso sein sollten. Die Würde ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, er bewegt sich gemessen, geht steif einher, dreht nie den Kopf herum, ohne daß sich nicht der ganze Körper mitdreht.

Aber die junge Gräfin hat ihn doch lieb, trotz seines Greisenkopfes. Sie ahnte ja nicht, als sie ihn da unten in Rom sah, daß er in seinem eigenen Lande von einer solchen Märtyrerglorie der Dummheit umgeben ist. Da unten hatte etwas von dem Glanz der Jugend über ihm gelegen, und sie waren unter höchst romantischen Umständen miteinander vereint worden. Man mußte nur die junge Gräfin erzählen hören, wie Graf Henrik sie entführt hatte. Mönche und Kardinäle waren rasend darüber, daß sie die Religion ihrer Mutter, in der sie aufgewachsen war, verlassen und zum Protestantismus übertreten wollte. Der ganze Pöbel war in Aufruhr, der Palast ihres Vaters war belagert worden. Henrik wurde von Banditen verfolgt, ihre Mutter und ihre Schwestern flehten sie an, diese Ehe aufzugeben. Ihr Vater aber war wütend, daß das italienische Pack ihm verbieten wollte, seine Tochter zu geben, wem er wolle. Er befahl Graf Henrik, sie zu entführen. Und dann, da es unmöglich für sie war, zu Hause getraut zu werden, schlichen sie und Henrik durch allerlei Hintergassen nach dem schwedischen Konsulat. Und nachdem sie dort ihrem katholischen Glauben entsagt und Protestantin geworden war, wurden sie sofort getraut und in einem mit ein paar feurigen Pferden bespannten geschlossenen Wagen gen Norden gesandt. »Zum Aufgebot blieb uns keine Zeit, das seht ihr wohl ein,« pflegte die junge Gräfin zu sagen, »und es war ja ungemütlich, auf dem Konsulatsbureau getraut zu werden, statt in einer unserer schönen Kirchen, aber sonst hätte Henrik mich nicht bekommen. Da unten sind sie alle so heißblütig, sowohl Papa als Mama und die Kardinäle und die Mönche, alle sind sie leicht erregbar. Deswegen mußte alles so heimlich vor sich gehen, denn wenn die Leute uns hätten wegschleichen sehen, würden sie uns wohl alle beide totgeschlagen haben, nur um meine Seele zu retten. Henrik hielten sie ja für einen Verlorenen.«

Aber die junge Gräfin hat ihren Mann lieb, auch nachdem sie in der Heimat ihr ruhigeres Leben auf Borg begonnen haben. Sie liebt bei ihm den Glanz des alten Namens und die berühmten Vorfahren. Es freut sie zu sehen, wie ihre Nähe sein steifes Wesen mildert, zu hören, wie seine Stimme weich wird, wenn er mit ihr spricht. Und außerdem hat er sie lieb und verhätschelt sie, und dann ist sie nun ja einmal mit ihm verheiratet. Die junge Gräfin kann es sich nicht anders denken, als daß eine verheiratete Frau ihren Mann liebhaben muß.

 

Gewissermaßen entspricht er auch ihrem Ideal von Männlichkeit. Er ist rechtschaffen und wahrheitsliebend. Er hat niemals ein gegebenes Wort gebrochen. Sie hält ihn für einen echten Edelmann.

Am achten März feiert der Amtmann Scharling seinen Geburtstag, und da wimmelt es von Gästen, die alle die Brobyer Hügel hinanziehen. Aus Osten und Westen kommen sie, Bekannte und Unbekannte, gebetene und ungebetene Gäste! Und alle sind sie willkommen. Da sind Speisen und Getränke genug für alle, und im Tanzsaal ist Platz für alle Tanzlustigen aus sieben Kirchensprengeln.

Die junge Gräfin kommt auch. Sie stellt sich überall ein, wo man Tanz und Lustbarkeit erwarten kann.

Aber sie ist nicht so fröhlich wie sonst, es ist, als habe sie eine Ahnung, daß jetzt die Reihe an sie kommt, von der wilden Jagd aus dem Märchen mit fortgerissen zu werden.

Sie hat unterwegs dagesessen und die untergehende Sonne betrachtet. Sie sank von einem Himmel herab, an dem sie keine Goldstreifen auf leichten Wolken hinterließ. Graubleiche Dämmerung mit jagenden, kalten Windstößen hing über der Gegend. Die junge Gräfin sah, wie Tag und Nacht miteinander kämpften und wie alles Lebende bei diesem Streit der Gewaltigen von Angst und Schrecken ergriffen wurde. Die Pferde jagten mit dem letzten Fuder dahin, um bald unter Dach zu kommen. Die Holzhauer eilten aus dem Walde heim, die Mädchen verließen die Wirtschaftsgebäude. Im Waldesdickicht heulten die wilden Tiere. Der Tag, der Menschen Lust und Freude, ward überwunden.

Die Farben verschwanden, das Licht erlosch. Kälte und Unschönheit, wohin sie blickte. Auch was sie gehofft, geliebt und gewirkt hatte, verhüllte sich vor ihrem geistigen Auge in das Grau der Dämmerung. Es war für sie wie für die ganze Natur die Stunde der Ermüdung, der Niederlage, der Ohnmacht. Sie dachte daran, daß ihr eigenes Herz, das jetzt in sprudelnder Freude das Dasein in Gold und Purpur hüllte, daß dies Herz vielleicht einmal seine Kraft, ihre Welt zu erleuchten, einbüßen würde.

»Ach, Ohnmacht, Ohnmacht meines eigenen Herzens!« sagte sie zu sich selber. »Du erstickende graue Dämmerung, du wirst einstmals auch in meiner Seele Herrscher werden! Da werde ich das Leben häßlich und grau erblicken, wie es vielleicht ist, da wird mein Haar ergrauen, mein Rücken sich krümmen, mein Gehirn erlahmen.«

In demselben Augenblick bog der Schlitten in den Hof des Amtmanns ein, und als die junge Gräfin aufschaute, fiel ihr Blick auf ein vergittertes Fenster in einem Seitengebäude, und dahinter gewahrte sie ein Gesicht mit ein paar zornigen Augen.

Dies Gesicht gehörte der Majorin von Ekeby, und die junge Frau fühlte, daß es nun mit ihrer Freude für heute Abend ein Ende hatte. Man kann wohl fröhlich sein, wenn man den Kummer nicht sieht und ihn nur als etwas ganz Entferntes erwähnen hört. Schwerer ist es, die Freude des Herzens zu bewahren, wenn man der bittern Not von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht.

Die Gräfin weiß wohl, daß der Amtmann die Majorin hat arretieren lassen und daß sie wegen der Gewalttat verklagt werden soll, die sie in jener Nacht verübte, als der große Ball auf Ekeby stattfand. Aber sie hat nicht daran gedacht, daß sie dort auf dem Gehöft des Amtmanns in Verwahrsam gehalten wird, so nahe dem Ballsaal, daß man von dort in ihr Zimmer hineinsehen kann, so nahe, daß sie die Tanzmusik und den fröhlichen Lärm hören muß. Und der Gedanke an sie raubt der Gräfin alle Freude.

Wohl tanzt die Gräfin Walzer und Quadrille, sie schreitet in der Menuette und in der Anglaise dahin, zwischen jedem Tanz aber muß sie ans Fenster schleichen und nach dem Seitengebäude hinübersehen. Da ist Licht im Fenster der Majorin, sie kann sie im Zimmer auf und nieder gehen sehen. Es sieht so aus, als ruhe sie niemals, als wandere sie unablässig, ohne Rast. Aber nach jedem Mal, wenn die Gräfin hinausgeschaut hat, bewegen ihre Füße sich schwerfälliger im Tanz, und das Lachen bleibt ihr in der Kehle stecken.

Die Frau des Amtmanns bemerkt, daß sie den Tau von den Fenstern trocknet, um hinaussehen zu können, und tritt an sie heran.

»Ach, welch ein Elend, welch ein Elend!« flüsterte sie der Gräfin zu.

»Ich finde es beinahe unmöglich, heute abend zu tanzen«, gibt ihr die Gräfin flüsternd zurück.

»Es ist nicht meine Schuld, daß wir einen Ball geben, während sie dort sitzt«, erwidert Frau Scharling. »Sie hat die ganze Zeit hindurch in Karlstad im Gefängnis gesessen, aber jetzt soll die Sache vor Gericht, und deswegen ist sie heute hierhergeschafft worden. Wir konnten sie nicht in der elenden Gefängniszelle sitzen lassen, deswegen haben wir sie drüben in der Webstube untergebracht. Sie hätte in meinem Zimmer gewohnt, Frau Gräfin, wenn nicht alle diese Menschen gerade heute hierher gekommen wären. Die Frau Gräfin haben sie ja kaum gekannt, uns allen aber ist sie gleichsam eine Mutter und Königin gewesen. Was muß sie nur von uns denken, die wir hier tanzen, während sie sich in einer solchen Not befindet? Ein Glück, daß die meisten nicht ahnen, daß sie dasitzt.«

»Sie hätte niemals verhaftet werden dürfen«, sagt die Gräfin streng.

»Nein, das ist ein wahres Wort, Frau Gräfin; aber es war nichts weiter dabei zu machen, wenn nicht noch größeres Unheil geschehen sollte. Niemand konnte ihr verbieten, ihre eigenen Strohmieten in Brand zu stecken und die Kavaliere fortzujagen, aber der Major machte Jagd auf sie. Gott weiß, was er getan haben würde, wenn sie nicht in Gewahrsam genommen wäre. Scharling hat viele Unannehmlichkeiten davon gehabt, daß er sie einstecken ließ. Selbst in Karlstad waren die Leute unzufrieden, daß er nicht ein Auge zu dem zudrückte, was sich auf Ekeby ereignete. Aber er handelte ja nach bestem Ermessen.«

»Jetzt wird sie wohl verurteilt?« fragt die Gräfin.

»Ach nein, verurteilt wird sie nicht, die Majorin auf Ekeby wird schon freigesprochen; aber das, was sie in diesen Tagen hat durchmachen müssen, ist doch zu viel für sie gewesen. Wenn sie nur nicht den Verstand verliert. Denken Sie nur, so eine stolze Frau und dann als Verbrecherin behandelt zu werden! Ich glaube, es wäre das Richtigste gewesen, wenn man ihr Erlaubnis gegeben hätte zu gehen; da wäre sie vielleicht auf eigene Hand entkommen.«

»Lassen Sie sie doch entschlüpfen«, sagt die Gräfin.

»Das kann jeder andere tun, nur nicht der Amtmann oder seine Frau«, flüstert Frau Scharling. »Wir müssen ja acht auf sie geben. Besonders in dieser Nacht, wo so viele von ihren Freunden hier sind; deswegen halten auch zwei Männer Wache vor ihrer Tür, und die ist verschlossen und verriegelt, so daß niemand zu ihr hineinkommen kann. Wenn ihr aber jemand zur Flucht behilflich sein wollte, so würden sowohl Scharling als ich uns freuen.«

»Darf ich nicht einmal zu ihr hineingehen?« fragte die junge Gräfin.

Frau Scharling erfaßt sie eifrig bei der Hand und zieht sie mit sich hinaus. Auf der Diele hüllen sie sich in ein paar Schals und eilen dann über den Hof.

»Es ist sehr leicht möglich, daß sie nicht einmal mit uns sprechen will«, sagt Frau Scharling. »Aber dann kann sie doch wenigstens sehen, daß wir sie nicht vergessen haben.«

Sie gehen durch das erste Zimmer, wo die beiden Männer sitzen und bei verschlossenen Türen Wache halten, und gelangen dann ungehindert zur Majorin. Sie war in einem großen Zimmer eingeschlossen, das mit Webstühlen und ähnlichen Gerätschaften angefüllt war. Es war ursprünglich die Webstube, wurde jedoch in Notfällen auch als Gefängnis gebraucht, weswegen Eisenstangen vor den Fenstern und schwere Schlösser vor der Tür angebracht waren.

Die Majorin setzt ihre Wanderung fort, ohne sie weiter zu beachten. Sie hat in diesen Tagen einen langen Weg zurückzulegen. Sie kann an nichts weiter denken, als daß sie die dreißig Meilen bis zu ihrer Mutter zurücklegen muß, die da oben in den Elfdalswäldern sitzt und auf sie wartet.

Sie hat keine Zeit zu ruhen. Sie muß wandern. Eine rastlose Geschäftigkeit hat sie ergriffen. Ihre Mutter ist über neunzig Jahre alt. Sie kann nicht lange mehr leben.

Sie hat die Länge des Zimmers nach Ellen gemessen, und nun zählt sie die Male, die sie hin und her wandert, legt die Ellen zu Faden, die Faden zu Meilen zusammen.

Schwer und lang erscheint ihr der Weg, und doch darf sie nicht ruhen. Sie watet durch tiefe Schneeschanzen. Sie hört die ewigen Wälder sausen dort, wo sie geht. Sie ruht in den Rauchstuben der Finnen aus und in den Reisighütten der Köhler. Zuweilen, wenn sie in meilenweitem Umkreis auf keinen einzigen Menschen stößt, muß sie sich Zweige zu einem Lager abbrechen und unter den Wurzeln einer umgewehten Tanne schlafen.

Und endlich hat sie das Ziel erreicht, die dreißig Meilen sind zurückgelegt, der Wald öffnet sich, rote Häuser werden auf einem schneebedeckten Hofplatz sichtbar. Der Gießbach braust schäumend dahin, eine Reihe kleiner Wasserfälle bildend, und an dem wohlbekannten Brausen hört sie, daß sie zu Hause ist.

Und ihre Mutter, die sie kommen sieht, als Bettlerin, wie sie es gewollt hat, geht ihr entgegen – – –

Als die Majorin so weit gekommen ist, erhebt sie den Kopf, schaut sich um, erblickt die verschlossene Tür und weiß nun, wo sie ist.

Da fragt sie sich selbst, ob sie im Begriff ist, wahnsinnig zu werden, und sie setzt sich wieder hin, um zu denken und zu ruhen. Aber einen Augenblick später ist sie wieder auf der Wanderung, zählt Ellen, Faden und Meilen, hält Rast in den Hütten und schläft weder Tag noch Nacht, bis sie die dreißig Meilen zurückgelegt hat. In der ganzen Zeit, seit sie gefangen gesessen, hat sie fast gar nicht geschlafen.

Und die beiden Frauen, die gekommen sind, um sich nach ihr umzusehen, schauen sie voller Angst an. Die junge Gräfin kann diesen Anblick später nie wieder vergessen. Sie sieht sie oft in ihren Träumen und erwacht dann mit tränenfeuchten Augen, eine Klage auf den Lippen.

Die Alte hat sich traurig verändert; das Haar sieht so dünn aus, und lose Zotteln hängen aus der kleinen Flechte heraus. Das Gesicht ist scharf und eingefallen, die Kleider sind unordentlich und zerlumpt. Bei alledem aber haftet doch noch so viel von der vornehmen Dame an ihr, von der Herrscherin, daß sie nicht nur Mitleid, sondern auch Ehrfurcht einflößt.

Was die Gräfin aber gar nicht wieder vergessen kann, das sind die Augen, eingesunken, nach innen gewendet, noch nicht des Lichts des Verstandes beraubt, aber nahe daran zu erlöschen, und mit einem Funken von Wildheit, der in der Tiefe lauert, so daß einem angst und bange werden kann, daß die Alte sich im nächsten Augenblick auf einen stürzen wird, die Zähne bereit zu beißen, die Nägel zu kratzen.

Sie haben eine Weile dort gestanden, als die Majorin plötzlich vor der jungen Frau stehenbleibt und sie mit einem strengen Blick anschaut. Die Gräfin weicht einen Schritt zurück und ergreift Frau Scharlings Arm.

Die Züge der Majorin erhalten plötzlich Leben und Ausdruck, ihre Augen schauen wieder mit voller Klarheit in die Welt hinaus.

»Ach nein, ach nein,« sagt sie lächelnd, »so schlimm ist es denn doch noch nicht, meine liebe junge Dame.«

Sie fordert sie auf, sich zu setzen, und setzt sich selbst. Sie nimmt ein Air altmodischer Vornehmheit an, wohlbekannt von den großen Festen auf Ekeby und den Königsbällen im Statthalterpalais in Karlstad. Sie vergessen die Lumpen und das Gefängnis und sehen nur die stolzeste, reichste Frau in ganz Wermland.

»Meine liebe Gräfin,« sagt sie, »was veranlaßt Sie, den Ball zu verlassen und mich einsame alte Frau aufzusuchen? Das ist wirklich zu gütig.«

Gräfin Elisabeth kann nicht antworten; Bewegung erstickt ihre Stimme. Frau Scharling antwortet für sie, daß sie nicht tanzen kann, weil sie an die Majorin denken muß.

»Liebe Frau Scharling,« antwortet die Majorin, »ist es denn jetzt so weit mit mir gekommen, daß ich die Jugend in ihrer Freude störe? Weinen Sie nicht über mich, liebe junge Gräfin«, fährt sie fort. »Ich bin eine böse, alte Frau, die ihr Schicksal verdient hat. Sie halten es doch nicht für richtig, seine Mutter zu schlagen?«

»Nein, aber ...«

Die Majorin unterbricht sie und streicht ihr das krause blonde Haar aus der Stirn. »Kind, Kind,« sagt sie, »wie konnten Sie sich nur mit dem dummen Henrik Dohna verheiraten?«

»Aber ich liebe ihn.«

»Ich sehe das Ganze, ich sehe das Ganze«, sagt die Majorin. »Ein gutes Kind und nichts weiter, weint mit den Betrübten und lacht mit den Fröhlichen. Und muß ‘ja’ zu dem ersten sagen, der kommt und sagt: ‘Ich liebe dich!’ – Ja, ja, so ist es! – Gehen Sie nur hinein und tanzen Sie, meine liebe junge Gräfin. Tanzen Sie und seien Sie fröhlich. In Ihnen ist nichts Böses.«

 

»Aber ich möchte so gern etwas für die Frau Majorin tun!«

»Kind,« sagt die Majorin feierlich, »es wohnte eine alte Frau auf Ekeby, die hielt die Winde des Himmels gefangen. Jetzt ist sie selbst eine Gefangene, und die Winde sind frei. Ist es da so wunderlich, daß ein Sturm über das Land dahinsaust?

»Ich, die ich alt bin, habe ihn schon früher gesehen, Gräfin. Ich kenne ihn. Ich weiß, daß Gottes gewaltiger Sturm über uns kommt. Bald braust er über die großen Reiche dahin, bald über die kleinen, vergessenen Staaten. Gottes Sturm vergißt keinen. Er kommt über die Großen wie über die Kleinen. Es ist großartig, Gottes Sturm kommen zu sehen.

»Gottes Sturm, du gesegnetes Wetter des Herrn, wehe über die Erde dahin! Ihr Stimmen aus der Luft und aus dem Wasser, ertönt, entsetzet! Macht Gottes Sturm gewaltig, macht Gottes Sturm schreckeinflößend! Laßt die Stürme über das Land dahinsausen, gegen die schwankenden Wände fahren, die verrosteten Schlösser zersprengen, die morschen Häuser umstürzen!

»Schrecken soll sich über das ganze Land ausbreiten. Die kleinen Vogelnester sollen aus den Zweigen herausgeschüttelt werden. Das Habichtsnest im Wipfel der Tanne soll mit lautem Krachen zur Erde fallen, und bis hinein in das Eulennest in der Bergkluft soll der Wind mit seiner Drachenzunge zischen.

»Wir meinten, alles bei uns sei so gut, aber das war es nicht. Wir haben Gottes Sturmwetter sehr nötig. Ich verstehe es, und ich klage nicht. Ich wünsche nur nach Hause zu kommen, zu meiner Mutter!«

Sie bricht plötzlich zusammen.

»Geh jetzt, junge Frau«, sagt sie. »Ich habe keine Zeit mehr. Ich muß gehen. Geh jetzt, hüte dich aber vor denen, die auf den Schwingen des Sturmes kommen!«

Und dann beginnt sie ihre Wanderung von neuem wieder. Die Züge werden schlaff, der Blick wendet sich nach innen. Die Gräfin und Frau Scharling müssen sie verlassen.

Sobald sie zu den Tanzenden zurückgekehrt sind, geht die junge Gräfin direkt auf Gösta Berling zu.

»Ich soll Herrn Berling von der Majorin grüßen«, sagt sie. »Sie erwartet, daß Herr Berling sie aus ihrem Gefängnis befreien wird.«

»Da kann sie lange warten, Frau Gräfin!«

»Ach, helfen Sie ihr doch, Herr Berling!«

Gösta schaut finster vor sich nieder. »Nein,« sagt er, »weswegen sollte ich ihr helfen? Wofür schulde ich ihr Dank? Alles, was sie getan hat, ist zu meinem Unglück gewesen.«

»Aber Herr Berling ...«

»Wäre sie nicht gewesen,« erwidert er heftig, »so schliefe ich jetzt dort oben in den ewigen Wäldern. Bin ich verpflichtet, mein Leben für sie zu wagen, weil sie mich zum Kavalier auf Ekeby gemacht hat? Glauben Frau Gräfin, daß das ein sehr ehrenvolles Amt ist?«

Ohne zu antworten, wendet sich die junge Gräfin von ihm ab. Sie ist zornig.

Mit bitteren Gedanken über die Kavaliere begibt sie sich an ihren Platz. Mit Waldhorn und Violinen sind sie hierhergekommen und wollen die Bogen über die Saiten fahren lassen, bis sie zerspringen, ohne daran zu denken, daß die lustigen Töne zu der Gefangenen in das elende Zimmer hinüberdringen. Sie sind hierhergekommen, um zu tanzen, bis die Schuhsohlen durchgetreten sind, und denken nicht daran, daß ihre alte Wohltäterin ihre Schatten an den betauten Fensterscheiben vorübergleiten sehen kann! Ach, wie grau und häßlich doch die Welt wird! Ach, welche Schatten doch die Not und die Hartherzigkeit der Menschen in die Seele der jungen Gräfin werfen!

Nach einer Weile kommt Gösta und fordert sie zum Tanz auf.

Sie sagt nein, geradezu nein!

»Wollen Frau Gräfin nicht mit mir tanzen?« fragt er tief errötend.

»Weder mit Ihnen noch mit irgendeinem von den Kavalieren«, antwortet sie.

»Sind wir einer solchen Ehre nicht würdig?«

»Es ist keine Ehre, Herr Berling! Aber ich finde kein Vergnügen daran, mit Leuten zu tanzen, die das Gebot der Dankbarkeit vergessen.«

Gösta hat sich bereits auf dem Absatz umgedreht.

Gar viele sind Augen- und Ohrenzeugen dieser Szene gewesen. Alle geben der Gräfin recht. Die Undankbarkeit und Herzlosigkeit der Kavaliere gegen die Majorin hat eine allgemeine Entrüstung wachgerufen.

Aber in jenen Tagen ist Gösta Berling gefährlicher als ein wildes Tier des Waldes. Seit dem Augenblick, wo er von der Jagd heimkehrte und Marianne nicht mehr vorfand, ist sein Herz wie eine offene Wunde gewesen. Er hat die größte Lust, irgend jemand ein blutiges Unrecht zuzufügen, Kummer und Sorge über weite Kreise zu verbreiten.

Wenn sie es so haben will, sagt er zu sich selber, so soll es ihr werden. Aber sie soll nicht geschont werden. Die Gräfin schwärmt ja für Entführungen. Das Vergnügen soll ihr werden. Er hat nichts gegen ein Abenteuer einzuwenden. Acht Tage lang hat er um eine Frau getrauert. Das ist lange genug. Er ruft Beerencreutz, den Oberst, Christian Bergh, den starken Hauptmann, und den saumseligen Vetter Kristoffer, der stets zu einem verwegenen Abenteuer aufgelegt ist, und beratschlagt mit ihnen, wie man die gekränkte Ehre des Kavalierflügels retten soll.

Und dann kommt der Schluß des Festes. Eine lange Reihe von Schlitten fährt im Hofe auf. Die Herren ziehen ihre Pelze an, die Damen suchen in dem verzweifelnden Wirrwarr des Ankleidezimmers nach ihren wärmenden Hüllen.

Die junge Gräfin hat sich beeilt, von diesem abscheulichen Ball fortzukommen. Sie ist von allen Damen zuerst fertig. Lächelnd steht sie mitten im Zimmer und sieht sich die allgemeine Verwirrung an, als die Tür aufgerissen wird und Gösta Berling auf der Schwelle erscheint.

Kein Mann hat sonst das Recht, in dies Zimmer einzudringen. Alte Damen flehen da mit ihrem dünnen Haar, jetzt wo sie die feinen Hauben abgenommen haben, und die jungen haben ihre Kleider unter den Pelzen hoch in die Höhe gezogen, damit die steifen Garnierungen bei der Fahrt nicht zerknittert werden sollen.

Ohne sich aber an die warnenden Rufe zu kehren, springt Gösta Berling auf die Gräfin zu und ergreift sie. Er hebt sie auf seine Arme und stürzt mit ihr zum Zimmer hinaus, auf die Diele und von da auf die Treppe.

Die Schreie der überraschten Frauen hemmen ihn nicht. Als sie hinter ihm drein eilen, sehen sie nur, daß er sich, die Gräfin noch immer im Arm haltend, in einen Schlitten wirft. Sie hören den Kutscher mit der Peitsche knallen und sehen das Pferd von dannen jagen. Sie kennen den Kutscher – es ist Beerencreutz. Sie kennen das Pferd – es ist Don Juan. Und in tiefer Besorgnis um das Schicksal der Gräfin rufen sie die Herren.

Und diese verbringen keine Zeit mit vielen Fragen, sondern stürzen zu den Schlitten. Den Grafen an der Spitze, machen sie Jagd auf den Frauenräuber.

Er aber liegt im Schlitten und hält die junge Gräfin fest. Aller Kummer ist vergessen, hingerissen von der berauschenden Freude des Abenteuers singt er aus vollem Halse ein Lied von Liebe und von Rosen. Er hält sie fest an sich gepreßt, sie aber macht keinen Versuch, ihm zu entfliehen. Ihr Antlitz ruht weiß und versteinert an seiner Brust.

Ach, was soll ein Mann tun, wenn er ein bleiches, hilfloses Gesicht so unmittelbar in seiner Nähe hat, wenn er das blonde Haar, das sonst die schimmernd weiße Stirn beschattet, zurückgestrichen sieht, wenn die Lider sich schwer über den grauen, schelmischen Augen geschlossen haben?

Küssen, natürlich, die bleichen Lippen, die geschlossenen Augen, die weiße Stirn küssen!

Da aber erwacht die junge Frau. Sie wirft sich auf die Seite, sie ist elastisch wie eine Feder. Und er muß mit seiner ganzen Kraft gegen sie kämpfen, damit sie sich nicht aus dem Schlitten stürzt, ehe es ihm gelingt, sie ergeben aber zitternd in die eine Ecke des Schlittens zu zwingen.

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