Gösta Berling

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Er dachte darüber nach, wie er Abschied von ihr nehmen sollte.

»Es herrscht großer Jammer daheim bei dir«, wollte er sagen. »Mein Herz blutet, wenn ich daran denke. Du mußt nach Hause gehen und deinem Vater seinen Verstand wiedergeben. Deine Mutter schwebt in beständiger Lebensgefahr. Du mußt nach Hause, Geliebte!«

Seht, solche Worte der Entsagung hatte er auf den Lippen, aber sie wurden nicht ausgesprochen.

Er fiel an ihrem Lager auf die Knie, nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und küßte sie. Dann aber fand er keine Worte. Sein Herz begann so heftig zu schlagen als wollte es seine Brust zersprengen.

Die Blattern hatten das schöne Gesicht zerstört, die Haut war grob und narbig geworden. Nie wieder sollte das rote Blut durch die Wangen schimmern oder in den feinen blauen Adern an der Stirn sichtbar werden. Die Augen lagen matt unter den geschwollenen Lidern. Die Brauen waren verschwunden, und die weiße Emaille in den Augen hatte einen gelblichen Schimmer.

Alles war zerstört. Die kecken Linien waren grob und schwerfällig geworden.

Es waren ihrer nicht wenige, die später Marianne Sinclaires entschwundene Schönheit beweinten. Aber der erste Mann, der sie sah, nachdem sie ihre Schönheit verloren hatte, gab sich nicht dem Schmerz hin. Unsagbare Gefühle erfüllten seine Seele. Je länger er sie ansah, um so wärmer wurde es in ihm. Die Liebe schwoll und schwoll wie ein Fluß im Frühling. Gleich Feuerwogen entströmte sie seinem Herzen, sie erfüllte sein ganzes Wesen, sie stieg ihm als Tränen in die Augen, seufzte auf seinen Lippen, zitterte in seinen Händen, in seinem ganzen Körper.

O, sie zu lieben, sie zu verteidigen, sie schadlos zu halten, schadlos! Ihr Sklave zu sein, ihr Schutzgeist!

Stark ist die Liebe, wenn sie die Feuertaufe des Schmerzes erhalten hat. Er konnte nicht mit Marianne von Trennung und Entsagung reden. Er konnte sie nicht verlassen. Er schuldete ihr sein Leben. Er hätte um ihretwillen Todsünden begehen können.

Er sprach kein vernünftiges Wort; er weinte nur und küßte sie, bis die alte Pflegerin meinte, daß es jetzt für ihn an der Zeit sei zu gehen.

Nachdem er gegangen war, lag Marianne da und dachte an ihn und an seine Erregung.

»Es ist gut, so geliebt zu werden«, dachte sie.

Ja, es war gut, geliebt zu werden; wie aber stand es mit ihr selber? Was fühlte sie? Ach, nichts! Weniger als nichts!

War sie tot, ihre Liebe, oder wohin war sie entflohen? Wo verbarg es sich, das Kind ihres Herzens? Lebte es noch, hatte es sich in den innersten Winkel ihres Herzens verkrochen und saß dort und fror unter den Eisblicken, eingeschüchtert durch das Hohngelächter, halberstickt von den knöcherigen Fingern?

»Ach, meine Liebe,« seufzte sie, »mein Herzenskind! Lebst du oder bist du tot, tot wie meine Schönheit?«

In der Frühe des nächsten Morgens kam der große Gutsherr zu seiner Frau herein.

»Sieh zu, daß du wieder Ordnung im Hause schaffest, Gustava«, sagte er. »Ich fahre hinüber, um Marianne zu holen.«

»Ja, lieber Melchior, es soll alles wieder in Ordnung gebracht werden«, erwiderte sie.

Damit war alles zwischen ihnen klar. Eine Stunde später befand sich der große Gutsherr auf dem Wege nach Ekeby.

Man konnte keinen stattlicheren und freundlicheren Herrn sehen als Herrn Melchior Sinclaire, wie er dort in dem zurückgeschlagenen Kaleschenschlitten saß, in seinem besten Pelz und mit seinem besten Halstuch. Jetzt lag sein Haar glattgekämmt über dem Scheitel, das Gesicht aber war bleich, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

Und unbeschreiblich war auch der Glanz, der von dem wolkenlosen Himmel über den Februartag herabströmte. Der Schnee funkelte, wie die Augen der jungen Mädchen, wenn zum ersten Tanz aufgespielt wird. Die Birken streckten ihr Spitzengewebe von feinen rotbraunen Zweigen zum Himmel empor, und an einigen saß noch eine Franse von kleinen, funkelnden Eiszapfen.

Es lag Festglanz über dem Tage. Die Pferde warfen tanzend die Vorderbeine in die Höhe, und der Kutscher mußte vor lauter Vergnügen mit der Peitsche knallen.

Nach einer kurzen Fahrt hielt der Schlitten des großen Gutsherrn vor der Treppe zu Ekeby. Der Diener kam heraus.

»Wo ist deine Herrschaft?« fragte Melchior Sinclaire.

»Sie sind auf Jagd nach dem großen Bären in den Gurlita-Bergen.«

»Alle zusammen?«

»Alle zusammen, Herr. Wer nicht um des Bären willen mitgeht, der geht des Fouragesacks wegen mit.«

Der Gutsherr lachte, so daß es über den stillen Hof schallte. Er gab dem Diener einen Taler für die Antwort.

»Sage meiner Tochter, daß ich hier bin, um sie zu holen. Sie soll nicht bange sein, daß sie frieren wird. Ich habe einen Kaleschenschlitten, und einen Wolfspelz habe ich auch mitgebracht, um sie einzuhüllen.«

»Wollen der gnädige Herr nicht eintreten?«

»Nein, ich sitze gut, wo ich sitze.«

Der Diener verschwand, und der Gutsherr schickte sich an zu warten. Er war an jenem Tage in so strahlender Laune, daß ihn nichts zu stören vermochte. Er hatte es sich wohl gedacht, daß er auf Marianne würde warten müssen; vielleicht war sie noch nicht einmal aufgestanden. Er konnte sich indessen die Zeit vertreiben, indem er ein wenig um sich blickte.

Dort am Dachfirst hing ein langer Eiszapfen, mit dem die Sonne große Mühe hatte. Sie fing von oben damit an, schmolz einen Tropfen los und wollte nun, daß er an dem Eiszapfen entlang laufen und herabfallen sollte. Ehe aber der Tropfen den halben Weg zurückgelegt hatte, war er schon wieder erstarrt. Die Sonne machte beständig neue Versuche, hatte aber niemals Glück damit. Endlich aber war da ein eigenmächtiger Strahl, der sich an die Spitze des Eiszapfens festhängte, ein ganz winzig kleiner, der vor Tatendrang blitzte, und ehe man sichs versah, hatte er sein Ziel erreicht: ein Tropfen fiel klatschend zur Erde.

Der Gutsherr sah das und lachte. »Du warst nicht dumm, du!« sagte er zum Sonnenstrahl.

Der Hof war still und leer. Aus dem großen Haus drang kein Laut bis zu ihm heraus. Aber er wurde nicht ungeduldig. Er wußte, daß die Damen viel Zeit gebrauchen, bis sie fertig sind.

Er saß da und betrachtete den Taubenschlag. Der war vergittert. Die Tauben waren eingeschlossen, solange der Winter währte, damit der Habicht sie nicht rauben sollte. Von Zeit zu Zeit kam eine Taube und steckte ihren weißen Kopf durch das Drahtnetz.

»Die wartet auf den Frühling!« sagte Melchior Sinclaire; »aber da muß sie Geduld haben.«

Die Taube kam so regelmäßig, daß er seine Uhr herauszog und achtgab. Präzise jede dritte Minute steckte sie den Kopf heraus.

»Nein, mein Herzchen,« sagte er, »glaubst du, daß der Frühling in drei Minuten fertig wird? Du mußt es lernen zu warten!«

Und er selber mußte warten, aber er hatte Zeit genug.

Die Pferde scharrten anfangs ungeduldig im Schnee, dann aber wurden sie müde vom Stehen und von der Sonne, die ihnen in die Augen schien. Sie steckten die Köpfe zusammen und schliefen. Der Kutscher saß steif auf dem Bock, Peitsche und Zügel in der Hand, das Gesicht der Sonne zugewandt, und schlief, so daß er schnarchte.

Aber der Gutsherr schlief nicht. Er war niemals weniger zum Schlafen aufgelegt als jetzt. Selten hatte er sich wohler gefühlt als in dieser frohen Wartezeit. Marianne war krank gewesen. Sie hatte nicht früher kommen können, jetzt aber kam sie sicher. Ja natürlich kam sie. Und alles sollte wieder gut werden.

Jetzt mußte sie ja sehen können, daß er ihr nicht mehr zürnte. Er war ja selber gekommen, mit der Kalesche und mit zwei Pferden!

Auf dem Brett, das vor dem Flugloch des Bienenkorbes angebracht war, hatte sich eine Meise eine wahrhaft satanische List ersonnen. Sie wollte ihr Mittagessen haben, deswegen pochte sie mit ihrem kleinen, scharfen Schnabel gegen das Brett. Drinnen im Bienenkorb aber hingen die Bienen in einem großen schwarzen Klumpen, alles ist in der strengsten Ordnung; die Schaffner teilen die Rationen aus, der Mundschenk läuft mit Nektar und Ambrosia von Mund zu Mund. Die, welche ganz nach innen hinein hängen, tauschen in einem ewigen Gewimmel ihren Platz mit den außen hängenden Genossen, so daß Wärme und Bequemlichkeit gleichmäßig verteilt sind.

Da hören sie das Pochen der Meise, und der ganze Bienenkorb ist ein Gesumme von Neugier. Ist es Freund oder Feind? Droht Gefahr für den Staat? Die Königin hat ein schlechtes Gewissen; sie kann nicht in Ruhe warten. Ist es der Geist der ermordeten Drohnen, der da draußen spukt? »Geh hinaus und sieh nach, wer da ist!« befiehlt sie der Pförtnerin. Diese geht. Mit einem: »Es lebe die Königin!« stürzt sie hinaus, und schwapp! fällt die Meise über sie her. Mit vorgestrecktem Hals und Flügeln, die vor Eifer zittern, fängt sie sie, zermalmt sie, verzehrt sie – und niemand bringt der Herrscherin Kunde von ihrem Tode. Aber die Meise klopft nochmals, und die Königin fährt fort, ihre Türhüterinnen auszusenden, und sie verschwinden alle. Nicht eine kehrt mit der Meldung zurück, wer es gewesen, der da pochte. Hu! es wird unheimlich in dem dunklen Bienenkorb. Es sind die Rachegeister, die da draußen ihr Spiel treiben. Wer nur keine Ohren hätte! Wer nur seine Neugier unterdrücken könnte! Wer nur ruhig warten könnte!

Der große Gutsherr lachte, so daß ihm die Tränen in die Augen traten, über die dummen Frauenzimmer im Bienenkorbe und über den schlauen Kavalier da draußen auf dem Brett.

Es ist keine Kunst, zu warten, wenn man seiner Sache sicher ist und wenn man so vielerlei hat, womit man seine Gedanken ablenken kann.

Die Sonne begann, sich den Bergen im Westen zuzuneigen. Melchior Sinclaire sah nach seiner Uhr. Es war drei, und die Mutter hatte das Mittagessen zu zwölf Uhr bereithalten wollen.

 

Im selben Augenblick kam der Diener und meldete, daß Fräulein Marianne mit ihm zu sprechen wünsche. Der Gutsherr hängte den Wolfspelz über den Arm und stieg in strahlender Laune die Treppe hinan.

Als Marianne seine schweren Schritte auf der Treppe vernahm, wußte sie noch nicht, ob sie mit ihm heimkehren wolle oder nicht. Sie wußte nur, daß diese lange Wartezeit ein Ende haben müsse.

Sie hatte gehofft, daß die Kavaliere nach Hause kommen würden; aber sie kamen nicht. So mußte sie denn selber dafür sorgen, daß diese Sache ein Ende nahm. Sie konnte es nicht länger ertragen.

Sie hatte gedacht, daß er voller Zorn wieder fortfahren würde, sobald er zehn Minuten gewartet hatte, daß er die Türen einschlagen oder das Haus in Brand stecken würde.

Aber da saß er ganz ruhig und lächelte und wartete. Sie empfand weder Haß noch Liebe für ihn. Eine innere Stimme aber warnte sie, sich wieder in seine Macht zu geben. Auch wollte sie ihr Gösta gegebenes Wort halten.

Wäre er nur eingeschlafen oder unruhig geworden, hätte er eine Spur von Zweifel verraten oder den Schlitten in den Schatten fahren lassen! Aber er war lauter Geduld und Sicherheit. So sicher war er, so ansteckend sicher, daß sie schon kommen würde, wenn er nur wartete!

Ihr Kopf schmerzte, ein jeder Nerv in ihr erbebte. Sie konnte keine Ruhe finden, solange sie wußte, daß er dasaß. Es war, als wenn sein Wille sie gebunden die Treppe hinabschleifte.

Sie wollte wenigstens mit ihm sprechen.

Ehe er kam, ließ sie die Rouleaus aufziehen und legte sich so hin, daß ihr das Tageslicht voll ins Gesicht schien. Es war ihre Absicht gewesen, ihn damit gewissermaßen auf die Probe zu stellen. Aber Melchior Sinclaire war an jenem Tag ein eigentümlicher Mann.

Als er sie sah, veränderte er keine Miene, tat keinen Ausruf. Es war, als könne er keine Veränderung an ihr wahrnehmen. Sie wußte, wie stolz er auf ihre Schönheit gewesen war. Aber er ließ es sie nicht merken, daß er Kummer empfand. Er beherrschte sein ganzes Wesen, um sie nicht zu betrüben. Dies ergriff sie tief. Sie fing an zu verstehen, daß ihre Mutter fortfuhr, ihn liebzuhaben.

Er verriet keinen Zweifel. Er kam weder mit Vorwürfen noch mit Entschuldigungen.

»Ich hülle dich in den Wolfspelz, Marianne. Der ist nicht kalt. Er hat die ganze Zeit auf meinem Schoß gelegen.«

Und trotzdem ging er an den Kamin und wärmte ihn. Dann half er ihr vom Sofa auf, hüllte sie in den Pelz, schlang einen Schal um ihren Kopf, legte ihn ihr kreuzweise über der Brust zusammen und knüpfte ihn auf dem Rücken zu.

Sie ließ es geschehen. Sie war willenlos. Es tat so gut, gehegt und gepflegt zu werden. Es war schön, selber nicht wollen zu brauchen. Es tat gut für jemand, der so angegriffen war wie sie, für jemand, der nicht einen einzigen Gedanken, nicht ein Gefühl besaß, das er sein eigen nennen konnte.

Sie schloß die Augen und seufzte, teils aus Wohlbehagen, teils aus Wehmut. Sie nahm Abschied von dem Leben, dem wirklichen Leben; aber das konnte ja auch einerlei für sie sein, die sie ja doch nicht leben, sondern nur Komödie spielen konnte.

Ein paar Tage später sorgte ihre Mutter dafür, daß sie Gelegenheit hatte, mit Gösta zu sprechen. Sie schickte einen Boten nach Ekeby, während der Gutsherr von Hause abwesend war, und führte ihn zu Marianne hinein.

Gösta trat ein, aber er grüßte nicht und sprach auch nicht. Er blieb an der Tür stehen und starrte vor sich nieder wie ein trotziger Junge.

»Aber Gösta!« rief Marianne aus, die in einem Lehnstuhl saß.

»Ja, so heiße ich!«

»Komm doch hierher, ganz her zu mir, Gösta!«

Er näherte sich ihr still, erhob aber den Blick nicht.

»Komm näher heran! Knie hier nieder.«

»Aber mein Gott, was soll das alles nur?« rief er aus, gehorchte aber dennoch.

»Gösta, ich will dir nur sagen, daß ich glaube, es war richtig, daß ich wieder nach Hause kam.«

»Hoffen wir, daß man Fräulein Marianne nicht wieder in den Schnee hinauswerfen wird.«

»Ach, Gösta! Hast du mich denn nicht mehr lieb? Findest du, daß ich zu häßlich bin?«

Er zog ihren Kopf zu sich herab und küßte sie, sah aber noch immer so kalt aus.

Er amüsierte sie im Grunde. Wenn er es für gut befand, eifersüchtig auf ihre Eltern zu sein, was dann? Es würde wohl wieder vorübergehen. Jetzt amüsierte es sie, ihn zurückzuerobern. Sie wußte nicht recht, weshalb sie ihn festhalten wollte, aber sie wollte es nun einmal. Sie dachte daran, daß es ihm doch einmal gelungen war, sie von sich selbst zu befreien. Er war sicher der einzige, der es noch einmal zu tun vermochte.

Und nun begann sie zu reden, entschlossen, ihn zurückzugewinnen. Sie sagte, es sei nicht ihre Absicht gewesen, ihn für beständig zu verlassen, eine Zeitlang aber müßten sie des Scheines halber ihre Verbindung aufheben. Er habe ja selber gesehen, daß ihr Vater an der Schwelle des Wahnsinns gestanden und daß ihre Mutter in steter Lebensgefahr schwebte. Er müsse ja einsehen können, daß sie gezwungen sei, heimzukehren.

Da machte sich sein Zorn in Worten Luft. Sie brauche keine Komödie zu spielen. Er wolle nicht länger ihr Popanz sein. Sie habe ihn verlassen, sobald ihr das Elternhaus wieder offen gestanden, er könne sie nicht mehr lieben. Als er vorgestern von der Jagd heimgekehrt war und gehört hatte, daß sie verschwunden sei, ohne einen Gruß, ein Wort für ihn zu hinterlassen, da sei ihm das Blut in den Adern erstarrt; er sei nahe daran gewesen, vor Kummer zu sterben. Aber er könne diejenige nicht mehr lieben, die ihm einen solchen Schmerz zugefügt habe. Sie habe ihn übrigens niemals geliebt. Sie sei eine Kokette, die auch hier in der Gegend jemand haben wolle, der sie küssen und herzen könne, das sei das Ganze.

Ob er denn glaubte, daß es ihre Gewohnheit sei, sich von jungen Herren herzen und küssen zu lassen?

Natürlich glaubte er das. Die Frauen waren keine solche Heilige, wie sie sich den Anschein gaben. Eigenliebe und Koketterie von Anfang bis zu Ende! Sie sollte nur ahnen, was er empfunden hatte, als er von der Jagd heimkehrte. Es sei ihm gewesen, als wate er in Eiswasser. Den Schmerz würde er nie wieder verwinden. Der würde ihn durch das ganze Leben begleiten. Er würde nie wieder Mensch werden.

Sie suchte ihm zu erklären, wie das Ganze sich zugetragen hatte. Sie suchte ihm zu beweisen, daß sie ihm noch immer treu sei.

Ja, das war einerlei, denn jetzt liebe er sie nicht mehr. Jetzt habe er sie durchschaut. Sie sei eine Egoistin. Sie habe ihn nie geliebt. Ohne ein Wort, ohne einen Gruß sei sie von ihm gegangen.

Darauf kam er wieder und wieder zurück. Sie amüsierte sich beinahe darüber. Zürnen konnte sie ihm nicht. Sie verstand seinen Zorn nur zu gut. Einen wirklichen Bruch befürchtete sie auch nicht. Schließlich wurde sie doch unruhig. War denn wirklich ein solcher Umschlag bei ihm eingetreten, daß er sie nicht mehr liebhaben konnte?

»Gösta, war ich egoistisch, als ich nach Sjö ging, um den Major zu holen? Ich wußte sehr wohl, daß die Blattern dort waren. Es ist auch gerade nicht angenehm, in Schnee und Kälte auf dünnen Tanzschuhen zu gehen.«

»Die Liebe lebt von Liebe allein und nicht von Dienstleistungen und Wohltaten«, sagte Gösta.

»Du willst also, daß wir einander in Zukunft fremd sein sollen, Gösta?«

»Ja, das will ich.«

»Gösta Berling ist sehr launenhaft.«

»Das sagt man mir nach.«

Er war kalt wie Eis und nicht aufzutauen, und im Grunde war sie selber noch kälter. Die Selbstkritik lachte höhnisch über ihre Bemühungen, die Verliebte zu spielen.

»Gösta,« sagte sie, eine letzte Anstrengung machend, »ich habe dir niemals absichtlich wehe getan, wenn es auch den Anschein haben mag. Ich bitte dich, verzeih mir!«

»Ich kann dir nicht verzeihen.«

Sie wußte, daß sie ihn hätte zurückgewinnen können, wenn sie nur ein einziges ungeteiltes Gefühl besessen hätte. Und sie versuchte, die Leidenschaftliche zu spielen. Die Eisaugen verhöhnten sie, aber sie versuchte es auf alle Fälle. Sie wollte ihn nicht verlieren.

»Geh nicht, Gösta, geh nicht im Zorn von mir! Bedenke, wie häßlich ich geworden bin. Mich kann niemand mehr lieben.«

»Auch ich liebe dich nicht mehr«, sagte er. »Du mußt dich dareinfinden, daß man auf dein Herz tritt, wie du auf das andere getreten hast.«

»Gösta, ich habe niemals jemand lieben können außer dir! Verzeih mir! Verlaß mich nicht! Du bist der einzige, der mich vor mir selbst zu erretten vermag.«

Er stieß sie von sich. »Du redest nicht die Wahrheit«, sagte er mit eiskalter Ruhe. »Was du von mir willst, weiß ich nicht, aber ich sehe, daß du lügst. Weshalb willst du mich festhalten? Du bist so reich, dir wird es niemals an Freiern fehlen!«

Damit ging er.

Und kaum hatte er die Tür geschlossen, als die Sehnsucht und der Schmerz in ihrer ganzen Majestät Einzug in Mariannens Herz hielten.

Die Liebe, ihr eigenes Herzenskind, kam aus dem Winkel hervor, in den die Eisaugen es verbannt hatten. Jetzt kam sie, die sehnlichst Erwartete, jetzt, wo es zu spät war. Jetzt trat sie hervor, ernsthaft und allmächtig – und der Schmerz und die Sehnsucht trugen die Schleppe ihres Königsmantels.

Als Marianne sich mit Bestimmtheit sagen konnte, daß Gösta Berling sie verlassen hatte, empfand sie einen förmlich körperlichen Schmerz, so heftig, daß sie fast davon betäubt wurde. Sie preßte die Hände gegen das Herz und blieb stundenlang auf demselben Fleck sitzen, mit tränenlosem Kummer ringend.

Und sie selber litt, nicht eine Fremde, nicht eine Schauspielerin – nein, sie selber war es.

Weshalb war ihr Vater gekommen und hatte sie getrennt? Ihre Liebe war ja noch nicht tot; nur in ihrem Schwächezustand nach der Krankheit konnte sie ihre Macht nicht empfinden.

Ach Gott! ach Gott! Daß sie ihn verloren hatte! Ach Gott, daß sie zu spät erwacht war!

Ach, er war der Einzige, er war der Herr ihres Herzens! Von ihm konnte sie alles erdulden. Härte und böse Worte von ihm beugten sie nur zu demütiger Liebe. Hätte er sie geschlagen, so würde sie wie ein Hund zu ihm hingekrochen sein, um seine Hand zu küssen.

Sie wußte nicht, was sie tun sollte, um sich Linderung in diesem entsetzlichen Schmerz zu verschaffen.

Sie ergriff Feder und Papier und schrieb mit fieberhafter Hast. Erst schrieb sie von ihrer Liebe, von ihrem Verlust; dann flehte sie um seine Liebe, nur um seine Barmherzigkeit. Es war eine Art Poesie, die sie schrieb.

Als sie fertig war, dachte sie, daß er, wenn ihm dies zu Augen kam, doch glauben müßte, daß sie ihn geliebt hatte. Und weshalb sollte sie ihm nicht senden, was sie geschrieben hatte? Sie wollte es am nächsten Tage tun, und sie glaubte sicher, daß es ihn zu ihr zurückführen werde.

Am nächsten Tage rang und kämpfte sie mit sich. Was sie geschrieben, erschien ihr so unbedeutend, so dumm. Da war weder Reim noch Rhythmus. Es war die reine, schiere Prosa. Er würde sicher nur lachen über solche Verse. Auch ihr Stolz erwachte. Liebte er sie nicht mehr, so war es eine entsetzliche Entwürdigung, um seine Liebe zu betteln.

Auch die Klugheit meldete sich und sagte, sie könne froh sein, daß sie dieser Verbindung mit Gösta entronnen sei – es würden nur traurige Verhältnisse daraus entsprossen sein.

Aber die Qual ihres Herzens war doch so heftig, daß das Gefühl schließlich die Oberhand gewann. Drei Tage, nachdem sie sich ihrer Liebe bewußt geworden war, wurden die Verse in einen Briefumschlag gelegt und dieser mit Gösta Berlings Namen versehen. Aber sie wurden niemals abgesandt. Denn ehe sie einen passenden Boten gefunden hatte, hörte sie derartige Neuigkeiten von Gösta, daß sie einsah, daß es schon zu spät sei, ihn zurückzugewinnen.

Es ward der Kummer ihres Lebens, daß sie die Verse nicht rechtzeitig abgesandt hatte, solange es noch in ihrer Macht lag, ihn zu gewinnen. All ihr Schmerz gipfelte in diesem Punkt: »Hätte ich nur nicht so lange gewartet, hätte ich nur nicht so viele Tage gewartet!«

Das Glück des Lebens oder doch wenigstens die Wirklichkeit des Lebens hatten diese geschriebenen Worte ihr erobern sollen. Sie war fest überzeugt, daß sie ihn ihr zurückgeführt haben würden.

Doch der Kummer leistete ihr denselben Dienst wie die Liebe. Er machte sie zu einem ganzen Menschen mit der Fähigkeit, sich im Guten wie im Bösen hinzugeben. Brennende Gefühle strömten frei durch ihre Seele, ohne von der eisigen Kälte der Selbstkritik gehemmt zu werden.

Und so kam es denn, daß sie trotz ihrer Entstelltheit dennoch von vielen geliebt ward.

 

Man sagt aber, daß sie Gösta Berling nie ganz vergessen konnte. Sie trauerte um ihn, wie man um ein vergeudetes Leben trauert.

Und ihre armen Verse, die eine Zeitlang viel gelesen wurden, sind längst vergessen. Doch liegt etwas wunderlich Rührendes über ihnen, wie ich sie hier vor mir sehe, auf vergilbtem Papier und mit verblaßter Tinte, mit einer feinen, zierlichen Handschrift geschrieben. Die ganze Entbehrung eines Lebens ist in diesen armseligen Worten enthalten, und ich schreibe sie mit einem gewissen heimlichen Beben ab, als wohnten mystische Kräfte in ihnen.

Ich bitte euch, sie zu lesen und an sie zu denken. Wer weiß, welche Macht sie hätten haben können, wenn sie abgeschickt wären? Sie sind doch leidenschaftlich genug, um von einem wahren Gefühl zu zeugen. Vielleicht hätten sie ihn zu ihr zurückführen können.

Sie sind ergreifend genug, zärtlich genug in ihrer unbeholfenen Formlosigkeit. Niemand kann sie anders wünschen. Niemand kann den Wunsch hegen, sie in die Ketten des Reimes und der Rhythmen gezwängt zu sehen. Und doch ist es so wehmütig zu denken, daß gerade diese Unvollkommenheit sie daran gehindert hat, sie rechtzeitig abzuschicken.

Ich bitte euch, leset sie und habt sie lieb! Ein Mensch, der in großer Not war, hat sie geschrieben.