Schweizerische Demokratie

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Die

Tabelle 3.5

 bestätigt zunächst den bekannten Unterschied in den Altersgruppen: Generell ist die Bereitschaft, zur Wahl zu gehen, bei den Jüngeren geringer als bei den Älteren. Ebenso bemühen sich Frauen weniger an die Urne als Männer. Erheblich fallen die Differenzen bei den sozioökonomischen Merkmalen wie Bildung und Einkommen aus. Drei Viertel der Nichtwähler kommen aus unteren bis mittleren Einkommensschichten. Diese und die unteren bis mittleren Bildungsschichten bleiben weitaus häufiger der Urne fern, während Personen mit hoher Bildung oder hohem Einkommen ihr Stimmrecht sehr viel stärker ausüben. Diese sozialen Unterschiede der Wahlbeteiligung sind aus demokratietheoretischen Gründen problematisch, da die Präferenzen bedeutender Bevölkerungsschichten nicht zum Ausdruck kommen und weil sie das Wahl- und Abstimmungsergebnis situativ zu beeinflussen vermögen (Lutz 2004).



Tabelle 3.5:

 Sozialstatistische Merkmale der Nichtwähler 2015 im Vergleich zu den Wählern. Angaben in Prozent.




Nichtwähler

Wähler

Alle Befragten

Geschlecht

Frauen

57

50

52

Männer

42

50

48

Alter

18–44

56

34

41

45+

44

66

59

Bildung

tief/mittel

62

49

53

hoch

38

51

47

Einkommen

tief/mittel

77

69

72

hoch

23

31

28



Quelle:

 Selects (2015); eigene Berechnungen



Trotz sozialstatistischer Gemeinsamkeiten stellt sich die schweigende Mehrheit der Nichtwähler nicht als monolithischer Block dar. Vielmehr lassen sich unterschiedlichste Motive und Beweggründe der Enthaltung feststellen. Diese reichen von allgemeinem Desinteresse über Politikverdrossenheit und sozialer Isolation bis hin zu Inkompetenz, bewusstem Protest und zur Hinwendung zu alternativen Partizipationsformen (Bühlmann et al. 2003; Lutz 2016:9–10).



Angesichts der langfristig zu erwartenden demografischen Überalterung wurden schon Befürchtungen laut, die Demokratie werde zur «Gerontokratie»: Der höhere Anteil älterer Stimmbürger könnte die Jüngeren ausbremsen, zumal sich Letztere weniger an Abstimmungen und Wahlen beteiligen. Möckli (2011) empfiehlt Entwarnung: Die Auswirkungen der demografischen Veränderung in Abstimmungen sind geringer als zumeist angenommen.



b. Allgemeinpolitische Orientierungen und die Bewertung politischer Ziele



Die Wählerschaft der verschiedenen Parteien unterscheidet sich nicht nur soziodemografisch, sondern auch hinsichtlich allgemeiner Werthaltung und Orientierung sowie in der Bewertung konkreter politischer Ziele.



Tabelle 3.6:

 Allgemeinpolitische Orientierung und Bewertung politischer Ziele durch die Wählerschaft der Regierungsparteien 2015, Angaben in Prozent der Befragten




SP

CVP

FDP

SVP

Alle Wähler

Allgemeinpolitische Orientierung

Links

84

16

8

3

35

Mitte

8

30

16

11

16

Rechts

8

54

75

86

49

Bewertung allgemeiner politischer Ziele

höhere Sozialausgaben

60

25

19

14

32

Schweizer EU-Mitgliedschaft

36

16

15

2

17

Gleiche Chancen für Schweizer & Ausländer

73

42

43

20

47

Umweltschutz vor Wirtschaftswachstum

76

50

40

40

57

Steuererhöhungen aufhöheren Einkommen

85

60

40

55

64

Für Atomenergie

8

20

29

35

20

Bewertung konkreter politischer Ziele

Erhöhung Rentenalter Mann und Frau (z. B. 67)

31

36

44

30

34

Bundesunterstützung für ausserfamiliale Kinderbetreuung

82

58

58

37

61

Verbindliche EGMR-Urteile

84

64

61

31

62

Zweite Gotthard-Röhre

52

79

82

80

68

Ausstieg aus Atomenergie bis 2029

90

70

61

53

72

Erleichterte Einbürgerung Ausländer der 3. Generation

94

71

78

46

74

Aufnahme UNO-Kontingentsflüchtlinge

84

56

51

20

55

Aufhebung Bankgeheimnis im Inland

68

35

29

27

44



Quelle:

 Selects (2015); eigene Berechnungen



Unter den vier Regierungsparteien ist der «alte» Links-rechts-Gegensatz als allgemeine politische Orientierung in der Wählerschaft durchaus präsent. Er bewirkte während Jahrzehnten eine polarisierte Lagerbildung mit den drei bürgerlichen Parteien auf der rechten und mit der linken SP (samt den Grünen) auf der anderen Seite. Bürgerliches und linkes Lager weisen einen geradezu spiegelbildlichen Anteil von Wählerinnen mit linker bzw. rechter politischer Orientierung aus. Die allgemeine Orientierung der Wähler verweist aber auch auf die Spaltung innerhalb des bürgerlichen Lagers: Seit den Wahlen 1995 sammelt die SVP das rechtskonservative Wählerpotenzial, während FDP und CVP, neu aber auch Grünliberale und die 2007 von der SVP abgespaltene BDP, von der bürgerlichen Mitte gewählt werden. Damit hat sich ein «tripolares System» herausgebildet. Dieses System eines Links-, eines Mitte- und eines Rechts-Lagers ist also nicht nur in den parteipolitischen Kontroversen und in der Auseinandersetzung der Parlamentsfraktionen zu beobachten, sondern findet seine Entsprechung auch in der Wählerschaft.



Freilich lassen sich in einzelnen Sachfragen sowohl bipolare wie auch tripolare Muster ermitteln. Tripolarität findet sich in Fragen der Aufnahme von UNO-Kontinentsflüchtlingen, der Verbindlichkeit von EGMR-Urteilen und bezüglich der Chancengleichheit von Ausländern und Schweizern. Hier unterscheiden sich die SP-Wähler am deutlichsten von denen der SVP, während sich FDP- und CVP-Wähler nahe beieinander aber etwa gleich weit von den beiden Polen entfernt finden. Das alte Links-rechts-Muster «SP gegen den Rest» findet sich am stärksten bei klassischen Wirtschaftsfragen wie höheren Sozialausgaben, stärkerer Besteuerung höherer Einkommen oder der Aufhebung des Bankgeheimnisses im Inland. Neuartige bipolare Muster ergeben sich bei einem geteilten Bürgerblock, zum Beispiel bei der Erhöhung des Rentenalters (einzig von FDP-Wählern etwas stärker befürwortet) oder der Nutzung der Atomenergie, Geldern für die ausserfamiliale Kinderbetreuung oder der erleichterten Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation, wo die SVP isoliert ist. Aber auch die beiden Mitteparteien sind sich des Öftern uneinig, etwa beim Umweltschutz.



4. Motive des Wahlentscheids

 



Eine zentrale Hauptfrage politischen Verhaltens lautet: Welche Gründe veranlassen eine Wählerin, ihre Stimme für eine bestimmte Partei abzugeben?



1. Sozial-strukturelle Bindungen:

 Gemäss der ältesten Schule der internationalen Wahlforschung

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 ist die Wählerin eingebunden in gesellschaftliche Organisationen, die ihre individuellen Interessen (z. B. als Unternehmerin, Arbeiterin, Bäuerin) auf politischer Ebene zuverlässig vertritt. Nach dieser Theorie bestimmen gesellschaftlicher Status oder die Zugehörigkeit zu einer Schicht auch den Wahlentscheid. Für den Einfluss der Sozialstruktur sprechen in der multikulturellen Schweiz heute vor allem die sprachregionalen Unterschiede des Wahl- und Abstimmungsverhaltens, die sich historisch nur langsam verändern (Linder/Zürcher/Bolliger 2008:21–65). Während der Mainstream der Umfrageforschung den sozial-strukturellen Merkmalen von Einkommen, Bildung oder Berufsstatus der einzelnen Wähler keine grosse Bedeutung zumisst, zeigt eine vertiefte Studie (Leimgruber 2007), dass der Stadt-Land-Gegensatz auch von sozialen Milieus geprägt ist. So stimmen z. B. Ärzte oder Juristen trotz gleicher Ausbildung in ländlichen Gebieten konservativer als ihre Berufskollegen in der Stadt. Der Effekt ist aber nicht allein einem vorbestehenden Milieu zuzuordnen. In der Entscheidung von Ärzten oder Juristen, in der Stadt oder auf dem Land tätig zu sein, drücken sich nicht zuletzt unterschiedliche Vorlieben für städtisches oder ländliches Sozialleben aus, die auch unterschiedliche politische Präferenzen einschliessen können. Die Stadt-Land-Migration führt damit auch zur Neubildung örtlich-sozialer Milieus. Der Einfluss des Elternhauses auf das Wahlverhalten ihrer Söhne und Töchter wurde erstmals von Linder (1998) untersucht. Die These, wonach der Wahlentscheid der Kinder in hohem Mass durch die politische Sozialisierung durch das Elternhaus mitbestimmt ist, wurde von Lutz (2009) bestätigt. Der Einfluss variiert freilich für verschiedene Parteien und hängt ab vom politischen Interesse im Elternhaus. Am stärksten ist der Einfluss in CVP-parteinahen Elternhäusern von Vätern auf ihre Söhne, und katholische Nachkommen bewahren ihre konservative Neigung häufiger als nicht katholische. Das Elternhaus, so Lutz, ist damit ein wichtiger Faktor für die Stabilität des Wahlverhaltens.



Richten wir den Blick nun auf den

Wandel

, so haben zwei der historisch bedeutsamsten sozial-strukturellen Bindungen mit der Veränderung der einstigen Milieuparteien zu Volksparteien an Bedeutung verloren. Die SP, einst Arbeiterpartei, vertritt zwar nach wie vor ein dezidiert linkes Programm, ist aber zu einer Partei gut ausgebildeter Berufe vor allem des service public geworden. Am stärksten von der Auflösung ihres einstigen Milieus ist die CVP betroffen. Ihre Mehrheitsstellung in den katholischen Landkantonen hat sie längst verloren, und die religiös ungebundene SVP macht ihr die einstige Stammwählerschaft streitig. Mit einem Katholikenanteil von rund 75 Prozent ist die CVP zwar nach wie vor eine Partei katholischer Wählerinnen und Wähler, aber eben keineswegs die Partei aller Katholiken.



2. Sozial-psychologische Faktoren:

 Zu diesen gehören das Interesse für Politik, Einstellungen zu bestimmten politischen Themen oder die Sympathie für eine bestimmte politische Partei oder Persönlichkeit. Nach Ansicht des sozial-psychologischen Ansatzes der sog. «Michigan-Schule» bilden sich solche Einstellungen im frühen Erwachsenenalter heraus und bleiben im späteren Leben zumeist konstant. Darum sieht diese Theorie das politische Verhalten weit weniger eingebunden in die vorgegebene Sozialstruktur. Für den Wahlentscheid der schweizerischen Wählerschaft nun erwiesen sich die sozial-psychologischen Faktoren als die einflussreichsten: Die Nähe zu einer politischen Partei bildet das gewichtigste Motiv für den Wahlentscheid. Das ist deshalb erstaunlich, weil die Parteibindungen der schweizerischen Wählerschaft in den letzten 30 Jahren einer starken Erosion ausgesetzt waren. Konnten sich 1971 noch 60 Prozent aller Wahlberechtigten mit einer bestimmten politischen Partei identifizieren, so sank dieser Anteil in den Wahlen von 2015 auf 42 Prozent (eigene Berechnungen basierend auf Selects 1971–2015).



Die internationale Wahlforschung behauptet seit Langem, dass Sachfragen bei der Parteiwahl dann eine Rolle spielen, wenn sie den Wählern gut bekannt sind, Probleme höchster Priorität ansprechen und stark polarisierend wirken (Campbell et al. 1960:170). Gilt das auch für die Schweiz, wo die Stimmbürgerschaft gesondert über Sachfragen abstimmen kann? Empirische Untersuchungen zeigen, dass Wahlen und Abstimmungen keineswegs zwei verschiedene Paar Schuhe sind; jedenfalls werden Wahlen durch die Referendumsdemokratie weniger entlastet, als man dies aufgrund institutioneller Überlegungen erwarten dürfte. So vermochte die SVP bei den vier zurückliegenden nationalen Wahlen mit ihrer pointierten Position gegen die europäische Integration ein zusätzliches Wählerpotenzial zu mobilisieren, während umgekehrt die integrationsfreundliche Wählerschaft bevorzugt FDP oder SP wählte (Kriesi 2005). Hier lässt sich durchaus von einem Realignment (der Neubildung von Parteibindungen) statt von einem Dealignment (deren Schwächung) sprechen, welches sich auf der Basis einer neuen Konfliktlinie

pro/kontra aussenpolitische Öffnung

 vollzieht (Dalton 2006; Ladner 2006; Kriesi 2015).



Der Einfluss einer bestimmten Sachfrage auf den Wahlentscheid ist allerdings nicht konstant. So hat die Präferenz für oder gegen die Nutzung der Kernenergie den Wahlentscheid im Jahr 2003 viel stärker beeinflusst als bei den beiden Wahlen zuvor (Selb/Lachat 2004:24–25). Das stimmt überein mit Campbells These: Die Wahlen 2003 fanden nur wenige Monate nach zwei Volksabstimmungen über die Atomfrage statt, während 1995 und 1999 das Thema der Kernenergie nicht auf der politischen Traktandenliste stand. Die japanische Kernkraft-Katastrophe Fukushima im März 2011 dagegen scheint die Wählerinnen und Wähler bei den Parlamentswahlen des gleichen Jahres nicht besonders beeinflusst zu haben. Die Gründe dürften darin liegen, dass Bundesrat und Parlament schon vor den Wahlen erste Schritte für einen langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen hatten und dass die Frage von den Parteien im Wahlkampf kaum thematisiert wurde. Umgekehrt nannten im Vorfeld der Wahlen 2015 44 % aller Wählerinnen die Migration als wichtigstes Problem – doppelt wo viele wie vor den vorherigen drei Wahlen und dreimal so viele wie bei anderen Themen (Lutz 2016:26).



3. Nutzenüberlegungen:

 Nach der ökonomischen Theorie der Politik (Downs 1957) bilden Nutzenüberlegungen das zentrale Motiv politischen Verhaltens. Schloeth (1998:161 ff.) fand allerdings wenige Anhaltspunkte für einen direkten Einfluss wirtschaftlicher Nutzenmotive auf den Wahlentscheid. Wer sich beispielsweise 1995 von der Beschäftigungs-Unsicherheit bedroht fühlte, wählte nicht stärker die SP als andere Parteien. Es gibt auch kaum Hinweise dafür, dass Arme anders– z. B. häufiger für die SP – wählen als die übrige Wählerschaft (Farago 1998:255 ff.). Dem ökonomischen Theorieansatz der Politik entsprechen indessen die strategischen Überlegungen der Wählerschaft: Um ihre Stimme in der Ständeratswahl nicht zu verschenken, bevorzugen die Wählerinnen und Wähler die chancenreichsten Kandidaten und Parteien (Kriesi 1998), also meist jene der politischen Mitte.



5. Die schweizerische Wählerschaft zwischen Stabilität und Wandel



In der schweizerischen Wählerschaft schien es bis Mitte der 1990er-Jahre zwei Konstanten zu geben (Nabholz 1998:17 ff.). Erstens ging die Wahlbeteiligung kontinuierlich zurück. Zweitens blieb die aggregierte Volatilität, als Mass für Veränderungen der Wähleranteile der einzelnen Parteien, lange tief. Beide Aussagen stimmen aber nur noch bedingt; die Wahlbeteiligung ist wieder leicht angestiegen oder konnte sich zumindest halten, und die Veränderung der Wähleranteile ist seit der Jahrtausendwende auf europäisches Niveau angestiegen. Ebenso hat der Anteil der Wechselwähler (individuelle Volatilität) in den Wahlen der letzten zwanzig Jahre stark zugenommen.



Hinter diesem Wandel stand zunächst die Ökologiebewegung, die sich in den 1980er-Jahren parteimässig formierte und heute ein gutes Zehntel der Wählerschaft zu gewinnen vermag. Den stärksten Umbruch bewirkte die SVP, die seit Beginn der 1990er-Jahre ihren Wähleranteil von 12 auf annähernd 30 Prozent steigerte und damit zur wählerstärksten Partei aufstieg. Abspaltungen der Grünen wie der SVP wiederum liessen die Grünliberalen und die BDP aufs Parkett treten, von denen nach den Wahlen 2011 die Formation einer «Neuen Mitte» mit dem Koalitionspartner CVP erwartet wurde. Diese scheiterte, und die BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf verzichtete 2015 auf eine Wiederwahl.



Diese grossen Umwälzungen im schweizerischen Parteiensystem werden im nächsten Kapitel diskutiert. Hier sei aber auf den gesellschaftlichen Wandel hingewiesen, der hinter den Veränderungen des Parteiensystems steht: Von den klassischen vier gesellschaftlichen Spaltungen (Cleavages), wie sie Lipset und Rokkan (1967) als Erscheinung in allen europäischen Ländern vorfanden, sind deren zwei relativ unbedeutend geworden: Der Graben zwischen

Katholiken und Protestanten

, der einst Kirchentreue und Laizismus trennte, hat sich eingeebnet; der Milieukatholizismus hat sich aufgelöst. Konflikte zwischen den

Sprachgruppen

, die in anderen Ländern wie Belgien oder Kanada eine wachsende Rolle spielen, zeigen sich zwar gelegentlich an Abstimmungssonntagen als «Röstigraben», werden aber von den politischen Parteien sehr selten ausgespielt. Das gilt allerdings nicht für die Gegensätze zwischen

Kapital und Arbeit

 sowie zwischen

Stadt und Land

. Diese werden von SP bzw. SVP als Konfliktlagen stark thematisiert und zur Mobilisierung benutzt, und auch in der Stimmbürgerschaft nehmen die politische Spaltung zwischen Kapital und Arbeit sowie der Stadt-Land-Gegensatz zu. Zudem werden zwei neue gesellschaftspolitische Spaltungen sichtbar. Die erste bildet sich am Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie und hat sich in der Schweiz ähnlich wie in den meisten westlichen Industriestaaten entwickelt. Die zweite Konfliktlinie bildete sich am Thema

aussenpolitischer Öffnung oder Schliessung

. Diese steht im generellen Zusammenhang mit der Globalisierung, hat aber für die Schweiz wegen der seit 1992 offenen Frage der EU-Integration eine andauernde Virulenz entwickelt. Diese beiden neuen Spaltungen verlaufen teils quer zu den historischen Cleavages und sind weniger als die Letzteren an bestimmte soziale Schichten gebunden. Die Konfliktpotenziale in der schweizerischen Gesellschaft sind grösser geworden, gleichzeitig aber auch unübersichtlicher.



C. Die aktive Zivilgesellschaft



1. Das Milizsystem



1. Begriff und Funktionen:

 Milizsystem ist die nur in der Schweiz übliche Bezeichnung für die freiwillige, nebenberufliche und ehrenamtliche Übernahme von öffentlichen Aufgaben und Ämtern. Zumeist nicht oder nur teilweise entschädigt, gehört Miliztätigkeit zum weiteren Bereich von Arbeit, die nicht auf Erwerbsziele gerichtet ist. Auf sozial oder öffentlich motivierter Nichterwerbsarbeit beruhen zahllose kulturelle, soziale oder sonstwie gemeinnützige Organisationen.

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 Freiwilligenarbeit in diesem erweiterten Sinn ist ein Merkmal jeder Zivilgesellschaft. Sie hat aber in der Schweiz im politischen Bereich eine besondere Bedeutung, da auch sehr viele öffentliche Funktionen und Aufgaben milizmässig erbracht werden. Als wichtiges Beispiel sei hier die gesellschaftliche Integration ausländischer Jugendlicher genannt, für welche die Sportvereine einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten (Lamprecht et al. 2011).



Das Milizsystem hat historische Wurzeln, die weit zurückreichen. Zu diesen gehört etwa das bereits erwähnte «Gemeinwerk», zu dem in Gemeinden des Kantons Wallis alle erwachsenen Männer für die Errichtung und den Unterhalt der Suonen (Wasserkanäle aus den Hochtälern) periodisch herangezogen wurden (Niederer 1956). Das Milizsystem erfüllt aber auch eine wichtige Funktion in der heutigen schweizerischen Demokratie: Bürgerinnen und Bürger stellen Fähigkeiten aus ihrem Zivilleben und einen Teil ihrer Zeit zur Erfüllung öffentlicher Funktionen und Aufgaben zur Verfügung. Damit wird es überhaupt erst möglich, sich in einem Kleinstaat neben den Bundes- und 26 kantonalen Behörden auch noch rund 2300 Gemeinden als feingliedrig strukturiertes Politiksystem zu leisten (Müller 2015a). Nach Geser et al. (1987) erweitert so die Kleingesellschaft ihre beschränkten Fähigkeiten zur Arbeitsteilung und Differenzierung sowie die begrenzten Ressourcen für eine professionelle Aufgabenerfüllung.

 



Eine dritte, demokratietheoretische Funktion kommt hinzu: Das Milizsystem erweitert die Zahl der Aufgaben und Rollen, in denen Bürgerinnen und Bürger, entweder gewählt oder ernannt, über Wahlen und Abstimmungen hinaus zu einer qualifizierten politischen Partizipation gelangen. Das Milizsystem ermöglicht also nicht nur eine politische Kultur der «Selbstverwaltung» (Bäumlin 1961), sondern eröffnet vielen Personen die Möglichkeit erweiterter demokratischer Teilnahme. So führt das Milizsystem auch zu anderen Zugängen und einer besonderen Form der Qualifizierung nebenberuflicher politischer Eliten. Nach gängiger Vorstellung verhindert das Milizsystem die Herausbildung einer besonderen politischen Kaste. Zwei Einwände sind zu machen: Der erste betrifft die soziale Selektivität des Milizsystems (siehe unten, Punkt 4). Zweitens finden sich auch immer wieder Gegenbeispiele starker Kooptation in öffentlichen Ämtern, deren Besetzung nicht durch allgemeine Wahlen, sondern durch Ernennung der Behörden erfolgt.



2. Verbreitung:

 Das Milizsystem ist auf allen Ebenen verbreitet. Zu milizmässig erbrachten politischen Mandaten, Ämtern und Aufgaben gehören:



– Alle Parlamentsmandate auf Ebene von Bund, Kantonen und Gemeinden,



– Ein erheblicher Teil der Exekutivämter auf Gemeindeebene, vor allem bei den kleineren Gemeinden,



– Ein Teil der Richterämter auf Stufe der Bezirke und Kantone,



– Kommissionen und Gremien der Spezialverwaltung auf Ebene der Gemeinden (z. B. für Schulen und sonstige Daueraufgaben), der Kantone und des Bundes (z. B. der Wissenschafts- und Hochschulpolitik),



– Ein erheblicher Teil der leitenden Positionen und Ämter der politischen Parteien und der Verbände.



Aus politologisch-soziologischer Sicht fallen die Bewertungen des Milizsystems unterschiedlich aus. Geser et al. (1987) unterstreichen am Beispiel der Gemeinden die Bedeutung des Milizsystems für die Funktionsfähigkeit einer dezentralen politischen Kultur in der Kleingesellschaft. Germann (1981 und 1995) weist aber auch auf die Grenzen des Milizsystems hin, das in vielen Verwaltungsbereichen professionellen Kriterien nicht mehr genügt oder organisatorisch die zunehmende Komplexität nicht mehr bewältigen kann. Die frühe politologische Kritik beanstandete das Milizparlament beim Bund: Dieses weise schwerwiegende Funktionsdefizite aus, die nur durch echte Schritte zur Professionalisierung gelöst werden könnten (Gruner 1974; Riklin/Möckli 1991). Parlamentsreformen haben in der Zwischenzeit viele der kritisierten Mängel behoben, und Z’Graggen (2009a) zeigt im internationalen Vergleich, dass von einer vollen Professionalisierung wenig Vorteile zu erwarten wären. Es bleibt allerdings der Einwand, dass das Milizsystem zur ideologischen Fiktion geworden ist, welches den halbprofessionellen Charakter der eidgenössischen Räte verhüllt (Bütikofer/Hug 2010; Bütikofer 2014).



3. Die Verbindung von Miliz- und professioneller Verwaltung:

 Das Milizsystem ist nicht einfach eine ältere Form von Verwaltung, die durch eine «modernere» professionelle Aufgabenerfüllung abgelöst wird. Vielmehr gehen professionelle und Milizverwaltung situationsbedingt stets neue Verbindungen ein. Bei den Gemeinden z. B. findet Geser (1987) einen deutlichen Zusammenhang zur Grösse. Erwartungsgemäss sind kleine Gemeinden fast ausschliesslich milizmässig organisiert, während bei den grösseren die professionelle Verwaltung dominiert. Allerdings verschwindet bei den grösseren Gemeinden die Milizverwaltung nicht: Auch diese nutzen weiterhin die Möglichkeiten des Milizsystems kreativ für neue politische Funktionen und Einzelaufgaben. Entsprechend findet sich z. B. eine grosse Typenvielfalt in der Verbindung haupt- und nebenberuflicher Ämter in den Gemeindeexekutiven. Bei eidgenössischen Parlamentariern, die nach wie vor einem Beruf ausserhalb der Politik nachgehen, tut sich ein Dilemma auf: Milizparlamentarier fühlen sich näher am Puls der Bevölkerung, sind aber auch abhängiger in der Informationsbeschaffung durch Dritte.



4. Soziale Selektivität:

 Die grosse Offenheit des Milizsystems für die Rekrutierung politischer Eliten durch demokratische Wahl oder Ernennung führt nicht zu einer entsprechenden sozialen Offenheit. Vielmehr ist auf allen Ebenen eine deutliche Untervertretung unterer Bildungs- und Einkommensschichten sowie einfacher Berufsgruppen zu beobachten. Das mag mit fachlichen Anforderungen zusammenhängen, welche die Milizangehörigen eben als «Funktionseliten» prägen. Ein zweiter wichtiger Umstand kommt dazu. Die Unentgeltlichkeit oder bloss teilweise Entschädigung führt zu einer sozialen Diskriminierung, die oft übersehen wird: Arbeit für die Öffentlichkeit ohne Einkommen setzt privates Einkommen ohne Arbeit voraus. Damit erschwert das Milizsystem – je nach Stufe und Aufgabe – den Zugang unterer Schichten, von Alleinverdienenden und zum Teil auch von Selbständigerwerbenden.



5. Rekrutierungsprobleme:

 Während in der kantonalen und nationalen Politik noch kein Personalmangel herrscht, scheint die Lokalpolitik von einer sinkenden Bereitschaft zum öffentlichen Engagement betroffen (Müller 2015a). Nach Befragungen von Geser et al. (2003:30 ff.) können die schweizerischen Lokalparteien zwar ihre Anhängerschaft insgesamt halten, die Zahl der aktiven Mitglieder hingegen ist deutlich zurückgegangen. Neun von zehn Lokalparteien finden es schwierig, ihre Parteiämter zu besetzen, und jede zweite beklagt einen Mangel an Kandidierenden für den Gemeinderat. Als Hauptursache dieser schleichenden Krise des Milizsystems wird in der öffentlichen Diskussion ein rückläufiges Interesse an der Lokalpolitik genannt. Dies wiederum könnte vielerorts mit der gestiegenen geografischen Mobilität der Bevölkerung zu tun haben. Dass der höhere wirtschaftliche Druck seit den 1990er-Jahren Arbeitgeber zunehmend davon abgehalten hat, Personen für öffentliche Ämter freizustellen, mag ebenfalls eine Rolle spielen. Verschärfend auf das Rekrutierungsproblem wirkt sich aus, wenn Gewählte nicht mehr so lange in ihren Ämtern verweilen wie früher (Geser et al. 2011). Eine Folge davon sind oft Gemeindefusionen.



6. Intransparenz von Leistung und Gegenleistung:

 In der Nutzung ziviler Fähigkeiten der Gesellschaft durch das politische System liegt einer der Hauptvorteile des Milizsystems. Sie hat auch ihre Kehrseite. Mit der engen Verflechtung ziviler und politischer Funktionen werden auch Leistung und Gegenleistung intransparent. Wer sich für politische Ämter zur Verfügung stellt, wird Gegenleistungen erwarten, z. B. Einfluss, Prestige oder Entschädigung. Berufsmässige Politik entschädigt direkt, und als Gegenleistung zum Lohn gibt es auch Unvereinbarkeitsregeln oder Ausstandspflichten, mit denen Interessenkollisionen zwischen privaten und öffentlichen Interessen des Berufspolitikers vermieden werden. Nicht so im Milizsystem. Es gibt keine angemessene Entschädigung. Ausstandsregeln und Unvereinbarkeiten können von einer Amtsperson weniger verlangt werden, wenn sie bloss nebenberuflich für die Politik arbeitet. Mehr noch: Das Ziel des Milizsystems, die hauptberuflichen Beziehungen und Fähigkeiten der Politikerin zu nutzen, provoziert gerade Interessenkollisionen. Vom Gärtnermeister, der im Gemeinderat sitzt, wird zwar bei der Vergabe von Gärtnerarbeiten durch die Gemeinde erwartet, dass er hier besonders sorgsam zwischen dem öffentlichen und seinem persönlichen Interesse unterscheide. Dieselbe Erwartung gilt für die Parlamentarierin, die Verwaltungsratsmandate von Banken innehat und in der vorberatenden Kommission für die Revision des Bankrechts mitwirkt. Die mögliche Kollision von «privatem» und «öffentlichem» Interesse im Milizsystem verlangt von den Amtsträgern die Bereitschaft, öffentliche und private Rollen zu trennen. Die öffentliche Meinung fordert eine moralische Standfestigkeit, sich nur jene Vorteile zu verschaffen, die auch öffentlich vertretbar sind. Aber dieselbe öffentliche Meinung zeigt sich schizophren, wenn sie von Milizpolitikern die Vermischung verschiedener öffentlicher Interessen verlangt: Schickt die Wählerschaft einen Regierungsrat ins eidgenössische Parlament, so wird er nicht selten dazu aufgefordert, für den eigenen Kanton besondere Vorteile herauszuholen. Diese Situation geht über ein persönliches Dilemma hinaus, denn das Milizsystem selbst ist ambivalent. Es provoziert ungewollte Interessenkollisionen, legitime und weniger legitime Interessenverflechtungen. Statt direkter Bezahlung fördert es indirekte und oft intransparente Entschädigung von Leistungen. Die scheinbar höhere Unabhängigkeit des unbelohnten Bürgerpolitikers hat also auch ihren Preis.



2. Medien und politische Öffentlichkeit


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