Pralinen unter Palmen

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Pralinen unter Palmen
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Sandra Kudernatsch

Pralinen unter Palmen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

27. Februar

28. Februar

1. März

2. März

3. März

4. März

5. März

6. März

7. März

8. März

9. März

10. März

11. März

12. März

13. März

14. März

15. März

16. März

17. März

18. März

Epilog

Impressum neobooks

27. Februar

„Hände hoch oder ich schieße.“

Das war eine ernst gemeinte Aufforderung, denn ein Revolver war direkt auf meine blasse Stirn gerichtet.

Ich war umzingelt von furchterregend angemalten Indianern, Cowboys in fransigem Leder und diversen maskierten Superhelden, die ein irres Geschrei verursachten. Es war ein kalter Tag und die trockene Heizungsluft stand unangenehm im Zimmer. Staubkörnchen tanzten im schwachen Sonnenlicht, das durch das Fenster zu uns hereindrang.

Meine Situation war ausweglos. Die kleinen Gestalten liefen wild durcheinander und die Geräuschkulisse erinnerte stark an den bevorstehenden Weltuntergang.

„Bitte nicht“, sagte ich mit furchterfüllter, zittriger Stimme und hob wie befohlen brav meine Arme über den Kopf. Dabei blieb ich an meinen drahtverstärkten roten Pippi-Langstrumpf-Zöpfen hängen und fluchte leise. Wieder ein Kratzer mehr.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich mindestens fünf anmutige Prinzessinnen in langen rosafarbenen, salbeigrünen und azurblauen Gewändern. Dazwischen befand sich ein Frosch. Die Edeldamen flüsterten verschwörerisch hinter vorgehaltenen Händen und zeigten immer wieder auf den Frosch. Irgendwann nahm eine von ihnen all ihren Mut zusammen und trat aus dem Kreis ihrer Freundinnen hervor. Sie spitzte ihre feuerrot angemalten Lippen und kniff ihre heftig geschminkten Augenlider zusammen. Ich hörte den lauten Schmatzer des Kusses, den sie dem Frosch aufdrückte, deutlich – sogar über die Siegesfreude hinsichtlich meiner Gefangennahme hinweg.

„Warum ist er denn immer noch ein Frosch“, fragte die Prinzessin in die Runde und rieb nachdenklich ihr Gesicht. Dabei verschmierte sie erfolgreich ihre Schminke, bis sie aussah wie der Frontmann von Kiss.

Die Beistehenden schwiegen.

„Im Märchen funktioniert das doch jedes Mal.“ Sie drehte sich ratlos mehrmals um ihre eigene Achse. „Du! Küss ihn“, forderte sie dann mit erhobenem Zeigefinger eine andere aus ihren Reihen auf.

Nils blieb jedoch Nils, auch nachdem jede der fünf Prinzessinnen ihm ein Küsschen auf die Wange gehaucht hatte.

Ich lächelte in mich hinein, während mich die Indianer lautstark umtanzten. Ein Wunder, dass ich noch nicht an einen Totempfahl gefesselt war. Ach nein, wir hatten ja gar keinen. Zum Glück.

Aber nun von vorn.

Nein, ich nahm keine Halluzinogene. Ich war auch keine Prinzessin, die in einer Traumwelt voller Märchengestalten, dem Guten und Bösen, dem Schönen und Biestigen lebte. Das war mein Alltag – obwohl heute, genau genommen, ein besonderer Tag war. Wir feierten Fasching bei uns im Kindergarten und alle waren noch ausgelassener und fröhlicher als sonst. Meine liebe Kollegin Eva und ich hatten unsere Mühe, die Kinder zum Schlafen hinzulegen und danach ruhig zu halten.

„Selbst wenn ihr nicht schlaft, macht wenigstens die Augen zu und ruht“, rief Eva nach einer Weile und schmiss verzweifelt die Arme in die Luft. „Manchmal frage ich mich, warum ich nicht einfach Briefträgerin geworden bin.“ Sie ließ sich theatralisch in den nächstbesten Stuhl sinken.

„Du möchtest also bei Wind und Wetter in die Pedale treten“, erkundigte ich mich schmunzelnd, während ich einem murrenden Mädchen den Pyjama überstreifte. „Den ganzen Tag ohne Toilette auskommen und dich mit großen Hunden anlegen, die dich nicht auf ihren Hof lassen wollen?“

Eva rollte mit den Augen, weil ich einen Nerv getroffen hatte.

Dann kam der kleine Frosch Nils zu ihr herüber gehüpft.

„Ich will mich nicht umziehen“, jammerte Nils. „Ich will im Kostüm schlafen.“ Er stapfte mit seinem Plüschschuh auf den Boden vor Eva, stemmte die Hände in die Hüften und sah dabei unglaublich niedlich aus. Bis er leider von den anderen Kindern begeistert in seinem Wunsch unterstützt wurde.

Eva erhob sich mühsam aus dem Stuhl und hockte sich vor Nils auf den Boden, sodass die beiden auf Augenhöhe waren.

„Willst du wirklich auf deinen Spiderman-Schlafanzug verzichten“, fragte sie ihn mit nach oben gezogenen Brauen.

Der kleine Junge überlegte fieberhaft.

„Nein“, sagte er schließlich und begann, sich flink und noch an Ort und Stelle zu entkleiden.

„Das ging ja einfach“, formte Eva lautlos mit den Lippen in meine Richtung.

Glücklicherweise orientierten sich die anderen Kinder erneut an Nils‘ Wunsch und ließen sich bereitwillig in ihre Schlafanzüge stecken.

Keine zehn Minuten später lagen die Kleinen endlich in ihren Betten – jedoch putzmunter, flüsternd und zappelnd. In dreißig Jahren würden sie anders denken und den täglichen Mittagschlaf als puren Luxus schätzen lernen.

Eva schlief, wie jeden Tag um diese Zeit, noch vor den Knirpsen ein. Ihr Kopf rollte auf meine Schulter und blieb dort liegen, bis sie anfing zu sabbern. Sie war wirklich eine tolle Kollegin, ließ sie mich doch mit meinen Gedanken und den vereinzelt munteren Kindern allein.

Ich war hellwach und hatte gute Laune. Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, rief ich mir die Szene mit dem Frosch und den Prinzessinnen von vorhin wieder in Erinnerung und sinnierte.

Auf meinem Gesicht richtete sich plötzlich ein meterbreites Grinsen häuslich ein, denn ich musste seit langer Zeit keine Frösche mehr küssen. Meinen ganz persönlichen Prinzen hatte ich nämlich schon vor vier Jahren gefunden! Oder besser gesagt, ich hatte mich finden lassen.

Die Geschichte unserer Begegnung könnte aus dem Drehbuch eines romantischen Hollywoodfilms stammen.

Ich bin freitags nach der Arbeit völlig gestresst und mit dumpfen Kopfschmerzen noch im Supermarkt gewesen. Wie immer ärgerte ich mich darüber, dass meine Lieblings-Joghurtsorte ganz oben im Kühlregal stand. Ganz oben hieß übersetzt außerhalb der Reichweite eines Zwerges wie mir. Also suchte ich, auch wie jedes Mal, in der Masse der Einkaufswütigen jemanden, den ich um Hilfe bitten konnte. Die Kunst bestand darin, einen großen Mann zu finden, der möglichst ohne weibliche Begleitung unterwegs war, denn ich wollte keinesfalls der Auslöser für eine Eifersuchtsszene sein.

Ich ließ den Blick über die Menschen gleiten und dachte mir hypothetische Lebensgeschichten und Beziehungen zu jedem Einzelnen aus, bis meine Augen schließlich interessiert an einem sehr langen und dünnen Mann hängenblieben. Erstaunlicherweise schaffte er es, sein Handy zu prüfen, obwohl sich in seinen Armen alle möglichen Lebensmittel türmten.

„Entschuldigung“, räusperte ich mich zaghaft und machte einige Schritte auf ihn zu. „Können Sie mir bitte kurz helfen?“

Es folgte unbändiges Wimpernklimpern meinerseits, um möglichst hilfsbedürftig und gleichzeitig liebenswürdig zu wirken. Der Mann blickte verwirrt von seinem Handydisplay auf und seine stahlgrauen Augen trafen mich.

Ich stellte das Wimpernklimpern sofort ein, denn er war deutlich jünger, als er von Weitem gewirkt hatte. Sprich: er war heiß. Warum musste ich ausgerechnet heute ungeschminkt herumrennen?

„Mein Lieblingsjoghurt steht immer so weit oben, dass ich nicht heranreiche“, brachte ich hervor, hob entschuldigend die Schultern und lächelte verlegen. Multitasking war wirklich nicht mein Ding.

Die Miene des Typs erhellte sich, wobei sich auf seiner linken Wange ein kleines Grübchen bildete. Wie niedlich. Und wirklich heiß.

„Dann komme ich ja wie gerufen“, sagte er lässig. „Du weist den Weg, ich folge.“

Flirtete der etwa mit mir oder bildete ich mir das nur ein?

 

Ruckizucki drehte ich mich um und stolzierte befangen zu den Joghurtbechern. Dass er mir mit langen Schritten auf den Fersen war, spürte ich nur allzu deutlich. Nur nicht stolpern, dachte ich, bleib cool.

Abrupt blieb ich stehen.

„Da wären wir. Diesen nehme ich immer.“ Ich zeigte mit dem Finger in die vage Richtung, während meine Augen weiter den Typen anstarrten.

Als er nach oben langte und den Becher umgriff, rutschte sein olivgrünes T-Shirt etwas nach oben und entblößte die nackte, glatte Haut darunter.

„Hmm, Vanille“. Mit dem Joghurt in der Hand drehte er sich zu mir um und ertappte mich dabei, wie ich die blonden Härchen an seinem flachen Bauch zählte. Hoffentlich bemerkte er nicht, dass ich mich fragte, wie es wohl einige Zentimeter tiefer aussah.

„Wie ich sehe, stehst du auf Süßes“, grinste er und deutete auf seine perfekte Körpermitte.

Ja, er flirtete definitiv mit mir. Himmelherrgott, wie peinlich! Vermutlich sah man mir genau an, was ich dachte. Aber frau durfte ja wohl auch ab und an Kopfkino haben?

Mein Gesicht wurde heiß vor Scham. Ein sicheres Indiz dafür, dass es knallrot leuchtete. Ich blickte schnell zu Boden und drehte mich von ihm weg.

„Danke“, presste ich zwischen rauen Lippen hervor und knüllte den Einkaufszettel in meiner Faust zu einem klammen Ball zusammen, während ich auf dem Absatz kehrt machte und den Mann einfach stehen ließ. Er nahm es mit einem leisen Kichern auf die leichte Schulter.

Wenige Augenblicke später, meine Gesichtsfarbe hatte sich inzwischen normalisiert, konzentrierte ich mich an der Gefriertruhe auf die Eissorten, als Mister Zweimeter zielgerichtet auf mich zukam.

„Du hast mich vorhin einfach mit deinem Joghurt stehen lassen. Hast wohl das Interesse verloren“, sagte er mit diesem ganz bestimmten Unterton, der dazu führte, dass eine stinknormale Aussage zweideutig klang.

Wieder schoss mir die Röte mit voller Wucht ins Gesicht.

Er drückte mir den Joghurtbecher in die Hand, während ich meine Augen umherschweifen ließ, um ihn bloß nicht anzustarren.

„Super. Ähm, danke“, bedankte ich mich zum zweiten Mal bei ihm und entfaltete und faltete weiter meinen lädierten Einkaufszettel. Ich durfte bloß nicht vergessen, Toilettenpapier zu kaufen, dachte ich.

„Kein Ding, hübschen Mädels hilft man doch gerne.“ Er lachte aus vollstem Herzen und deutete eine minimalistische Verbeugung an. „Die Wahrheit ist, ich hätt‘ ihn dir auch gekauft, aber mein Kontostand lässt das nicht zu“.

Mit einem Kopfnicken verabschiedete er sich und ging entspannten Schrittes, die Arme voller Lebensmittel, in Richtung Kasse davon.

Auch Tage später dachte ich noch immer permanent an die außergewöhnliche Begegnung.

Der Mann gefiel mir. Und das, obwohl er viel zu kleine T-Shirts trug. Oder gerade deshalb?

Hoffnung machte sich breit. Würde ich ihn vielleicht in der kommenden Woche wieder im Supermarkt sehen? Das sollte eigentlich ein Klacks sein. Ich müsste nur zur selben Zeit wieder dort sein. Und super aussehen und lustig und toll sein.

Doch wie es das Hollywood-Drehbuch wollte, musste ich gar nicht so lange warten.

Als ich nämlich eines darauffolgenden Abends meinen leckeren Vanillejoghurt löffelte, wunderte ich mich, dass ich plötzlich Tinte an den Fingern hatte. Ich wusch alles ab und widmete mich anschließend wieder dem Joghurt.

Nur, um ein weiteres Mal überall Farbe zu entdecken.

Mit gerunzelter Stirn inspizierte ich den Joghurtbecher genauer und wurde tatsächlich fündig. In hohen, eng stehenden Buchstaben stand dort gekritzelt „Willst du teilen? M.“. Darunter war eine Handynummer angegeben.

„Oh Manno man“, kreischte ich.

Aufgeregt hüpfte ich durch die Wohnung. Der Joghurt war längst vergessen. An Essen war sowieso nicht mehr zu denken, als mir einfiel, dass meine Antwort noch ausstand.

Ich tüftelte und zerbrach mir den Kopf, bis ich sage und schreibe neunzig Minuten später endlich die perfekte Nachricht zusammengestellt und abgeschickt hatte.

Seither waren Mike und ich unzertrennlich. Arsch auf Eimer, Topf mit Deckel, Kinderschokolade und Milch. Zwischen uns passte kein Blatt Papier. Hinter unserem Rücken hießen wir im Freundeskreis nur „Mika“ (MIke und KAti). Das gefiel mir, weil die Zeitungen Hollywoodpaare auf die gleiche Weise tauften. Und wer mochte sich nicht einmal in seinem Leben wie ein Star fühlen?

Exakt zwei Jahre später war es dann unverhoffterweise soweit – ich fand an einem verregneten Faulenzsonntag auf dem Sofa in einem identischen Joghurtbecher einen Ring. Einen weißgoldenen Ring mit einem überaus großen und überaus funkelnden Stein.

Als ich den Sinn dieser verrückten Aktion erfasste, legte sich meine rechte Hand geschockt auf meiner Brust ab.

„Ist es das, was ich denke“, hauchte ich, beinah sprachlos. Meine Augen füllten sich mit den ersten Tränchen.

Mike rutschte von der Couch nach unten auf den Fußboden, nahm meine linke Hand in seine Pranke und fragte: „Möchtest du meine Frau werden“.

Mein Körper bebte vor Anspannung. Mike hielt die Luft an, bis sich sein Gesicht ganz blau verfärbte, und wartete darauf, dass ich ihn erlöste. Das tat ich irgendwann auch.

„Ja, natürlich“, kreischte ich. Nun heulte ich richtig vor lauter Glück. Ich stand so unter Strom, dass ich Mike beinah umgestoßen hätte, als er mich zu sich auf den Boden zog und in seine Arme schloss.

„Das wollte ich hören.“ Er strich mir liebevoll eine zentimetergroße Freudenträne von der Wange. „Ich habe schwer geschuftet für diesen Ring. Nur das Beste für meine Kati“, grinste Mike.

Ich küsste sein niedliches Grübchen und bedeckte danach sein ganzes Gesicht mit leichten Schmetterlingsbussis.

Wer hätte das gedacht? Aus mir, Katharina Bauer, würde Kati König werden. Wie gut das klang!

Noch am selben Tag begann ich mit der Planung der Hochzeit.

Danach vergingen zwei weitere Jahre, bis jedes noch so kleine Detail festgelegt und jedes unvorhersehbare Ereignis vorhergesehen war. Es war nicht einfach, Kompromisse zu finden, mit denen alle Beteiligten leben konnten. Hinzu kam, dass wir vor der eigentlichen Trauung verreisen mussten, weil ich zu keinem anderen Zeitpunkt Urlaub bekommen hatte.

Viele Tage und Nächte hauten wir uns um die Ohren, weil wir uns ganz und gar nicht über das Ziel unserer Hochzeitsreise einigen konnten. Mich zog es nach Schottland. Ich stellte es mir romantisch vor, die Flitterwochen in alten Schlössern und umgeben von satten grünen Bergen zu verbringen. Mike wollte gerne in die USA, um auf der Route 66 das Gefühl von Freiheit zu genießen, das er bei der Trauung (vermutlich) verlieren würde.

Der perfekte Kompromiss wurde erst gefunden, als meine beste Freundin Anna uns das Traumziel Seychellen vorschlug. Da es inmitten des Indischen Ozeans lag, konnte Mike sich nach Lust und Laune im Wasser tummeln und einen Sonnenbrand holen, während ich die Tage einfach nur verschlief oder bunte Vögel zählte.

Doch auch als das Hotel ausgesucht und die Reise schließlich gebucht war, war der Hochzeitsstress lange nicht vorbei. Mike überließ mir nur allzu gern die Ehre, sich über alle möglichen ausstehenden Themen den Kopf zu zerbrechen. Die Sitzordnung, Beantragungen diverser Art, Blumen, Saalmiete, Musikwünsche sowie Speisenangebot und Brautkleid waren einfach nicht sein Ding.

Ich kam oft an meine Grenzen und war froh darüber, dass mir Anna mit Rat und Tat zur Seite stand. Bloß einer Sache war ich mir hundertprozentig sicher: komme, was wolle, ich würde Mikes Nachnamen annehmen und voller Stolz für den Rest meines Lebens tragen.

Die Auswahl des Brautkleids fiel mir am allerschwersten. Sowohl Anna als auch meine Mutter gaben ungefragt ihren (sicherlich) gut gemeinten Senf dazu, was mich nur noch mehr verwirrte. Aber auch ein blindes Huhn fand mal ein Korn und so entschied ich mich für ein schlichtes cremefarbenes Kleid mit Spaghettiträgern, das durch einen royalblauen Gürtel aus Samt zum Blickfang wurde. Flatterhaft und wadenlang war es perfekt für das gebuchte Fotoshooting am weißen Sandstrand. Und vor allem betonte es meine Figur. Seit ich mit Mike zusammen war, machte ich permanent Sport. Mein Aussehen hatte sich in den vergangenen Jahren zusehends zum Positiven verändert und das wollte ich natürlich zeigen…

„Erde an Kati.“ Evas Hand wedelte vor meinem Gesicht herum und holte mich unsanft aus meiner Tagträumerei auf den Boden der Tatsachen zurück. „Sag mal, wovon träumst du denn so angestrengt?“

Dann wischte sie verlegen am Kragen ihrer Bluse herum, den sie in der vergangenen halben Stunde vollgesabbert hatte.

Das ignorierte ich lieber, nett wie ich war, und klatschte mir energisch auf die Oberschenkel. „Ach, ich habe an die bevorstehende Hochzeitsreise gedacht. Mittlerweile bin ich wahnsinnig aufgeregt. In drei Tagen geht es schon los.“

Sobald ich das aussprach, bekam ich eine Ganzkörpergänsehaut und musste mich kurz schütteln.

„So ein Quatsch, es wird superschön werden. Du wirst sehen“, beruhigte Eva mich und drückte sanft meine Hand, bevor sie aufstand, um die Kinder zu wecken. „Was soll schon schief gehen“, rief sie mir im Gehen über ihre Schulter hinweg zu.

Och, da fielen mir genügend Dinge ein. Darüber sollte ich mir lieber nicht den Kopf zermartern.

Nachdem endlich auch das letzte hinterbliebene Kind, der kleine Nils, von seiner Mutter abgeholt worden war, machte ich mich mit dem Rad auf den Heimweg zu Mike. Ich trug noch immer die ungleichen Ringelsocken und das sonnengelbe Kleid unter meinem dicken Wintermantel. Mikes große Lederschuhe hatte ich aber gegen meine eigenen Turnschuhe getauscht. Das Pippi-Langstrumpf-Kostüm hatte in unserer vorhochzeitlichen Geldknappheit nahe gelegen, denn die roten Haare und unzähligen Sommersprossen waren mir in die Wiege gelegt worden.

Ich freute ich mich über den Feierabend und ein kleines bisschen auf den bevorstehenden Urlaub und trällerte während der Radfahrt ein Lied für mich und den Plüschaffen Herrn Nielson, der vorne im Körbchen am Lenker saß.

An unserem kleinen Reihenhäuschen wurde ich im Vorgarten schon freudig von meinem schwarz-weißen Kater Moses begrüßt.

„Hallo mein Stromer, hattest du einen schönen Tag hier draußen trotz der Kälte?“

Moses strich um meine Beine, als ich mein Rad abstellte und miaute kläglich. Da war wohl jemand beinah erfroren und hatte einen Bärenhunger.

„Nanu, der Katzenpapa ist wohl auch schon zuhause? Wie kommt das denn“, fragte ich mehr an mich selbst als an den Kater gewandt. Trotzdem miaute er und kniff die Augen zusammen, während er neben mir herlief. Mike war eine richtige Nachteule und kam morgens nur schwer aus den Federn. Als IT-Nerd hatte er Gleitarbeitszeit und konnte so länger schlafen. Der Nachteil war, dass er dafür auch immer erst spät Feierabend machte.

Ich schloss die Haustür auf und stolperte fast über Moses, der es eilig hatte, ins Warme und an seinen Fressnapf zu kommen.

„Hey, immer mit der Ruhe. Es ist genug Futter da“, klärte ich ihn lächelnd auf.

Ich liebte meinen Kater einfach über alles.

Doch bei dem Anblick, der sich mir als nächstes bot, blieb mir das Lachen im Halse stecken. Ich erstarrte vor Schock.

„Mike? Anna? Was ist denn hier los“, flüsterte ich.

Das war ganz klar eine rhetorische Frage, denn die Sachlage war ziemlich eindeutig.

Den Schlüssel noch in der Hand und die Eingangstür hinter mir sperrangelweit geöffnet, hatte ich vom Flur aus eine freie Sicht in unser Wohn- und Esszimmer. Wie sehr man es auch drehte und wendete, es gab nur zwei Erklärungen für das, was vor sich ging. Entweder sie praktizierten Nacktyoga oder… mein Verlobter besorgte es meiner besten Freundin auf unserem runden Esstisch aus Massivholz. Was zur verfluchten Hölle?

Ich war in einer Sekunde von null auf hundert.

„Du ekelhaftes Schwein!“

Nach einer weiteren Sekunde warf ich den mitgebrachten Plüschaffen mit voller Wucht gegen Mikes entblößten Allerwertesten. Anna lag nackt unter ihm auf dem blanken Tisch.

Sie hätten wenigstens eine Decke unterlegen können. Das gab doch Abdrücke und Kratzer auf dem Holz.

Ich hielt mir den Kopf. Oh Gott, ich war verrückt geworden.

Dort, wo die Plastikaugen des Affen meinen Verlobten am haarigen Hintern getroffen hatten, bildeten sich zwei rote Flecken. Ich hoffte, es tat richtig schön weh!

„Kati!“ Mike erwachte aus seiner Schockstarre und sprang von Anna weg, sodass ich genau zwischen ihre weit gespreizten Beine sehen konnte. In seinem Sprung stolperte er über Moses, der aufschrie wie am Spieß und fluchtartig das Weite suchte.

 

Wie gern hätte ich es ihm gleichgetan.

Um seinen Fall abzufangen, griff Mike nach Annas Bein und zog sie mit sich auf den Fußboden. Es gab einen lauten Knall, der mir durch Mark und Bein ging. Hoffentlich hatte meine Freundin sich etwas getan. Hoffentlich hatte sie sich richtig dolle wehgetan – so wie sie mir hiermit weh tat.

Karma konnte ruhig einmal mir zuliebe arbeiten.

Mikes Penis war in Windeseile in sich zusammengeschrumpft und hing traurig zwischen seinen langen Beinen. Nichts konnte Lust schneller killen, als von der Verlobten erwischt zu werden.

Mir ging alles und nichts durch den Kopf. Mein Leben hatte sich um einhundertachtzig Grad gedreht. Dieser eine Augenblick hatte alle meine Träume zerstört. Einfach so.

Ich stand ungläubig und wie angewurzelt noch immer in der geöffneten Haustür und sah dabei zu, wie Mike und Anna sich aufrappelten. Sie machte sich sogar die Mühe, ihre Scham und die riesigen Brüste mit den Händen zu verdecken. Das war so unnütz! Wir kannten uns schließlich seit der Grundschule!

Beide starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an. Wahrscheinlich starrte ich mit dem gleichen Ausdruck zurück. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr.

Mike rieb sich den Nacken und machte zaghaft einige Schritte auf mich zu. „Oh man, Kati.“

Danach fehlten selbst ihm die Worte, um den Mist zu beschreiben, den er verzapft hatte. Aufgrund der offenen Haustür konnte sogar unser seniler Nachbar Hubert sehen, wie sich Mikes schmale Lippen öffneten und schlossen, jedoch keinen Laut produzierten. In diesem Moment sah mein Verlobter aus wie ein hilfloser Fisch mit wirrem Haar und schlaffem Glied.

Den hatte ich attraktiv gefunden?

Schau bloß nicht in sein armseliges Gesicht, dachte ich angestrengt, sonst kommen die Tränen.

„Spar es dir, Mike. Ehrlich.“ Ich streckte den Arm aus, um ihn in seiner Bewegung zu stoppen. Es funktionierte, er blieb einige Zentimeter von mir entfernt stehen.

„Keine Worte dieser Welt können das hier erträglicher machen“, zischte ich voller Wut und deutete auf die absurde Szene. Ich wollte bestimmt nicht vor ihm heulen.

„Lass uns…“, stammelte Mike, aber ich beschloss, ihn zu ignorieren.

Die Gedanken in meinem kleinen Kopf fuhren Achterbahn. Aus die Maus. Das war’s mit MiKa. Ich würde nie wieder genug weiße Klamotten zusammenbekommen, um die Waschmaschine zu füllen. Und wie meldete man sich eigentlich bei Tinder an?

Hilfe, ich war wirklich verrückt geworden.

„Ich...“, begann Mike noch einmal, aber da zog ich bereits die Haustür hinter mir ins Schloss.

Als ich energielos mein Fahrrad den Gartenweg hinunterschob, platzte mein Kopf beinah. Wer war ich? Wer war ich ohne Mike? Ich musste das Gesehene und dessen Folgen erst verarbeiten, um es zu verstehen. Aber wie sollte man so eine Situation jemals verstehen?

Moses saß im Küchenfenster und blickte mir miauend nach. Zum ersten Mal, seitdem er bei uns eingezogen war, ignorierte ich ihn und setzte meinen einsamen Weg planlos fort.

Ich wusste nicht, wie lange ich abwechselnd mit dem Rad und zu Fuß unterwegs war.

Ich hatte einige Kilometer zurückgelegt, das merkte ich an meinen schmerzenden Füßen und daran, dass es mittlerweile stockfinstere Nacht und saukalt geworden war. Mein Körper war müde, aber meine Gedanken kreisten unaufhörlich. Ich sah den Atem aus meinem Mund in kleinen Wolken vor mir aufsteigen und fragte mich, warum er noch da war, obwohl ich mich doch leblos fühlte.

Nachdem mir trotz der Pippi-Langstrumpf-Socken aus einem vorbeifahrenden Auto zwei Mal hinterher gepfiffen worden war und sich langsam Frostbeulen an den bloßen Fingern bildeten, musste ich mir tunlichst den nächsten Schritt überlegen. Ich wollte auf keinen Fall ins Haus zurückkehren, wo mich Mike vermutlich erwarten würde.

Die Option, zu Anna zu gehen, fiel ebenfalls aus. Diese hinterlistige Schlange hatte sich an meinen Verlobten herangemacht. Und sowas nannte sich beste Freundin. Darauf konnte man getrost verzichten.

Im Kindergarten konnte und wollte ich auch nicht übernachten, weil meine Kolleginnen am Morgen mit Sicherheit wissen wollten, was vorgefallen war. Man schlief immerhin nicht alle Tage an seinem Arbeitsplatz.

Das Einchecken in ein Hotel fiel ebenfalls flach, weil dafür schlicht und einfach das Geld fehlte. Und es, abgesehen davon, in unserem Dorf sowieso keines gab.

Plötzlich bremste erneut ein Auto neben mir ab und aus dem geöffneten Fenster rief mir eine tiefe Männerstimme zu: „Sexy Strümpfe, Puppe“.

Ein Sockenfetischist hatte mir jetzt gerade noch gefehlt.

Angewidert senkte ich den Blick und legte einen Zahn zu, bis der Wagen beschleunigte und hinter der nächsten Ecke verschwand.

Es war höchste Zeit, irgendwo einzukehren.

Ich war mittlerweile fast wieder an unserem Dorfplatz angekommen und mein Blick fiel auf das abgeblätterte Schild von Kurtis Kneipe. Ich hatte in meiner ganzen Zeit hier noch nie einen Fuß in dieses alte Ding gesetzt, aber es war geöffnet und eine bessere Möglichkeit fiel mir im Augenblick nicht ein.

Die Straßenlaterne erhellte meine bunten Kniestrümpfe, als ich mein Fahrrad am Zigarettenautomaten anschloss. Ich wollte nicht riskieren, neben meinem Verlobten auch noch meinen Drahtesel an einen Dieb zu verlieren.

Normalerweise würde ich in diesem Aufzug nicht einmal den Müll herausbringen, geschweige denn eine Kneipe betreten, aber nach der traumatischen Entdeckung heute war mir alles herzlich egal.

„N‘Abend“, murmelte ich schüchtern beim Eintreten.

Der kleine Raum war neblig vor lauter Zigarettenqualm und ich hustete wie verrückt.

Die drei Gestalten, die an der Bar saßen, hoben fast gleichzeitig die Köpfe, um zu sehen, wer da in ihren aus Rauch gewebten Kokon eindrang. Als sie mein vor Tränen verschmiertes Gesicht sahen, verdunkelten sich auch ihre Mienen wieder, denn heute würden sie nicht in den Genuss eines Flirts kommen.

„Hallo“, tönte es mir entgegen, bevor sich jeder wieder seinem Getränk widmete.

Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit hier drinnen gewöhnt und ich ließ sie durch den Raum schweifen. Rechts von mir befand sich die Bar, an der die drei Männer saßen. Hinter der Theke stand ein Typ mit dickem Bauch, roten Wangen und Glatze. Ich tippe auf Kurti, den Besitzer. Links von mir waren zwei schwarze Tische mit jeweils vier Stühlen an die Wand gequetscht. Wer hier Tischdecken oder kleine Blumenvasen erwartete, wurde bitter enttäuscht. Immerhin waren die Wände mit Blechschildern und Plakaten diverser alkoholischer Getränke geschmückt.

„Mädchen, willst du da an der Tür Wurzeln schlagen? Wir beißen schon nicht“, schmunzelte Kurti und machte eine, wie er fand, einladende Geste mit seiner Speckhand.

„Oh, Entschuldigung“, hörte ich mich sagen.

Ein Hoch auf meine Mutter, Höflichkeit war mir anerzogen worden. Aber warum entschuldigte ich mich eigentlich? Ich war diejenige, die heute eine Entschuldigung verdient hatte.

Es war doch gestattet, verwirrt zu sein, wenn man eben erst betrogen worden ist?

Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und entschied mich für den freien Barhocker, der neben dem am nüchternsten wirkenden Mann stand. Die Theke klebte, als ich mich darauf abstützte, um auf den Stuhl zu klettern. Ich zog meinen Mantel aus und legte ihn mir über die Beine.

„Was darf‘s denn sein, Pippi Langstrumpf“, erkundigte Kurti sich freundlich.

„Wir hatten Fasching im Kindergarten“, rechtfertigte ich sofort mein unkonventionelles Outfit, bevor jemand wissen wollte, ob ich auf Rollenspiele stand. „Für mich was Starkes bitte.“

Ich zupfte an einem losen Faden an meinem gelben Kleid und musste mich zusammenreißen, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

„Verstehe, dein Kostüm kam nicht an und nun bist du traurig“, scherzte Kurti, aber sein besorgter Blick verriet, dass er verstand, dass ich nicht wegen solch einer Lappalie litt. Er stellte ein Schnapsglas und eine angefangene Flasche Wodka auf den Tresen.

„So ähnlich.“

„Klingt nach einer spannenden Geschichte“, forderte er mich indirekt zum Erzählen auf.

Die anderen Anwesenden nickten zustimmend. In der Ecke dudelte leise ein Radio, ansonsten herrschte Stille. Entweder war jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt oder es war bereits alles Wichtige gesagt worden.

„Ich möchte nicht darüber sprechen“, flüsterte ich, bevor ich mein erstes Glas an die Lippen hob.

Nach dem zweiten Glas wurde mir warm und ich merkte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.

Nach dem dritten Glas fühlte sich die Theke bereits weniger klebrig an und ich fuhr mit dem Finger die Umrisse eines Bierglases nach, das vor Ewigkeiten mal hier gestanden haben musste. Kurti war zwar freundlich und sah aus wie der Weihnachtsmann, aber schien wohl nicht der putzfreudigste Mensch zu sein.

Nach dem vierten Glas fand ich die Kneipe äußerst gemütlich und auch der Zigarettenrauch in meinen Lungen störte mich nicht mehr im Geringsten.

Nach dem fünften Glas hörte ich mich plötzlich in die Stille verkünden: „Mein Verlobter hat mich betrogen“.

Der Mann neben mir drehte sich vorsichtig auf seinem wackligen Hocker um und sah mich mitleidig mit vom Alkohol glasigen Augen an. Die anderen beiden Männer waren vor einiger Zeit mit den Köpfen auf der Theke eingeschlafen und schnarchten lautstark vor sich hin. Das Radio hörte man nicht mehr. Mein zittriges Stimmchen schien ihren Schönheitsschlaf nicht zu stören.