Das Kreuz im Apfel

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

9

»Kollegen, Sie müssen schon etwas näher herantreten, oder soll ich etwa aus dieser Entfernung zu Ihnen plärren?« Der Arzt fixierte seine vier Studenten. »Ich weiß, ich weiß, vor dem toten Körper scheut man sich weniger. Sie wollen doch nicht nur am leblosen Material üben. Diese vierundzwanzigjährige Magd wurde gestern am frühen Nachmittag mit eröffnenden Wehen aufgenommen. Nachdem der Austreibungsprozess zum Erliegen gekommen war, wurde vom Accoucheur mittels Zange ein normalgroßer Knabe entbunden«, rezitierte Johann Klein, Leiter der Gebärklinik, Marias Gebärverlauf.

Sie lag in dem von Studenten umkreisten Bett und erinnerte sich mit Schaudern an den vorherigen Abend. Der Accoucheur zog und zog mit der Zange, ihren Schmerzensschreien schenkte er kein Gehör. Zum Glück war sie nicht durchgehend bei Bewusstsein und irgendwann gab ihr Körper dem Willen des Arztes nach. Ihr Unterleib fühlte sich zerrissen an, schmerzte bei den Demonstrationen des Klinikleiters. Die Studenten begafften jeden Handgriff des Professors genau, begafften sie.

»Sie!«, forderte er einen dicklichen Studios auf. »Erproben Sie Ihre Fähigkeiten.« Damit trat er zwei Schritte zurück und machte den Platz frei für den Schüler. »Mit Gefühl, Sie Tölpel! Denken Sie an Hippokrates.«

Maria schloss die Augen, um den Klinikleiter nicht weiter sehen zu müssen. Der schüchterne Student hatte zehnmal mehr Gefühl als er und der Fleischer von gestern. Sie würde alsbald aus diesem Bette aufstehen und wenn nötig zur Türe rauskriechen, nur um von diesem Ort wegzukommen. Maria hoffte darauf, dass Katharina sie heute wirklich besuchen käme. Ein vertrautes Gesicht konnte sie gut gebrauchen.

»Semmelweis!«, polterte die Stimme weiter. »Ihre Patientin, bis zur Entlassung. Ich erwarte täglich einen schriftlichen Untersuchungsbericht. Meine Herren, folgen Sie mir zum nächsten Untersuchungsmaterial.«

»Keine Besuche! Wir sind randvoll mit Patientinnen, da wollen wir nicht noch mehr Leute im Haus«, ordnete die Aufseherin an.

»Aber wie es ihr geht, können Sie uns sagen. Ist alles gut gegangen?«, erfragte Mila an Katharinas Stelle.

»Kind ist da. Ein Knabe. Geburt war schwierig. Kommt morgen, da kann die Wöchnerin vielleicht aufstehen, die haben sie fast zerrissen.« Katharina schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Immerhin lebte sie, und morgen könnte sie Maria ganz bestimmt sehen.

Auch am nächsten Tag begleitete Mila sie zu dem Eingang im östlichsten Trakt des Krankenhauses. Sie wurden zur Enttäuschung beider erneut abgewiesen. Die Patientin fühle sich nicht wohl und könne nicht aufstehen. Unschlüssig blieben die beiden auf der Treppe stehen. Da öffnete sich die Türe des Haupteinganges und ein junger Mann trat heraus.

»Wenn das nicht mein angehender Medizinikus ist!«, rief Mila amüsiert aus. Überrascht glotzte er sie an und blickte sich dann rasch um.

»Fräulein Mila.« Er deutete eine knappe Verbeugung an. »Was machen Sie hier?«

»Zur Niederkunft bin ich nicht da, Ignaz. Oder lieber verehrter Herr Semmelweis?« Der Student errötete leicht, erlangte aber schnell seine Fassung zurück. »Meine kleine Freundin hier hat vor zwei Tagen eine Bekannte zum Gebärhaus gebracht. Wir wollten sie besuchen. Die Bären beißende Gefängniswärterin lässt sich nicht erweichen. Dafür macht sie gerne Andeutungen, wo einem alles Mögliche in den Sinn schießt, die Hexe.« Sie legte ihm vertraulich ihre Hand auf seine vor der Brust verschränkten Arme. »Vielleicht wissen Sie mehr?«

Er sah sich unter Zugzwang. Wollte er nicht eine weitere Ewigkeit ins Gespräch vertieft mit einer Hure vor der Klinik stehen, musste er versuchen, die Neugierde der beiden zu befriedigen.

»Wie heißt die Frau?«

»Maria«, beeilte sich Katharina zu sagen. Erst jetzt blickte der Student auf das Mädchen, das Mila begleitete. »Sie liegt in der ersten Klinik. Dunkelblonde Haare, nicht besonders groß, nicht klein, so etwas dazwischen eben.«

»Maria, vierundzwanzig, Erstgeschwängerte, Magd bei Karl Sperl.« Ihnen schien es, als rezitierte er aus einem Buch.

»Das ist sie!«, jubelte Katharina.

Der angehende Arzt presste die Lippen aufeinander und suchte nach den richtigen Worten, während er sich ausgiebig räusperte.

»Zunächst verlief alles gut. In der Nacht klagte die Patientin jedoch über Schmerzen im Unterleib. Zuerst dachte ich, es seien postnatale Kontraktionen. Als dann heute Vormittag leichtes Fieber hinzukam …«

»Wird sie sterben, weil man sie in die erste Abteilung gebracht hat?«, fragte Katharina.

»Wie meinst du das?«

Mila legte den Arm um Katharina und bedeutete ihr, still zu sein.

»Ihr Zustand wird genauestens beobachtet. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich muss mich wirklich sputen. Die Lectio beginnt gleich.« Ignaz Semmelweis eilte in den nächsten Hof davon.

»Woher kennst du den Mann?«, erkundigte sich Katharina auf dem Rückweg.

»Ist ein Kunde von mir, zwar ein seltener, aber ein durchaus vertrauter.« Katharina hatte mittlerweile ein grobes Bild davon, womit die beiden Frauen ihr Geld verdienten. »Er war vor etwa einem Jahr das erste Mal bei mir. Er stammt aus Ungarn. Bei mir holt er sich ein bisschen Zuneigung und redet den Großteil der Zeit. Der war ganz schön verlegen!« Mit lautem Prusten setzte sie hinzu: »Dabei war ich angezogen! Normalerweise lausche ich seinem Kummer mit blankem Busen!« Katharina stimmte in das Gelächter ein, zu komisch war die Vorstellung von dem rezitierenden Studenten, dem dabei die Brüste Milas vor dem rotbäckigen Gesicht wippten.

»Wir versuchen es in zwei Tagen«, lenkte Mila sachlich ein. »Wenn wir dann nichts erreicht haben, musst du alleine zurück nach Ottakring. Du kannst nicht ewig vom Bauern wegbleiben. Die machen sich bestimmt Sorgen um dich.«

Ignaz Semmelweis las sich das von ihm angefertigte Protokoll durch.

Der erste Tag des Wochenbettes verlief ohne wesentliche Besonderheiten. Nachts jedoch klagte die Patientin, wie sie der Nachtpflegerin mitgeteilt hatte, über Bauchschmerzen. Am darauffolgenden Morgen kam leichtes Fieber hinzu. Im Laufe des Tages zeigte sich der Bauch aufgebläht und war empfindsam gegen die leichteste Berührung. Am vierten Tag verfiel die Wöchnerin in ein heftiges Delirium, die Haut war mit klebrigem Schweiß bedeckt und glühte förmlich, aus den Augen sprach das Fieber, Respiration war erschwert.

Angeordnet wurden Aderlässe und Brechmittel. Die Gabe von Opium zur Schmerzlinderung schaffte nur kurzzeitige Erleichterung. Am Morgen des sechsten Tages, dem 15. November 1841, verstarb die Wöchnerin.

Ignaz legte den abschließenden Untersuchungsbericht auf die bereits verfassten Protokolle. Er war mit seiner Genauigkeit und seinen Formulierungen zufrieden und konnte sie guten Gewissens dem Professor zur Beurteilung übergeben. Heute standen keine universitären Verpflichtungen mehr an. Was könnte er mit dem restlichen Tag noch anfangen? Sein Freund hatte keine Zeit, das wusste er. Dieser war im Lehrplan ein Jahr voraus und hatte einen anderen Stundenplan. Seiner Bekanntschaft verdankte er gewissermaßen die Entscheidung für ein Studium der Medizin.

Eigentlich war er mit 19 Jahren für das Rechtsstudium nach Wien gekommen. Sein Vater hatte für ihn das Leben eines Militäranwaltes vorgesehen. Nachdem er den befreundeten Medizinstudenten in eine Anatomievorlesung begleitet hatte, war seine Entscheidung klar. Der Vortrag von Professor Josef Berres hatte ihn dazu gebracht, sich neu zu orientieren. Im darauffolgenden Herbst ließ er die Rechte sausen und schrieb sich für Medizin ein.

Sein Freund war vermutlich unterwegs zu seiner Vorlesung von Carl von Rokitansky. Er bewunderte Rokitansky, obwohl er momentan nur die Stellung eines außerordentlichen Professors bekleidete.

Vielleicht könnte er Mila einen Besuch abstatten. Er wusste von einer Wärterin, dass das seltsame Mädchen am Tag vor dem Tod seiner Patientin, hartnäckig auf Einlass bestanden hatte. Die Aufseherin war an diesem Tag mildtätig gelaunt und ließ sie ein. Das Delirium war zu weit vorgeschritten, als dass die Todgeweihte ihren Besuch noch wahrnehmen hätte können.

»Unser zufälliges Zusammentreffen vor dem Gebärhaus hat Sie offenbar daran erinnert, dass Sie mich schändlich vernachlässigen«, beklagte sich Mila bei Ignaz.

»Die Verpflichtungen, die Verpflichtungen …«, rechtfertigte er sich. Er erkannte einen Scherz meistens nicht.

»Recht so, aus Ihnen soll etwas werden«, lobte Mila ihn. »Ich hoffe, Sie vergessen mich dann nicht ganz.« Sie mochte ihn, er war ein angenehmer Kunde aus gutem Hause. Seinem Vater, einem angesehenen Geschäftsmann, gehörte ein riesiges Gemischtwarengeschäft im ungarischen Tabán. Soweit sie sich erinnern konnte, irgendetwas mit einem Elefanten. Dort konnte man, laut Ignaz’ Aussage, so gut wie alles erstehen. Er erzählte ihr häufig von seiner Familie, die er in einsamen Momenten vermisste. Seine Mutter hatte zehn Kinder zur Welt gebracht, das letzte tot. Die beiden jüngsten Kinder, zwei Mädchen, kamen nicht über das Kleinkindalter hinaus. Ignaz war der Fünftgeborene. Alle sechs Söhne wurden auf das erzbischöfliche Gymnasium geschickt. Ein älterer Bruder ergriff das Amt des Priesters, einer wurde Beamter und der älteste trat in die Fußstapfen des Vaters. Seine einzige lebende Schwester heiratete vor ein paar Jahren einen Bekannten der Familie, einen Apotheker. Was er ihr über die beiden jüngeren Brüder erzählt hatte, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Dem geschäftlichen Erfolg des Vaters war es zu verdanken, dass Ignaz sich hin und wieder das Vergnügen leisten konnte, ihr einen Besuch abzustatten.

 

»Sollte ich die Medizin revolutionieren und Geschichte schreiben, Sie werde ich ganz bestimmt nicht vergessen!«, schmeichelte er ihr.

»Weniger tote Frauen in den Gebärkliniken wären erstrebenswert.«

»Die Geburtshilfe ist nicht gerade ein angesehenes Fachgebiet. Dort für Furore zu sorgen, wird ein Schweres.«

»Lässt Sie der Tod Ihrer letzten Patientin so kalt, dass Ihnen nur Ihr künftiges Ansehen in den Sinn kommt?«

»Es tut mir leid, ich vergaß Ihre indirekte Verbindung zu der Verstorbenen.« Das mochte sie auch an ihm; alles was er sagte, meinte er aufrichtig.

»Sie ist nur eine von vielen, die jährlich den Tod im Kindbett finden.«

»Wie hat das Mädchen den Tod der Frau aufgenommen?«, hakte er nach.

»Sie hat sich auf den Weg zurück zu ihren Dienstleuten gemacht und ich hoffe, sie bleibt dort. Der Tod dieser Frau hat zumindest etwas Gutes. Ihr Dienstherr braucht einen Ersatz und Katharina kann dieser Ersatz sein. Wenn sie nur will.« Nachdenklich blickte Mila durch den Raum. »Woran sterben all diese Frauen?«

»Man weiß es nicht, allgemein ist die Rede von zeitweisen Epidemien, von Miasmen, die über den Gebärenden schweben, Verunreinigung des Inneren. Die Erklärungsversuche sind mannigfaltig und sehr vage.«

»Es wäre jedenfalls ein Verdienst an der Menschheit, dem Ursprung dieses Massensterbens auf den Grund zu gehen«, warf Mila ein. Sein betrübter Gesichtsausdruck erregte ihr Mitleid.

»Genug der Worte, Herr Doktor, schreiten Sie zur Tat!« Dabei spreizte sie einladend ihre Beine, bereit, ihn in sich aufzunehmen.

10

»Dem Herrn sei Dank!«, rief Johanna Sperl am Freitagabend aus, als Katharina durch die Tür trat. »Wo hast dich so lange herumgetrieben?« Die Bäuerin war von der Eckbank aufgesprungen, auf der sie mit Margarethe gesessen hatte. Die beiden Frauen waren alleine in der gut geheizten Stube. Die Kinder schliefen zu dieser Stunde bereits. »Der Pfarrer hat mir die Hölle heiß gemacht, als ich ihm gestehen musste, dass ich dir die Erlaubnis erteilt habe, Maria zu begleiten.« Johanna und Margarethe blickten Katharina in Erwartung einer altklugen Rechtfertigung an.

»Was ist mit dir, Kind? Ist dir nicht gut?», fragte die Bäuerin.

»Die Maria ist tot.«

Einige Sekunden sagte keine von ihnen etwas. Die Bäuerin fasste sich als Erste und forderte Katharina auf, sich hinzusetzen. Danach befahl sie Margarethe, ein Nachtmahl und ein Häferl warmer Milch herzurichten. Erst nachdem das Mädchen das dargereichte Essen hinuntergeschlungen hatte, drang die Bäuerin in sie.

»Meinen Besuch hat sie nicht mehr mitbekommen«, sagte Katharina leise.

»Ihre Dummheit mit dem Tod zu strafen, ist wahrhaftig ein harter Donnerschlag Gottes«, klagte die Bäuerin und bekreuzigte sich zum fünften Male.

»Mit Gott hat das nichts zu tun«, widersprach Katharina.

»Der Tod ist Gottes Wille«, wiederholte Johanna die vertrauten Worte des Pfarrers.

»Maria ist gestorben, weil sie in die erste Abteilung gebracht wurde.«

Normalerweise hätte die Bäuerin Katharina für solch eine blasphemische Äußerung gescholten, heute sah sie es dem Mädchen nach.

»Arme, dumme Maria. Gott hab sie selig«, betete Johanna zum Herrgottswinkel. »Wir werden Ersatz für sie brauchen.«

Katharina fixierte die glänzende Milchhaut.

»Du bist wohlbehalten zurück!«, stellte Pfarrer Lutner nach der Sonntagsmesse erleichtert fest. »Was machst du für Sachen, mein Kind? Genug, dich trifft nur die halbe Schuld. Ich habe der Sperlbäuerin die Leviten gelesen. Da ist das resolute Weib ganz klein geworden.« Der Pfarrer schmunzelte. »Komm, heute lesen wir aus dem Evangelium.« Mit diesen Worten schob er sie in das Pfarrhaus.

Katharina liebte das Lesen, allerdings nicht immer die zur Verfügung gestellte Lektüre. Sie hatte Schullehrer Bartsch gefragt, ob er nicht noch andere Bücher hätte als die wenig ansprechenden, die sich in der dürftig ausgestatteten Pfarrbibliothek befanden. Seine missbilligend gespitzten Lippen und die zusammengekniffenen Augen sagten alles. Sie solle nicht ständig an den Gegebenheiten herummäkeln. Dies sei, nach seiner Ansicht, wahrlich keine Tugend für ein weibliches Wesen. Der Lehrer erklärte, dass die Verordnung von 1828 vorschrieb, alle schädlichen, verderblichen, unpassenden und unzweckmäßigen Bücher aus den Schulen zu entfernen, was selbstverständlich ausnahmslos durch seine Hände geschehen war. Katharina gab klein bei. Sie wollte den Lehrer, der aufgehört hatte, sie zu schikanieren, nicht erneut gegen sich aufbringen. Zu deutlich standen ihr noch die ersten Schulmonate vor Augen.

»Die Sperlbauern wollen dich als Magd in Stellung nehmen«, offenbarte der Pfarrer nach der Lektüre. Johann Lutner hatte erwartet, dass sich das Mädchen über diese Möglichkeit ebenso freute. Sie hatte sich in den drei Jahren sehr gut eingelebt.

»Freust du dich nicht darüber?«

»Worüber soll ich mich freuen, Herr Pfarrer?«

»Eine Anstellung in Aussicht zu haben und ein Heim!«

»Es muss dem Herrn Pfarrer als sehr undankbar vorkommen, aber ich möchte nicht als Magd auf dem Hof bleiben. Ich mag die Bäuerin und den Bauern. Die Kinder habe ich natürlich liebgewonnen, aber ich möchte …«

»Was möchtest du denn, Kind?«, rief der Pfarrer aus. »Sehr viele Möglichkeiten bleiben dir nicht!«

»In Wien habe ich einen Mann kennengelernt, der studiert Medizin. Er wird Arzt. Das wäre etwas für mich«, erzählte Katharina mit kindlicher Begeisterung.

»Du kannst doch nicht studieren!«

»Dazu muss man wahrscheinlich viel Geld haben.«

Johann Lutner lachte hysterisch auf.

»Nicht nur das! Kind, nur ein Mann kann studieren.«

»Warum?«

Der Pfarrer war nur noch selten überrascht, wenn Katharina alles infrage stellte, aber dies übertraf alle ihre bisherigen Äußerungen.

»Weil der Mann dem Weib überlegen ist, besonders in geistigen Dingen.«

»Keiner der Burschen in der Klasse ist mir geistig überlegen. Wenn ich ehrlich bin, auch nicht der Bartsch.«

»Katharina, sogar du wirst dich an die natürliche Weltordnung halten müssen«, beharrte Pfarrer Lutner. »Überlege dir die Sache mit der Anstellung. Ein wenig Zeit bleibt noch.«

11

Juli 1842

»Mir wirst du jedenfalls fehlen«, gestand Johanna Sperl. Katharina war vierzehn geworden. Die Bauersfrau hatte ihrem Zögling einiges an Essen in den Beutel gepackt, welchen sie ihr in die Hand drückte. »Pass auf dich auf und bleib anständig.«

»Was so viel heißt wie: Halte deine Beine zusammen.« Die Bäuerin bedachte Margarethe mit einem strengen Blick. »Was? Ist doch wahr!«, rechtfertigte sich Margarethe und fuhr an Katharina gerichtet fort: »Willst du dir dein Leben nicht ganz verderben, dann halte dich daran.«

»Ihr werdet mir fehlen«, sagte Katharina leise, dabei streichelte sie jedem der Kinder liebevoll über den Kopf. Die kleine Johanna versuchte, sich an ihrem Rock hochzuziehen, als wollte sie ihr beweisen, dass die Mühe, ihr das Gehen trotz Rachitis beizubringen, nicht umsonst gewesen war. Anerkennend streichelte sie dem Kind über die vollen Wangen, als es auf seinen krummen Beinen vor ihr stand.

»Du könntest bleiben«, gab die Bäuerin zu denken.

Katharina hatte sich entschlossen. Sie würde die Gelegenheit nutzen, mit dem Pfarrer Richtung Wien fahren zu können. Er hatte eine wichtige Angelegenheit zu erledigen und ihr angeboten, sie mitzunehmen. Sie würde bis zum Linienwall mit ihm reisen und sich dann zu Fuß auf den Weg zum Spittelberg machen, wo sie auf Milas Hilfe baute.

»Bist du bereit?«, fragte der Pfarrer.

Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Ihr fiel es nicht schwer, ihn zu mögen. Er hatte zum Schulabschluss ein Fest veranstaltet, auf dem er mit einem großen Papierdrachen erschienen war. Als dieser hoch oben in der Luft schwebte, drückte er Katharina die Schnur in die Hand und ließ sie Herrin über den Drachen sein. Die Leute konnten sich nicht satt sehen. Zur Abwechslung starrten sie mal nicht verstohlen auf seinen entstellten Rücken.

»Ich bin immer noch nicht überzeugt, ob deine Entscheidung richtig ist«, brachte er das Gespräch in Gang.

»Es wird alles gutgehen. Ich bin ja nicht ganz alleine.« Sie fixierte den Hintern des Pferdes, das vor den einfachen Wagen gespannt war.

»Fang mir nicht mit deiner guten, alten Freundin Mila an. Du weißt, dass ich von deiner Idee nichts halte«, schalt er sie. Katharina tat ihm den Gefallen und erwähnte die Frau seines Anstoßes lieber nicht mehr. Die restliche Fahrt schwiegen sie. Als sich Katharina verabschiedete, nahm der Pfarrer ihr noch das Versprechen ab, sich in Ottakring sehen zu lassen. Lange blickte der Geistliche dem Mädchen hinterher, bevor er mit einem Zungenschnalzen das Pferd in Bewegung setzte.

»Lange können wir sie nicht mittragen«, sagte Sepherl. »Auch wenn das Scheißerle wenig isst, wird sie irgendwann jemandem auffallen.« Sepherl verschränkte ihrerseits die Arme vor der Brust und schaute Mila ebenso herausfordernd an. »Ich wünsche mir für sie auch was Besseres, aber wie wahrscheinlich ist das?«

»Wir können versuchen, sie irgendwo als Dienstmädchen unterzubringen«, warf Mila hoffnungsvoll ein.

»Eine gute Idee. Als Dienstmädchen wird sie lediglich von ihrem Herrn bestiegen, dem sie den Dreck wegmachen darf.«

»Mir wird schon etwas einfallen. Es darf nur keiner erfahren, dass sie bei uns wohnt. Die Alte würde sie sofort für sich arbeiten lassen.« Mila zog sich die weißen Strümpfe zurecht und richtete ihre langen Locken. »Komm, lass uns gehen, sonst zetert die alte Hexe wieder. Und du«, ordnete Mila an Katharina gewandt an, »bewegst dich nicht vom Fleck. In ein paar Stunden sind wir zurück.«

Sie hatte während des Gespräches der beiden Frauen reglos auf einer Holzkiste gesessen. Seit Tagen musste sie in der düsteren Dachkammer ausharren, tagsüber und nachts. Mila hatte ihr den Grund dafür erklärt, was es jedoch nicht erträglicher machte. War es im Winter bitterkalt in den Kammern unter dem Dach, herrschte im Sommer drückende Hitze, die abends kaum besser wurde. Gerne wäre sie die schmale Treppe hinuntergeschlüpft, um die kühlere Abendluft einzuatmen, aber sie wollte Milas Sorgen nicht noch unnötig vergrößern. Und so legte sie sich auf den alten Strohsack ihrer lieben Freundin und versuchte zu schlafen.

Geweckt wurde Katharina von der knarrenden Tür, als Mila und Sepherl beim Morgengrauen zurückkehrten. Die beiden sahen müde aus, weshalb Katharina schnell aufsprang, um der Eigentümerin des Bettes Platz zu machen.

»Keine Eile«, sagte Mila, »ich will mich vorher sowieso noch waschen.« Als sie zu dem Wasserkrug trat, fand sie diesen leer vor. Ein dunkler Fleck auf den Dielenbrettern zeugte von Katharinas Missgeschick der letzten Nacht. Gepeinigt von einem Traum, war sie schlaftrunken zum Wasserkrug getaumelt, um die angeschwollene Zunge zu befeuchten und stieß dabei den Krug um. Das Gefäß blieb unbeschädigt, der Inhalt hatte sich dagegen über den Boden ergossen.

»Es tut mir leid«, presste Katharina hervor.

»Ist schon gut, ich wasche mich nach meinem Schläfchen. Mir fehlt jetzt die Kraft, Wasser vom Brunnen zu holen. Kommst du einstweilen ohne aus?«, fragte Mila. Katharina nickte heftig, obwohl ihre Kehle ganz ausgetrocknet war. Die Nacht war schwül gewesen und sie hatte viel geschwitzt. Sie dachte nicht daran, den beiden Frauen noch mehr Umstände zu machen, als sie es ohnehin schon tat.

Als zur Mittagsstunde die Temperatur in der kleinen Kammer schier unerträglich wurde, beschloss Katharina, sich den Krug zu schnappen und sich auf den Weg zum Brunnen zu machen. Milas Freude über das frische Nass würde ihren Zorn über den Ungehorsam hoffentlich überlagern. Lautlos tappte sie bis zur Tür und schlängelte sich die steile Treppe hinab. Draußen angekommen umfing sie gleißendes Tageslicht. Katharina hielt nach der Tafel Ausschau, von welcher Sepherl erzählt hatte. Tatsächlich, da war sie: Durch dieses Thor im Bogen ist Kaiser Josef II. geflogen. Sie lachte leise durch die Nase und schaute sich nach links und rechts um. Die Johannes Gasse war wie ausgestorben; auch aus dem Inneren des Weißen Löwen drang kein Laut.

Katharina konnte sich zum Glück noch an den Weg zum Brunnen erinnern. Mila und sie hatten ihn im November passiert. Sie blieb damals stehen und betrachtete den Brunnen, aus dessen Becken eine korinthische Säule ragte. Den Abschluss der Säule bildete eine wolkenumhangene Weltkugel, auf der die Heilige Dreifaltigkeit thronte. Den Ausdruck hatte Katharina vom Pfarrer, der ihr erklärt hatte, dass es sich bei den drei Figuren um Gott Vater, Jesus Christus und den Heiligen Geist handelte. Heute würde Katharina mehr Zeit haben, die Feinheiten des Brunnens zu erkunden, ohne dass Mila sie zur Eile wegen der Kälte antrieb. Sie fragte sich, wie sie die drei Heiligen voneinander unterscheiden sollte.

 

Nur wenige Menschen waren zur Mittagsstunde unterwegs. Hie und da stand eine Dirne auf Kundenfang vor einem der zahlreichen Gasthäuser. Mit jedem potenziellen Freier wurde getändelt und geplänkelt, um ihm Appetit auf einen Besuch in der Schenke am Abend zu machen. Von Katharina nahm keine der Frauen Notiz und so erreichte sie den Brunnen nach nur wenigen Minuten. Durstig füllte sie den Krug aus den Antik-Köpfen, aus denen das lebensspendende Wasser quoll, und trank gierig in großen Schlucken. Danach tauchte sie ihre Hände in das Becken. Sie befeuchtete ihr Gesicht, ihren Hals und ihre Arme, bevor sie sich dem eingehenden Studium des gusseisernen Brunnens widmete.

»Durch Großmuth und Gemeinsinn 1821«, las sie laut vor.

»Ich erinnere mich gut daran, als wir das Wasser noch vom Arsch der Welt anschleppen mussten«, vernahm Katharina eine Stimme hinter sich, die sie zusammenfahren ließ. »Seitdem ist nichts für uns Spittelberger getan worden.« Katharina wurde von Kopf bis Fuß gemustert. »Kommst mir bekannt vor. Wem gehörst an?«, fragte die Alte.

Katharina hörte in Gedanken die Schimpftirade Milas und hütete sich, nur ein Wort an die Fremde zu richten.

»Kannst nicht sprechen?«

Katharina drückte sich an der Frau vorbei.

»Oder willst nicht?« Es war eine Feststellung keine Frage.

Hätte sie nur ein einziges Mal zurückgesehen, wäre ihr aufgefallen, dass die neugierige Alte ihr in geringem Abstand folgte.

Erst Stunden später rührten sich Mila und Sepherl und waren beim Anblick des aufgefüllten Kruges weniger verärgert als erfreut. Die drei Frauen hockten sich auf die Holzkisten, tranken das Wasser und nagten an ihrem harten Brot.

»Heute Abend werde ich versuchen, Fleisch und Käse von den Gästen zu stibitzen«, versprach Mila zwischen zwei Bissen. »Dann hast du morgen ein herzhaftes Frühstück. Ich werde Wasser mitbringen, damit du nicht wieder auf die Idee kommst, alleine durch die Gassen zu streunen.« Wenn Mila von der Begegnung am Brunnen wüsste, würde sie vermutlich einen weniger milden Ton anschlagen. Nein, ihre liebe Freundin würde sie nicht ausschimpfen, sondern in tiefes Brüten verfallen.

»Ist es deines?«

»Was meines?«

»Dein Kind?«

»Mein Kind?«, hauchte Mila.

»Stell dich nicht dumm«, forderte die Löwenwirtin barsch, »denn das bist nicht. Genauso wenig wie ich. Ich habe das Mädchen heute am Brunnen gesehen. Sie ist zu eurer Dachkammer hochgestiegen. Ist sie deine Tochter?« Die Vermutung der Wirtin war gar nicht so abwegig. Sogar das Alter passte fast. Milas Tochter wäre nur zwei Jahre jünger, hätte sie das Säuglingsalter überlebt. Das Kind war nach nur wenigen Wochen in der Außenpflege verstorben. Mila hatte diesen Teil ihres Lebens fest in ihrem Inneren verschlossen. Nur Sepherl kannte die Einzelheiten.

»Hätte doch sein können, dass es deines ist. Würde mich wundern, wenn du nicht schon geworfen hättest.«

Mila äußerte sich zum Ärgernis der Löwenwirtin nicht. Diese hochnäsige Madame hielt sich, was ihre Vergangenheit betraf, immer bedächtig verschlossen. Man wusste lediglich, dass sie, bevor sie auf dem Spittelberg als Bierhäuslermensch angefangen hatte, eine gefragte Grabennymphe war, die unter ausgewählter Kundschaft verkehrte. Nur ein teurer Mantel zeugte von ihrem damaligen Leben. Diesen teilte sie sich mit Sepherl. Wer zu hoch hinauswollte, fiel tief.

»Ich führe kein Waisenhaus! Mir wird die Geschichte des Mädchens nicht das Herz erweichen«, entgegnete die Bordellwirtin, bevor die andere versucht war, sie zur Nächstenliebe gegenüber einem heimatlosen Kind zu überreden. »Wenn sie unter meinem Dach leben will, soll sie gefälligst dafür arbeiten. Außerdem ist sie kein Kind mehr. Warte noch den Sommer ab und das kleine Pflänzchen wird prachtvoll erblühen. Sie könnte gutes Geschäft machen.«

»Für dich! Ihr selbst bleibt davon nichts!«

Die Wirtin bleckte die Zähne.

»Sie wird nicht ihren Körper verkaufen! Niemals.«

»Na gut, deinem Täubchen wird nicht an die Wäsche gegangen. Arbeiten wird sie trotzdem für ihre Unterkunft. Das wäre ja noch schöner, wenn meine Untermieter meine Zimmer mit heimatlosem Gesindel vollstopften! Es gibt genug zu tun in der Schenke.«

»Nicht ums Verrecken glaube ich der. Sobald sich die erste Gelegenheit bietet, sie einem Interessenten zu verkaufen, werden ihr die Röcke hochgeschoben. Ob sie will oder nicht«, sagte Mila. Sie trat im Dunkeln des Stiegenhauses auf etwas Weiches und ein anklagendes Quietschen ertönte.

»Ich weiß«, entgegnete Sepherl. »Das heißt für uns, wir müssen eine Stellung für Katharina finden.«

»Aber was? Und wo? Und wie?«, schrie Mila fast.

»Wir haben, sagen wir mal, Kontakte.«

»Kontakte?«

»Kontakte, die erpressbar sind.«

Mila verstand erst nach einigen Sekunden, wovon ihre Freundin sprach, und auf ihrem Gesicht erschien ein breites Grinsen.

»Die Alte vom Weißen Löwen hat Mila mit ihren Spekulationen über deine Herkunft aus der Bahn geworfen«, versuchte Sepherl Katharina zu erklären, wieso diese sie seit geraumer Zeit von der Seite her anstarrte.

»Halt deinen Mund«, drohte Mila.

»Meine Herkunft. Wie meinst du das?«

»Die Löwenwirtin dachte, du seist Milas Tochter.«

»Jedes Kind könnte sich glücklich schätzen, eine Mutter wie dich zu haben«, sagte Katharina aufrichtig.

Da kullerte eine Träne über die Wange der großgewachsenen Frau. Sepherl blickte mit besorgter Miene auf ihre Freundin. Es hatte Jahre gedauert, bis Mila aufgehört hatte zu weinen. Die Worte der Bordellbesitzerin hatten alte Wunden aufgerissen und vergrabene Erinnerungen an die Oberfläche zurückbefördert.

»Ich traf ihn das erste Mal im November 1829. Clemens Fürst von Metternich, der österreichische Staatskanzler, der Kutscher Europas, wie er aufgrund seines Einflusses gerne betitelt wurde.«