Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Aus der Reihe: Das Leben #5
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„Und jetzt ziehe ich mich an und schau mal, was wir essen wollen.“

Ich gehe zum Kleiderschrank, suche mir ein T-Shirt und eine Jogginghose heraus und streife alles über. Dabei sehe ich immer wieder zu Erik, der mich nachdenklich beobachtet. Scheinbar ist er immer noch sprachlos.

Als ich an ihm vorbei aus dem Zimmer schlüpfen will, schnellt seine Hand vor und er zieht mich vor seine Füße. Er schlingt beide Arme um meine Taille und vergräbt sein Gesicht an meinem Bauch.

Diese Geste rührt mich. Ich streiche durch seine Haare und lasse ihm einfach die Zeit, die er braucht, um mit sich wieder ins Reine zu kommen und zu kapieren, dass es immer noch nur ihn für mich gibt und ich immer noch unerschütterlich an seiner Seite stehe. Trotz allem.

Julian

Da die Gefahr durch die beiden Maasmännchen gebannt zu sein scheint, ich von Julian nichts mehr gehört habe, Marcel Erik eine Gefahr durch Julian nicht bestätigen konnte und meine Eltern bei einem Telefonanruf, den diesmal mein Vater führte, versicherten, dass Julian wieder ganz normal ist, konnte Erik nicht mehr viele Argumente gegen meinen Freitagabend im trauten Kreise meiner Freundinnen anbringen. Er ist beunruhigt, missmutig und jetzt schon eifersüchtig auf jeden, der sich mir nähern könnte. Aber er schluckt das Tapfer herunter und küsste mich zum Abschied, als Ellen mich abholt.

Ich bin eigentlich zu müde, um an diesem Abend wirklich voll aufdrehen zu können. Schließlich hatte ich noch bis halb acht im Cafe gearbeitet, war nach Hause geflitzt, von Daniel flankiert, der, ach was für ein Zufall, sowieso noch irgendetwas zur passenden Zeit in der Innenstadt zu tun hatte, und hatte mich geduscht und schöngemacht.

Erik war etwas später dazugekommen und wie ein verschrecktes Huhn im Wohnzimmer auf und abgelaufen. Ich musste ihm ständig ausweichen, um ihm in seinem nervösen Gang nicht zu unterbrechen, wenn ich zwischen dem Schlafzimmer und dem Badezimmer hin und her wechselte.

Dass mein erster Abend mit den Mädels, seit ich hier in Osnabrück wohne, ihn so aus der Fassung bringt, finde ich irgendwie süß. Sein Blick sagt mir, dass er eigentlich glaubt, diesen Abend gar nicht überstehen zu können.

Am liebsten würde ich ihn trösten. Aber das geht nicht. Er würde wahrscheinlich seine Arme um mich schlingen und mich anflehen, nicht zu gehen, mich ins Schlafzimmer zerren und mir die Lust auf den Abend im Handumdrehen nehmen. Also lasse ich die Finger von ihm.

Als endlich die Haustür hinter mir und Ellen ins Schloss fällt und wir in die Abenddämmerung treten, die sich nie wirklich dunkel über die Stadt legt, atme ich auf.

Es ist allerdings Ellen, die sagt: „Puh, geschafft!“

Ich nicke nur und sehe sie an. Sie hat sich wirklich schick hergerichtet. Eine enge Jeans, eine dunkelblaue Bluse, die sie am Bauch zusammengebunden hat und eine schwarze Lederjacke. Dazu die hochgesteckten, blonden Locken und die schwarzen, ziemlich hohen Schuhe. WOW!

„Ich war mir nicht sicher, ob Erik dich wirklich gehen lässt“, sagt sie und lächelt mich zufrieden an.

„Ich auch nicht“, antworte ich ihr. So sehr ich mich auch auf den Abend freue, so ist doch in mir das schlechte Gewissen spürbar, weil Erik sich von mir abgeschoben fühlt.

In den ersten Schaufenstern sehe ich mir das Spiegelbild von uns beiden Mädels an.

„Ich wünschte, ich könnte auch mal wieder so wahnsinnig hohe Schuhe anziehen“, sage ich ein wenig neidisch und schaffe es damit, mein schlechtes Gefühl wegen Erik zu relativieren.

Ellen lacht. „Keine Chance! Außer Erik kettet dich mit Handschellen an sein Handgelenk.“

Ich muss grinsen. Aber zumindest habe ich unter meiner dünnen Sommerjacke, die ich unter meiner roten Lederimitatjacke mit den vielen Nieten trage, ein wirklich cooles T-Shirt mit einem V-Ausschnitt und einem glitzernden Mädchen, das lässig tanzt, an. Außerdem sitzt meine neue Jeanshose mindestens genauso eng wie Ellens und steckt in meinen hohen Stiefeln, die zwar nicht so einen schwindelerregenden Absatz wie Ellens haben, aber auch nicht zu verachten sind. Ich habe heute mein schwarzes Samtband um meinen Hals gebunden, dass meine Mutter mir für meine erste Party nach meinem Krankenhausaufenthalt geschenkt hatte, um meine Narbe zu verdecken. So kann ich meine Haare auf der nächsten sich bietenden Gelegenheit auch lässig aufstecken und meine Ohrringe kommen besser zur Geltung. In meinem Ausschnitt baumelt mein E&C, das aber erst dann in Erscheinung tritt, wenn ich meine dünne Jacke endlich in meine Handtasche knüllen kann.

Ellen ahnt nichts von der Umwandlung, die ich noch hinlegen werde.

„Wissen Daniel und Erik, wo wir heute Abend hingehen?“, frage ich sie.

„Unseren ganzen Plan, und zwar haarklein. Sonst hätte ich dich nicht mitnehmen dürfen. Außerdem darf ich dich nicht allein lassen, muss dir alle Männer vom Hals halten und Erik anrufen, wenn es Schwierigkeiten gibt oder du dich wieder so abfüllst, dass du Gefahr läufst, bei sonst wem zu landen“, ergänzt sie.

Völlig verdattert starre ich sie an. „So ein Blödsinn! Ich war da solo! Das passiert mir bestimmt nicht, solange ich mit Erik zusammen bin.“

„Das glaube ich auch nicht“, sagt Ellen beschwichtigend. „Ihr seid dafür viel zu verknallt. Mich interessiert auch kein anderer Kerl außer Daniel.“

Wir treffen uns mit den anderen Mädels in unserer Stammkneipe. Tatsächlich sind auch schon alle da und selbst Michaela ist heute mit dabei. Langsam scheint sie mir zu verzeihen, dass ich mit Erik zusammen bin.

Der größte Tisch in der Kneipe ist wieder mal unserer, wie auf Ellens Geburtstag.

Sofort bestellt Ellen Wodka-Orangensaft und wir stoßen mit den anderen an. Dass ich diesmal auch wieder dabei sein kann, freut alle und ich frage mich, wie ich so lange ohne diesen wilden Haufen auskommen konnte.

„Mensch, Mädels! Das ist so klasse, dass ich wieder mit euch losziehen kann!“, rufe ich und wir kippen den Inhalt des ersten Glases im Akkord hinunter. Die nächste Runde bestelle ich und die folgende Ellen. Langsam komme ich auch in Partylaune und es juckt mir in den Beinen, endlich mal wieder auf einer Tanzfläche richtig abfeiern zu können. Bevor wir gehen, besuche ich die Toilette und verwandele mich von Carolin „brav und kalt“ in Carolin „lauwarm“. Mit Ellens „heiß“ kann ich noch immer nicht mithalten. Aber ich fühle mich schon besser.

Wir gehen ins Alando, obwohl auch andere Diskotheken im Gespräch waren. Aber Ellen plädiert fürs Alando und ich weiß auch wieso. Das ist die vorgegebene Route.

So brechen wir um elf auf und Ellen stöhnt schon über ihre Schuhe, als wir dort ankommen und den Eintritt bezahlen.

„Komm, nicht schwächeln“, sage ich und muss über sie lachen. „Ich will gleich die Tanzfläche mit dir unsicher machen und du weißt doch, du musst an meiner Seite bleiben.“

Ellen stöhnt auf und verdreht die Augen.

Andrea hakt sich bei mir ein und ruft gegen die langsam lauter werdende Musik an: „Ich tanze mit dir! Und Sabine auch! Schau mal, die grinst jetzt schon wie ein Honigkuchenpferd.“

Meinen Arm um ihre Schulter legend, gebe ich ihr einen Schmatzer auf die Wange. „Ihr seid meine Rettung! Ich habe einige Wochen nachzuholen.“

Unser Auftreten erweckt tatsächlich einiges Aufsehen. So ein großer Trupp Mädels wird gerne gesehen.

„Theke!“, ruft Ellen und wir steuern die erstbeste Theke an. Ellen will sich nur noch hinsetzen und ich bekomme mein viertes Glas Wodka-Orangensaft in die Hand gedrückt. Ich schwöre mir, dass es auch das letzte Glas sein wird. Das geht alles schon wieder viel zu schnell.

Weil wir alle tanzen gehen wollen, müssen wir allerdings schnell trinken. Michaela ist die erste, die ihr leeres Glas auf die Theke haut und mit aufreizend schwenkendem Hinterteil zur Tanzfläche wackelt. Ich trinke auch aus und folge ihr breit grinsend, Andrea an der Hand, die auch schnell ihren Glasinhalt in den Rachen kippte. Die Musik ist gut und wir lassen unsere gute Laune auf der Tanzfläche aufblühen.

Susanne ist die nächste, die sich zu uns gesellt, mit Sabine im Schlepptau. Außer uns sind noch drei andere Mädchen auf der Tanzfläche und wie durch Zauberhand finden sich auch ein paar junge Männer ein.

Ich ignoriere sie extra, um mir keinen Stress einzuhandeln. Ellen sehe ich immer noch an der Theke sitzen und sich mit einigen Leuten unterhalten.

War klar, dass sie heute Abend erneut auf Bekannte trifft. Sie und Erik sind in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund.

Ich tanze mit Andrea und Sabine nach Lady Gagas Love Game. Es ist nicht so schnell und zum Warm werden gut geeignet. Akon mit Beautiful läuft irgendwann nach stressigen Discobeats, und ich bin froh, dass wieder etwas Langsames läuft, schließe meine Augen und lasse mich von der Musik führen, als plötzlich jemand meine Hand ergreift und mich an sich zieht.

Ich reiße erschrocken die Augen auf und sehe in das grinsende Gesicht von Christoph.

„Hi!“, brüllt er mir ins Ohr und dreht sich mit mir übermütig einmal im Kreis.

Christoph ist einer von Ellens ehemaligen Klassenkameraden und ich hatte ihn schon einige Male mit ihr in der Osnabrücker Nachtwelt getroffen. Ich schenke ihm ein Lächeln und freue mich wirklich, ihn zu sehen.

Mit einem breiten Grinsen entlässt er mich mit Schwung aus seinem Arm, wobei ich mich gekonnt unter seinem Arm hindurch drehe, um mich im nächsten Augenblick wieder an sich zu ziehen. Ich spüre seine Hand in meinem Rücken, die mich an ihn presst.

„Ich habe schon nicht mehr damit gerechnet, dass du noch mal hier auftauchst“, ruft er und ich kann mal wieder nicht verstehen, warum sich jemand hier auf der Tanzfläche unterhalten will.

 

Als das Lied zu Ende ist, zieht er mich zur Theke und ich lasse ihn gewähren, weil man dort zumindest die Möglichkeit zu einem Gespräch hat.

„Was möchtest du trinken?“, fragt er und seine blauen Augen funkeln mir entgegen. Er trägt seine Haare länger und ich finde ihn wirklich hübsch. Auch heute wieder.

„Cola.“

Er grinst und wenig später habe ich einen Wodka-Orangensaft in der Hand und er stößt mit mir an. „Cola trinken kannst du zu Hause.“

Natürlich will er wissen, ob ich noch mit Erik zusammen bin. Mir ist klar, dass da ein bisschen Hoffnung auf eine Chance für ihn herauszuhören ist.

„Sicher!“, kann ich nur antworten.

„Ach echt? Wer hätte gedacht, dass der sich jetzt auf einmal so festbeißt? Und das ausgerechnet bei dir!“, brummt er.

Ellen erscheint neben mir und sieht Christoph an. „Du schon wieder. Dass du immer da auftauchst, wo Carolin ist, fällt langsam auf.“

Ich finde ihre Unterstellung unangenehm. Aber Christoph lacht und antwortet auf ihre schnippischen Worte: „Ach Ellen! Ich warte schon einige Wochenenden darauf, dass du sie hier wieder anschleppst. Gönn mir doch ein wenig Wiedersehensfreude.“

„Genug gefreut“, sagt sie und zieht mich vom Stuhl auf die Tanzfläche.

Ich habe mein Glas noch in der Hand und will es zur Theke zurückbringen, aber Ellen schüttelt nur mit ernstem Gesicht den Kopf und ich trinke es aus und stelle es auf einen Tisch in der Nähe.

Wir tanzen und ich grinse ihr frech zu, damit sie auch wieder lächelt. Sie hebt nur warnend den Zeigefinger und ich nicke ihr zu. Nach weiteren Liedern und eine Stunde später bin ich schon so müde und fertig, dass ich nach Hause gehen könnte. Aber meine Mädels sind völlig aufgedreht und in Partystimmung. Die Tanzfläche ist bis auf den letzten Meter besetzt und ich sehe Michaela mit einem jungen Mann tanzen, den ich nur von hinten sehe. Aber irgendetwas an ihm irritiert mich. Vielleicht ist es auch nur Michaela, die ihn anhimmelt, wie ich es das letzte Mal bei ihr und Erik gesehen hatte. Ich wünsche ihr wirklich, sie trifft endlich auf den Richtigen. Erik ist nur der Richtige für mich.

Gedacht und wieder vergessen.

Andrea und Sabine schieben sich an mich heran und wir tanzen ziemlich eng und aufreizend, ich zwischen ihnen eingeklemmt wie die Wurst in einem Hot Dog Brötchen.

Als Sabine von hinten ihre Arme über meine Schulter legt und wir zusammen mit wippenden Bewegungen in die Knie gehen, sehe ich zur Seite und eine Sekunde lang habe ich ein Déjà-vu. Es ist wieder Michaelas Tänzer, der sich mit ihr näher an uns herangeschoben hat, Michaela fest im Arm hält und mir nun wieder den Rücken zudreht.

Sabine und ich schieben uns wieder hoch und sie jauchzt übermütig auf, während sie nun Andreas Hände greift, die mir gegenübersteht und sich erneut mit uns zusammen in die Knie wippt. Ein Blick zu Ellen sagt mir, dass sie unser Tanzen nicht gerade gutheißt. Und die Blicke der männlichen Tänzer sagt mir, dass wir es wirklich besser lassen sollten. Aber Sabine und Andrea sind nicht zu bremsen und so starten wir auch gleich in das nächste Lied.

Irgendetwas macht mich plötzlich nervös und ich sehe mich um, wann immer ich die Möglichkeit dazu bekomme und sehe Ellen auf einmal bei Daniel stehen und ihn küssen. Mir ist klar, dass Erik auch da sein muss.

Das Lied ist zu Ende und Sabine und Andrea entlassen mich lachend aus ihrem Klammergriff. Ich beschließe Erik zu suchen, als mit dem neuen Lied plötzlich Hände nach mir greifen und mich an einen Körper ziehen. Ich sehe in die verdutzten Augen von Michaela, die sich wütend umdreht und die Tanzfläche verlässt. Erschrocken spüre ich den festen Griff, in dem ich gefangen bin und höre eine Stimme, die mir den Atem nimmt, als sie mir ins Ohr ruft: „Hallo Carolin!“

Kurz spüre ich meine Beine weich werden und sehe in das Gesicht über mir. Dunkelbraune Augen sehen auf mich hinunter und ich blinzele, weil ich es nicht fassen kann.

Julian!

Ich will mich von ihm losreißen. Aber er hält mich eisern fest und ich höre ihn rufen: „Hey, ich tue dir doch nichts. Carolin! Bitte!“

Ich gebe den Wiederstand auf, völlig geschockt und er löst den Griff ein wenig. Mich hilflos umsehend, sehe ich in Ellens Gesicht … und Daniels, der völlig irritiert zu sein scheint.

In meinem Kopf und in meinem Bauch läuft alles Amok und ich versuche mich erneut von Julian zu lösen. Aber die Panik hält mich genauso im Griff, wie Julian es tut. Doch dann lässt er endlich etwas lockerer. Er legt seine Hand in einem festen Griff um mein Handgelenk und zieht mich zur Theke. Dort sieht Michaela uns schon mit vor Wut funkelnden Augen entgegen.

Mir ist klar, weshalb. Wahrscheinlich denkt sie, ich spanne ihr gerade den nächsten aus.

„Setz dich!“, sagt Julian und drückt mich auf den Hocker neben Michaela, die aufstehen will, um zu gehen.

„Michaela! Das ist mein Bruder Julian!“, höre ich mich ausrufen und meine Stimme gleicht einem Hilferuf.

Sie sieht mich verunsichert an und Julian sieht von mir zu ihr. Scheinbar war ihm nicht klar, dass ich seine Tanzpartnerin kenne.

Über Michaelas Gesicht zieht ein Grinsen, das breiter nicht mehr werden darf, sollen ihr nicht die Zähne aus dem Mund fallen.

„Ach, nett dass du dich daran erinnerst, dass ich dein Bruder bin“, brummt Julian, und bestellt sich ein Bier und für mich eine Cola. „Du hast schon genug getrunken“, sagt er und ich sehe ihn nur ungläubig an. Will er jetzt hier den großen Bruder raushängen lassen und woher will er das überhaupt wissen?

„Was machst du hier?“, frage ich aufgebracht und versuche meine Panik unter Kontrolle zu bekommen, die mich erschreckend nah meiner Atemnot entgegenträgt.

„Ich habe lange keine Möglichkeit gehabt, ein wenig Gesellschaft zu genießen und zu feiern. Und an der Uni wurde mir dieser Laden empfohlen.“

Ich sehe mich nach Erik um, ob der nicht irgendwo auftaucht und mich rettet. Aber es ist Daniel, der mit Ellen im Schlepptau zu uns kommt.

„Hi!“, sagt er an Julian gerichtet und sein Blick verheißt nichts Gutes.

Julian lächelt Daniel an. „Hi! Wirklich cool hier!“

Ich will Daniel fragen, wo Erik ist, doch der sieht immer noch Julian an und ich bringe keinen Ton heraus. Etwas schnürt mir die Kehle zu, was sich mit jedem Blick auf meinen Bruder verschlimmert und mir unweigerlich Erinnerungen aufdrängen will, die ich nicht aufkommen lassen will. Aber ich erliege einen Augenblick dem Irrtum, dass es um mich herum nach kalter, feuchter Erde riecht und mich beschleicht eine Angst, die mein Herz erschreckend gegen meinen Brustkorb hämmern lässt.

„Schön, dass es dir hier gefällt“, raunt Daniel, aber er klingt nicht so, als wenn er es wirklich schön findet.

Julian stellt sich neben mich, als will er klar seine Ansprüche anzeigen und legt seinen Arm um mich, worauf sich augenblicklich etwas in meiner Brust zusammenzieht.

„Lass das“, brumme ich entsetzt über die neuerliche Nähe und sehe in die dunklen Augen meines Bruders, der mich angrinst. „Carolin! Wir beide feiern jetzt erst mal unser Wiedersehen“, sagt er, meinen Einwand ignorierend und sieht mir in die Augen, als wolle er mich hypnotisieren.

Aufgebracht schiebe ich ihm meinen Ellbogen in die Seite, damit er mich loslässt.

Ich sehe an Daniels Blick, dass er Julians Unverfrorenheit nicht fassen kann. Er will gerade die Hand ausstrecken und Julians Arm von meiner Schulter reißen, als er die Hand wieder sinken lässt. Ich sehe an Ellens und Daniels ernstem Blick, dass etwas nicht stimmt, mal ganz davon abgesehen, dass ich Julian neben mir stehen habe, der mich besitzergreifend an sich zieht. In dem Moment packt jemand seinen Arm und Julian wird herumgerissen. Er verzieht das Gesicht vor Schmerzen, als Erik ihm den Arm auf den Rücken dreht.

„Alter, such dir eine andere. Die gehört mir“, faucht er und ich sehe in das entsetzte Gesicht von Michaela, die das Ganze verunsichert beobachtet. Ich weiß nicht, ob es Eriks auftauchen oder Julians missliche Lage ist, die sie so entsetzt.

Ich lasse mich von meinem Hocker rutschen und meine Beine wollen einen Moment nicht richtig gehorchen. Nach Eriks Hand greifend, die unerbittlich Julian in die Knie zwingt, brülle ich viel zu laut: „Das ist Julian! Mein Bruder!“

Erik starrt mich einen Augenblick fassungslos an und lässt langsam Julians Arm los. Daniel und Ellen wirken auch vollkommen irritiert von meiner Aussage.

Julian richtet sich auf und reibt sich die Schulter, die Erik ihm vor Sekunden nur zu gerne ausgekugelt hätte.

„Das soll dein Bruder sein?“, fragt Erik mit wütendem Blick und ich nicke nur. Klar, er sieht mir nicht ein bisschen ähnlich, mit seinen dunkelbraunen Augen und seinen dunkelbraunen, welligen Haaren.

„Das ist Julian! Mein und Tims Bruder!“, sage ich deshalb und hoffe, dass wenigstens die Ähnlichkeit zu Tim Erik das glauben lässt.

„Oh Mann! Verdammte Scheiße!“, flucht Daniel und Ellen fragt an ihn gerichtet, weil sie wohl mehr Weitblick als ich hat: „Kennst du ihn?“

Ich schiebe mich auf meinen Hocker zurück, weil mein Körper ein Eigenleben entwickelt. Meine Beine wollen mich nicht länger tragen.

Julian reibt sich immer noch den Arm und sieht mich mit einem Blick an, als solle ich ihn trösten.

„Aus der Uni! Er sprach mich an, ob ich ihm sagen kann, wo wir immer so zum Feiern hingehen, weil er sich hier nicht auskennt. Poor! Es tut mir leid!“, höre ich Daniel zerknirscht antworten.

„Hat ja auch gut geklappt! Ich habe auf deine Empfehlung hin auch gleich gefunden, was ich gesucht habe“, sagt Julian mit verächtlicher Miene. „Ich hatte gar nicht erwartet, meine Schwester so schnell hier in der Stadt zu finden.“

Erik sieht ihn wütend an. Er ist ein wenig größer als Julian und wirkt wesentlich kräftiger, obwohl Julian scheinbar die Zeit in Untersuchungshaft nutzte, um zu trainieren. Er sieht nicht mehr so dünn aus, was mich ihn nicht gleich von hinten erkennen ließ, als er mit Michaela tanzte.

„Was willst du von Carolin?“, brummt Erik wütend. „Halt dich von ihr fern! Du tust ihr nicht noch einmal etwas an.“

Julian wirkt erschrocken. „Habe ich auch nicht vor. Ich will nur, dass sie mir verzeiht und dass wir wieder wie früher Geschwister sein können und ich sie sehen kann. Mehr will ich nicht! Ehrlich!“ Seine Stimme klingt mit jedem Satz flehender.

Michaela schmilzt hinter Daniel und Ellen dahin. Auch Ellen scheint weich zu werden.

Julian sieht auch einfach zu gut und zu unschuldig aus. Er konnte schon immer alle um den Finger wickeln. Aber Erik ist gegen seine Charmeoffensive immun.

„Das sollen wir dir glauben? Du hast sie das letzte Mal schlimm verletzt“, brummt er aufgebracht.

Ich habe das Gefühl, ich bin im falschen Film. Julian so dicht vor mir zu haben und mit Erik ausdiskutierend, ob er das Recht hat, mich zu sehen, fühlt sich falsch an. Ich kann mich nicht länger der Angst erwehren, die Julians Anblick in mir schürt. Mich hält immer noch das erschreckende Gefühl der Beklemmung gefangen. Ich sehe ihn vor mir, wie er sich wie ein Irrer gebärdete und mich und Tim umbringen wollte. Diese Erinnerungsfetzen schieben sich gnadenlos in meinen Kopf, jetzt, wo ich nicht unmittelbar von jemandem in das Gespräch einbezogen werde und nur stummer Zuseher bin. Um dem zu entkommen, öffne ich den Mund und bringe ein: „Julian!“, hervor.

Alle verstummen und sehen mich an.

Ich bin über meine eigene Stimme verdutzt, die seltsam klingt. „Julian, wie stellst du dir das vor? Du kannst nicht einfach wieder in mein Leben platzen und so tun, als wäre nichts gewesen. Du hast mich unter Drogen gesetzt, dass ich dachte, ich muss sterben, und das zweimal! Du hast Tim vor meinen Augen übel zugerichtet und uns beide glauben lassen, dass du uns umbringen wirst. Außerdem hast du mir mit einem Messer in den Hals geschnitten, dass ich fast dabei draufgegangen bin. Und jetzt tauchst du hier auf und meinst, ich muss dich als deine Schwester in die Arme schließen und es ist alles vergessen?“, presse ich hervor und in meinem Inneren baut sich der dumpfe Druck weiter auf, der alles zusammenzupressen scheint. Ich spüre die Tränen, die über meine Wange laufen und sehe meine zitternden Hände, die sich in meinem Schoß zu einem Knäul verknoten, um dem Zittern Herr zu werden. Aber das alles wirkt wie etwas, was ich nicht unter Kontrolle bringen kann und dass ich daher besser ignoriere.

Ellen und Daniel starren mich an. Michaela hört auf, Julian anzuhimmeln und Erik schiebt ihn unsanft aus dem Weg, um mich in den Arm zu nehmen.

 

„Beruhige dich! Es kann dir nichts passieren! Komm, ich bringe dich nach Hause. Atme tief ein und versuche dich auf deine Atmung zu konzentrieren“, sagt er eindringlich und besorgt.

Eriks Worte beunruhigen mich noch mehr. Was hat er mit meiner Atmung?

Ellen kommt neben mich und legt mir eine Hand auf den Rücken. „Ganz ruhig!“, raunt auch sie und ich versuche durch meinen Tränenschleier zu erkennen, was los ist.

„Was ist mit ihr?“, fragt Julian, und ich höre tatsächlich so etwas wie Sorge in seiner Stimme.

„Sie steht wegen dir ständig kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Also lass sie in Ruhe!“, faucht Ellen und Daniel schubst ihn noch ein Stück weiter von uns weg. Ich höre Sabine und Susanne fragen, was los ist und Andrea taucht neben Ellen auf und flüstert: „Gibt es Stress wegen diesem Typ?“

„Komm! Wir gehen!“, höre ich Erik sagen und bin so froh, dass er da ist.

Als er mich von dem Hocker zieht, kann ich kaum stehen. Erik nimmt mich fest in den Arm und wir gehen zum Ausgang, ohne auf die anderen zu achten.

„Hol das Auto!“, höre ich Erik brummen und Daniel läuft irgendwohin. Ellen kommt an meine Seite und schiebt auch ihren Arm um mich.

„Nicht schon wieder! Soll ich Dr. Bremer anrufen?“

„Nein, ich denke das kriegen wir allein hin. Sie muss bloß nach Hause“, raunt Erik und der Mustang fährt vor uns auf den Fußgängerweg.

Erik klappt den Sitz um und schiebt mich auf den Rücksitz. Er setzt sich neben mich und zieht mich in seinen Arm, mir beruhigende Worte zuflüsternd, während Daniel den Mustang durch die Stadt lenkt, Ellen neben sich.

Ich lasse mich in die Wärme von Eriks Arme fallen und spüre, wie ein Schleier über alles fällt und mich einhüllt - beruhigend und meine Panik niederkämpfend, die mich immer noch fest im Griff hat.

Ich spüre Eriks Brust, die sich immer wieder in verzweifelten Seufzern hebt und als der Motor des Mustangs aufhört, uns mit seinem tiefen, beruhigenden Brummen einzuhüllen, höre ich Ellen sagen: „Erik! Hey! Sie wird schon wieder!“

„Ich kann nichts tun! Gar nichts! Ihr Bruder wird sie niemals in Ruhe lassen und irgendwann bricht sie ganz zusammen. Und dann?“

Ich höre, wie verzweifelt und überfordert Eriks Stimme klingt. Sie dringt durch den Schleier, der mich umgibt, bis in mein Innerstes vor und berührt mich. Erik kann das alles nicht. Die Angst um mich lähmt ihn und macht ihn verwundbar, wie den fünfjährigen, der nicht in der Lage war, sich gegen das Böse zu wehren. Und er hatte sein Leben lang dafür gekämpft, nie wieder so etwas fühlen zu müssen.

In meinem Herzen und in meinem Kopf baut sich eine dunkle Kraft auf, die langsam … ganz langsam … zur Oberfläche dringen will. Ich brauche nur noch etwas Ruhe und ich werde kämpfen, meine Angst und Panik besiegen und wieder stark sein. Ich muss stark sein - für uns beide. Denn Erik kann das nicht.

Ich werde aus dem Auto gezogen und Erik hebt mich auf seinen Arm. Ich möchte jetzt schon stark sein, aber mein Körper weigert sich, das Spiel mitzuspielen. Von Erik getragen und von Ellen und Daniel flankiert, die besorgt murmelnd uns die Türen öffnen, werde ich wenig später in mein Bett gelegt. Ich spüre, wie meine Stiefel ausgezogen werden und eine Decke über mich ausgebreitet wird.

Eine Hand streicht mir die Haare aus dem Gesicht und Lippen berühren meine Wange. Ich rieche Eriks Geruch und lasse mich von der Wärme der Decke einlullen und meinen Körper in die Matratze sinken. Der Alkohol tobt noch zusätzlich in einem wilden Wellengang durch mein Innerstes und ich lasse mich einfach sinken.

Stimmen aus dem Wohnzimmer dringen in meinen Kopf, aber ich kann die geflüsterten Worte nicht verstehen. Aber ich weiß, sie gehören Ellen und Daniel, die auf Erik einreden - ermutigend und aufbauend.

Das beruhigt mich und bekämpft meine innere Unruhe. Die beiden müssen sich jetzt noch um Erik kümmern. Aber wenn ich geschlafen habe und der elende Alkohol verflogen ist, wird die dunkle Kraft in mir sich ausgebreitet haben und ich werde wieder übernehmen können. Noch lasse ich keinen Gedanken an das zu, was dann auf mich wartet. Ich sehe es noch als etwas an, das ich erst mal als „ES“, bezeichne, ohne Namen, Vergangenheit und ohne Handlung. Aber ich werde mich dem stellen und es überwinden müssen, damit Erik nicht wieder völlig überfordert in seine Untiefen stürzt.

Ich öffne die Augen. Regentropfen prallen an das Fenster und laufen daran hinab. Kühle Luft kommt aus dem Spalt, den das gekippte Fenster freigibt. Aber mir ist warm. Viel zu warm.

Neben mir spüre ich eine Hitzequelle, die mich zum Kochen bringt und die enge meiner Jeanshose, die ich immer noch trage, unerträglich macht. Langsam drehe ich mich um und sehe Erik an, der mir blass und mit Augenrändern, als hätte er die Nacht nicht geschlafen, direkt ins Gesicht sieht. Ich drehe mich zu ihm um und muss mich dabei von seinem Arm befreien, der mich umschlungen hält.

„Hey, wie geht es dir?“, fragt er, und in seiner Stimme schwingt alle Besorgnis mit, die ihn durch die Nacht getragen hat und diese zur Hölle werden ließ.

„Ich bin in Ordnung“, antworte ich mit all dem Enthusiasmus, den ich aufbringen kann.

Er scheint mir das nicht ganz glauben zu können.

„Aber ich bin ganz nassgeschwitzt. Poor, die Hose ist so warm“, raune ich, um das als mein einziges Problem zu präsentieren.

„Ich wollte dich auf keinen Fall wecken. Ich war so froh, dass du geschlafen hast“, flüstert er leise. Er klingt erschöpft und müde. Seine Augen sehen mich butterweich und braun an und ich würde ihm am liebsten höchstpersönlich seine Dosis gegen Kummer verabreichen.

Ich lasse meine Hand vorsichtig über seine Wange gleiten, spüre seine Bartstoppeln und möchte ihm ganz nahe sein. Aber nicht so verschwitzt und in voller Partymontur.

„Hast du gar nicht geschlafen?“, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. „Kaum.“

Ich schlage die Decke zurück und er stützt sich sofort auf seinem Ellenbogen ab. Ich drücke ihn auf die Matratze zurück, decke ihn wieder zu und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. „Schlaf ein bisschen. Mir geht es wirklich gut. Ich gehe duschen und komme dann wieder zu dir. Bleib einfach liegen.“

Seine sorgenvolle Verwirrung, die sich in seinen Augen und seinem Gesicht widerspiegelt, beunruhigt mich. Er glaubt mir offensichtlich nicht, dass es mir wirklich gut geht.

„Komm schlaf! Du hast über meinen Schlaf gewacht und wenn ich gleich wieder da bin, wache ich über deinen Schlaf. Das nennt man Arbeitsteilung“, versuche ich witzig zu sein.

Aber Erik scheint nicht mal glauben zu können, dass ich witzig sein will. Aber er lässt sich müde tief ins Kissen sinken und ich eile ins Badezimmer, weil meine Blase schon schmerzhaft um Entleerung bettelt.

Ich dusche schnell und denke nur an Erik. Erik mit seinem sorgenvollen Blick, Erik müde, Erik abgekämpft, Erik in Sorge, Erik ohne Drogen, Erik, den ich liebe. Alles andere, was mich wieder in einen Abgrund ziehen kann, verdränge ich aus Angst, dem dann nicht mehr gewachsen zu sein. Und ich muss Erik zeigen, dass er sich um mich keine Sorgen zu machen braucht. Ich bin okay. Völlig okay. Das wird mein Mantra für den Tag. ICH BIN OKAY.

Mit fast trocken geföhnten Haaren, geputzten Zähnen und einem warmen Körper vom heißen Duschen, steige ich wieder zu Erik ins Bett, schiebe mich dicht an ihn heran, lasse mich in seine Arme schließen und küsse seine Brust.

„Ich bin wieder ganz in Ordnung. Komm, schlaf, mein Schatz“, flüstere ich ihm zu. Ich spüre sein Herz unruhig in seiner Brust schlagen und lege meine Hand darauf.

Er öffnet die Augen nicht, seufzt nur und zieht mich noch ein wenig dichter in seine Obhut.

„Schlaf!“, sage ich erneut und beginne in Gedanken mein Marta aufzusagen, um mich vor unliebsamen Erinnerungen zu schützen. ICH BIN OKAY! MIR GEHT ES GUT.