Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Aus der Reihe: Das Leben #5
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Ich sehe ihn irritiert an. „Ich? Ich kenne die doch gar nicht.“

„Oh doch!“, sagt Ellen und lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen. „Als wir das erste Mal zusammen los waren - den Abend im Hyde Park - da hast du erst Teddy und dann Sam einen Korb gegeben. Sie wollten dich anbaggern und du hast sie völlig ignoriert. Ich weiß nicht mal, ob dir das überhaupt klar war. Du hast so ausgelassen getanzt und wir hatten so viel Spaß und die beiden rochen Frischfleisch und waren ziemlich aufgebracht darüber, dass du sie nur mit Verachtung gestraft hast. Ich dachte wirklich, die machen uns Stress.“

Ich kann sie nur verständnislos anstarren.

Daniel stellt für alle Bierflaschen auf den Tisch und öffnet seine mit einem Feuerzeug, das er dann weitergibt. Jeder macht seine Flasche damit auf, nur ich kann meine Flasche nur mit einem bittenden Blick an Erik weiterreichen, der das für mich erledigt.

Daniel ergänzt: „Die haben sich ziemlich über dich ausgelassen und dass sie solche Püppchen wie dich eigentlich zum Frühstück verspeisen. Daraufhin hat Erik ihnen gesagt, du gehörst zu ihm und sie sollen sich das verkneifen. Natürlich fanden sie das lächerlich, auch wenn Ellen die ganze Zeit mit dir tanzte und er sollte denen das irgendwie beweisen. Also ist er zu dir auf die Tanzfläche gegangen …“

Daniel grinst Erik an, der nur mit ernstem Blick sein Bier trinkt.

„Und erst schien es so, als würdest du bei ihm sogar brav sein. Aber dann hast du auch ihn ziemlich unmissverständlich abblitzen lassen und bist abgehauen. Die Maas fanden das wenig lustig und meinten, er müsse noch einiges lernen, wenn du angeblich zu ihm gehörst und mit ihm so umspringst. Die sahen echt seine Ehre und ihr Zuhälterimage den Bach runtergespült und weil sie so etwas nicht durchgehen lassen, ist Ellen losgeschossen, um dich zu suchen, bevor sie das tun konnten. Und deshalb habe ich euch dann sofort nach Hause gebracht.“

Ich sehe Erik an und kann nicht fassen, dass mein Leben schon da eine Wendung genommen hat, die ich nicht mal im Entferntesten ahnte und die mich jetzt noch verfolgt.

„Und jetzt?“, frage ich ihn.

„Ich werde morgen zu Walter gehen und er soll die beiden in ihre Schranken weisen. Du bist keines dieser Mädchen wie ihre. Du bist meine Freundin und gehörst zu mir“, knurrt Erik und ich habe das erschreckende Gefühl, er ist wütend auf mich.

Ich stehe auf und lege meine Arme von hinten um ihn. Tausend Fragen wüten in meinem Kopf. Aber ich wage keine zu stellen. Ich weiß von Ellen, dass Walter der Typ ist, der Erik und Daniel zu Erledigungen seiner dubiosen Geschäfte schickt und scheinbar haben Sam und Teddy auch mit ihm zu tun.

„Ich gehe mit!“, sagt Daniel. „Wenn er glaubt, du willst aussteigen, wird er dir trotz allem nicht zuhören.“

Erik wirft ihm nur einen wütenden Blick zu und nickt.

Ellen schiebt sich vom Stuhl. „Gut, dann lasst uns jetzt Essen. Flaschen vom Tisch! Teller auf den Tisch! Das Fleisch ist bestimmt jetzt gar.“ Damit scheint das Thema beendet zu sein.

Es gibt Hähnchenfilets in Zwiebelsahnesoße mit Reis und es schmeckt köstlich, auch wenn keiner mehr richtig Appetit hat.

Als ich abends mit Erik im Bett liege und er nachdenklich an die Decke starrt, frage ich ihn: „Bereust du, dass du dein altes Leben aufgegeben hast? Du hast jetzt wegen mir so viele Sorgen und Probleme.“

Er legt sich auf die Seite und stützt sich auf dem Ellenbogen ab. „Mein Leben war vorher wirklich einfacher. Ich brauchte mir nur Sorgen um mich zu machen und das hieß, ich machte mir keine. Was ich verpatzte, musste ich auch selber wieder ausbaden und die Konsequenzen betrafen nur mich.“

Mir stockt der Atem. Leise flüstere ich: „Und was heißt das? Dass du das mit uns bereust?“

„Hätte ich dich nie kennengelernt, wäre mein Leben so weitergelaufen. Ich wusste nicht, dass mir etwas fehlt. Und dann kamst du. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ich kann nie wieder in mein altes Leben zurückkehren und so sein und fühlen wie vor dir. Das ist vorbei. Und ich möchte das auch gar nicht. Das, was ich mit dir habe, brauche ich jetzt. Ich möchte ohne diese tiefe Zuneigung und Liebe nicht mehr leben … nicht die zu dir und nicht die von dir. Ich wusste nicht, wie das ist und wie sich das anfühlt. Aber ich habe ständig Angst, dass dir etwas zustößt. Unsere Welt ist so krank und unberechenbar. Fast glaube ich, ich sollte dich zu Marcel zurückschicken, damit du wenigstens vor meiner kranken Welt sicher bist.“

Ich schnappe nach Luft. Wut kriecht in mir hoch. „Du kannst mich nicht zu Marcel zurückschicken! Du kannst mich verlassen. Aber du kannst mich nicht einfach wieder bei irgendwem abgeben und fertig. Wenn du mich nicht mehr willst, muss ich allein klarkommen und damit leben oder untergehen. Aber auch ich kann nicht mehr in mein altes Leben zurückkehren und alles, was mit uns war, vergessen. Und ich habe auch Angst um dich. Und ich habe Angst, dass du dich mit deinen Drogen umbringst, wie Ellens Alex, oder einer deiner dubiosen Freunde dich um die Ecke bringt, weil da gerade mal ein Deal nicht so gelaufen ist. Mir geht es also nicht besser als dir!“, kann ich ihm nur wütend entgegenschleudern und schlage seine Hand weg, die sich mir entgegenstreckt. Ich weiß, Erik bemüht sich, das Problem mit seinen Drogen in den Griff zu bekommen und sein Blick sagt mir, dass meine Worte ihn in seinem tiefsten Inneren treffen. Aber dass er auch nur in Erwägung zieht, mich wieder bei Marcel abzugeben, wie ein unliebsames Haustier, ärgert mich.

„Komm her!“, knurrt er. „Ich werde dich niemandem überlassen und ich werde, wenn es so kommen sollte, mit dir zusammen untergehen.“ Er greift nach meinem Handgelenkt und zieht mich zu sich heran, legt ein Bein über meine und schiebt seinen Oberkörper ein Stück auf meinen, um mich zu fixieren. „Ich kann gar nicht mehr anders.“

Sein warmer Körper und seine Nähe lassen mich meine Wut vergessen. „Ich auch nicht“, flüstere ich und ziehe ihn ganz auf mich.

Ellen lässt mich am nächsten Tag nicht aus den Augen. Daniel hatte uns am Morgen mit Pfefferspray ausgerüstet … für den Notfall, und uns eingebläut, es immer griffbereit in der Tasche zu haben. Erik brachte uns zur Schule und ich musste ihm versprechen, keinen Meter allein zu gehen.

Ich fühle mich langsam wirklich unwohl. Aber so, wie die anderen drei mich nun behandeln, müsste ich ständig vor einer Entführung stehen. Fast glaube ich, ich habe von allen am wenigsten das Gefühl, als könne mir etwas geschehen. Aber ich will ihre Angst nicht unnötig schüren und füge mich ihren Anweisungen.

Da ich nachmittags frei habe, würde ich gerne mal wieder etwas mit den Mädels unternehmen, wie wir es am Anfang immer taten. Aber Ellen lässt sich nicht erweichen.

„Wir gehen sofort nach Hause!“, knurrt sie aufgebracht, dass ich überhaupt diesen Vorschlag zu machen wage. Aber dann kommt mir eine rettende Idee. Als wir nach der Schule aus dem Gebäude treten, wende ich mich an meine Mitschülerinnen. „Wer hat Lust mit zu mir zu kommen? Ihr habt noch gar nicht meine neue Wohnung gesehen.“

Andrea und Sabine sind begeistert. Nur Michaela schlägt aus. Sie hält sich immer öfter an die anderen in unserer Klasse und ich weiß, es liegt an mir und Erik. Das tut mir leid, aber ich kann ihr nicht helfen.

Ellen sagt dazu nur, dass sie selbst schuld ist, weil sie sich ihm an den Hals geschmissen hat und er sich genötigt sah, sie mit in sein Bett zu nehmen.

Jaja.

Ich denke lieber gar nicht darüber nach, was Erik in den sechs Jahren, die er älter als ich ist, für Mädchen durchgebracht hat. In einem Moment, als ich mich in einem Anflug von Selbstzerstörungsdrang mit diesem Thema auseinandersetzte, hatte ich eine kleine Rechnung aufgestellt. Bei nur einem One-Night-Stand im Monat, was wirklich tief gerechnet ist, mal zwölf Monate und sechs Jahre, kommen allein über siebzig Mädchen auf seine Kappe. Ich hatte die Gedanken daran sofort bis auf weiteres verdrängt. Zu sehr schockte mich die Zahl. Und noch mehr irritierte mich daran, dass es angeblich niemals eine gegeben hat, die ihn in seinem Herzen berühren konnte. Das war dann der Moment gewesen, wo die Zahl an Bedeutung verlor und mir klar wurde, dass mit uns etwas Besonderes entstanden war. Etwas, was ihm alle anderen Mädchen nicht sein konnten.

Zusammen fahren wir bis zum Hasetor und laufen bis zu meiner Wohnung.

Weder der BMW noch der Mustang stehen vor der Tür und ich bin froh darüber.

Als wir die Treppe hinaufgehen, erklärt Ellen: „Da wohnt Daniel, und ich bin auch die meiste Zeit dort.“

In meiner Wohnung angekommen, mache ich Musik an und hole für alle Orangensaft und finde im Küchenschrank auch noch eine Wodkaflasche, die ich dort mal gebunkert hatte.

Wir machen es uns im Wohnzimmer bequem, lassen Musikvideos über den großen Fernseher laufen und ich kann zum ersten Mal seit langem alles vergessen, was sich immer wieder bedrückend an die Oberfläche kämpft.

Ellen geht es nicht anders und nach dem dritten ziemlich schnell heruntergekippten Wodka-Orangensaft legt sie den Arm um mich und ruft in die kleine Runde: „Leute, wir müssen wieder mehr losziehen. Das ist so kein Leben! Und Carolin ist jetzt endlich auch hier in Osnabrück und man muss die Feste feiern wie sie fallen.“

Wir nehmen uns alle vor, am Freitag die Stadt auf unsere alte Weise unsicher zu machen.

Ich stoße mit Ellen an und flüstere ihr zu: „Das Leben ist zu kurz, um es sich von Maasmännchen und Brüdern versauen zu lassen.“

Sie lacht laut auf. „Maasmännchen? Das ist gut!“

Die Musik dröhnt durch die Wohnung, als ich mit Ellen, und Sabine mit Andrea, wild tanzend durch das Wohnzimmer springen. Wir lachen und ich bin sogar richtig betrunken. Ellen scheint es nicht besser zu gehen und sie greift nach mir und fällt mir um den Hals.

 

Als mein Blick zur Flurtür abdriftet, steht Erik im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick verheißt nichts Gutes.

„Hoppla!“, sagt Sabine und hält Andrea fest, die gerade über die Lehne des Sofas zu stürzen droht.

Ellen wird auch auf ihn aufmerksam und säuselt lallend: „Erik! Schon da? Wir machen eine Freiheits … party!“

Ich sehe Ellen entsetzt an. Das kann kaum das richtige Wort für das sein, was wir hier feiern und an Eriks Gesicht sehe ich das auch. „Eine Einweihungsfeier, keine Freiheitsfeier“, rufe ich gegen die laute Musik an und wanke zu ihm.

Doch sein Blick bleibt unverändert. Er traut den Worten seiner Schwester wohl mehr als meinen.

Es klingelt und Erik dreht sich um und macht die Tür auf, mit flacher Hand den Weg weisend. „Hier ist deine Ellen! Party machend! Mitten in der Woche! Carolin ist schon vollkommen betrunken.“

Daniel grinst breit und geht direkt zu Ellen und küsst sie. Sie schlingt ihre Arme um ihn und beginnt mit ihm zu tanzen.

Ich sehe Andrea an, die ihre Tasche greift und auf Sabine wartet, die noch ihre Schuhe anziehen muss. Sie kichert und wird dann mit einem Blick auf Erik wieder ernst.

„Wollt ihr schon gehen?“, frage ich entrüstet.

„Ja, wir müssen los!“, sagt Andrea und zieht Sabine an Erik vorbei in den Flur, greift die beiden Jacken und schiebt die schon wieder grinsende Sabine zur Wohnungstür.

Die säuselt: „Manoman! Du kannst aber böse gucken!“, und fuchtelt Erik mit dem Zeigefinger vor der Nase herum, bevor Andrea sie ganz zur Tür bugsieren kann.

Ich lache und wünsche ihnen ein gutes Heimkommen, mich kurz an der Tür festhaltend. Auf der Treppe winken die beiden mir noch mal zu und Sabine ruft: „Freitag machen wir weiter!“

„Hundertprozentig!“, rufe ich ihr hinterher, drehe mich ein bisschen zu schnell um und stolpere in die Wohnung zurück. Die Tür fällt laut ins Schloss und Erik sieht mir kopfschüttelnd entgegen.

Ellen tanzt mit Daniel, der Erik eine beschwichtigende Handgeste zuwirft. Aber ich habe es gesehen und reiße mich zusammen. Irgendwie schaffe ich es bis vor seine Füße, ohne zu stolpern.

„Ich musste den Mädels doch noch die Wohnung zeigen“, erkläre ich und schiebe mich vorsichtig ganz dicht an ihn heran, bis wir uns fast berühren.

Er packt mit beiden Händen den Kragen meiner Bluse und zieht mich ganz an sich. „Wie kann man sich nur mitten am Nachmittag besaufen?“, brummt er. Aber sein Blick ist alles andere als wütend. Nicht so wie bei Andrea und Sabine eben, was die beiden fluchtartig die Wohnung verlassen ließ.

„Einsamkeit, Vernachlässigung und weil du mir so gefehlt hast, hat mich zu tief ins Glas schauen lassen“, flüstere ich theatralisch und sein ungläubiger Blick zeigt mir, dass er nicht fassen kann, dass ich ihm jetzt auf dieser Schiene komme.

„Soso!“, brummt er. „Ich bin also schuld?“

Ich nicke und schenke ihm einen gekonnten Augenaufschlag.

Seine Augen verengen sich augenblicklich zu Schlitzen, was das Braun aufblitzen lässt und er versucht ernst zu bleiben. „Böse Kinder legt man übers Knie“, murrt er. „Und ich denke, bei dir wird es mal höchste Zeit durchzugreifen.“

„Auja!“, freue ich mich und Erik ist kurz verwirrt. Doch dann zieht er mich am Kragen meiner Bluse langsam hinter sich her durch das Wohnzimmer, wo Daniel und Ellen uns etwas beunruhigt nachschauen.

„Macht die Tür hinter euch zu, wenn ihr geht“, raunt Erik ihnen zu und zieht mich ins Schlafzimmer. Die Tür lässt er hinter uns laut ins Schloss krachen.

Mir ist das peinlich, weil Ellen und Daniel noch da sind und es offensichtlich erscheint, was Erik bezweckt. Aber der kennt kein Pardon. Er knöpft die ersten zwei Knöpfe meiner Bluse auf und die nächsten zwei fliegen durch den Raum.

„Hey!“, beschwere ich mich.

„Sei still!“, brummt er, zieht mir die Bluse aus und lässt meinen BH gleich mitfallen.

Ich schiebe meine Hände unter sein T-Shirt und lasse sie über seine Haut gleiten. Doch mit einem Griff zieht er sie von seiner Brust, dreht mich um und hält meine Hände vor meiner Brust verschränkt fest.

Die schnelle Drehung macht mich schwindelig und Erik küsst meinen Hals und meinen Nacken. Ganz nebenbei fragt er: „Was ist am Freitag?“

Ich lasse meinen Kopf nach vorne sinken und möchte mehr von diesen Küssen. „Da gehen wir mal wieder los“, flüstere ich ergeben, mich völlig seinen Lippen hingebend.

„Bestimmt nicht!“, raunt er nur, dreht mich wieder zu sich um und küsst mich.

Ich kann das Aufbegehren in meinem Inneren somit nicht aussprechen … will es aber auch gar nicht. Seine Erektion an meinem Unterleib elektrisiert mich und ich will mehr von ihm. Ich öffne seine Hose und lasse meine Hand hineingleiten. Dabei ist mir sogar egal, ob Ellen und Daniel noch da sind. Ich will mich nur seinen fordernden Küssen hingeben und allem anderen, was sein Körper mir verspricht.

Nichts lässt mich so sehr alles um mich herum vergessen, wie die Zeit mit Erik, wenn wir unsere Körper erforschen und unsere Sinne ausloten. Kein Zeitgefühl verschwimmt dermaßen ins Nichts, als in der Zeit, die wir miteinander verbringen, wenn wir uns lieben. Und wenn ich aus diesen zeitlosen, gefühlvollen, leidenschaftlichen Wirren wieder emporsteige, bin ich erschöpft, müde und vollkommen ruhig. Und auch Erik scheint diese Zeit aus allen seinen Untiefen zu holen, die sich immer noch in seinem Inneren auftun.

„Das möchte ich für immer haben“, raunt er mir ins Ohr und zieht mich noch ein wenig dichter an seinen heißen Körper.

Mit diesen Worten holte er mich aus dem Schlaf zurück, in den ich mich langsam fallen lassen wollte. „Ich auch“, murmele ich.

So liegen wir nur da und genießen, dass uns immer noch eine Wand aus Zufriedenheit und tiefer Zuneigung umgibt, die alles böse dieser Welt noch einige Zeit aussperren kann.

Aber jeder Frieden kann schnell durch die Tücken der Zivilisation zerstört werden. In diesem Fall ist es Eriks Handy, das klingelt.

Sofort kommt Bewegung in ihn und er schiebt mich aus seinem Arm.

Ich sehe ihm hinterher, wie er den Raum verlässt, sofort beunruhigt, weil sein schneller Aufbruch nichts Gutes vermuten lässt. Ich höre ihn reden, kann aber nicht verstehen was er sagt. Aber ich möchte mich der Welt da draußen noch nicht stellen, die sich sofort auf mich stürzen wird, wenn ich das Bett verlasse. Deshalb umarme ich die Decke und schließe wieder die Augen, mich trotzig wieder der Erinnerung an die Gefühle hingebend, die wir noch vor kurzem erlebt hatten.

Erik kommt ins Schlafzimmer zurück und schiebt sich hinter mir unter die Decke. Sein Arm schlingt sich um meinen Oberkörper.

„Wer war das?“, frage ich.

„Walter.“

Der Name elektrisiert mich, und das ist die Wirklichkeit, die mich sogar hier im Bett erreicht. Ich ziehe seinen Arm von meinem Körper und drehe mich zu ihm um. Seine braunen Augen sehen mich zufrieden an, was mich augenblicklich beruhigt.

„Ich war heute Nachmittag bei ihm und habe ihm erklärt, was du mir bedeutest und dass ich dich beschützt wissen will, und dass seine Söhne ihre Finger von dir lassen sollen. Er war ziemlich überrascht.“ Erik schmunzelt und streicht mir meine Haare aus dem Gesicht. „Er kennt mich nur als Verfechter gegen das weibliche Geschlecht und ich hatte bisher immer gegen alles plädiert, was länger als zwei Stunden ging. Dass ich mich plötzlich so ändere und auch noch mit der Bitte vor ihm stehe, mir seinen Segen für unsere Beziehung zu geben, hat ihn wirklich aus den Socken gehauen.“

Ich stütze mich auf den Ellenbogen ab und frage überrascht: „Wie, du hast dir seinen Segen geholt?“ Ich verstehe Eriks Verhältnis zu diesem Mann nicht und auch nicht, wieso er so eine große Rolle in unserem Leben spielt.

Erik erklärt mir nach einer kurzen Pause und einem tiefen Seufzer: „Walter war Clemens bester Freund. Sie kannten sich schon seit ihrer Schulzeit und während Clemens zwar ein wildes und auch drogenreiches Leben führte, hatte er doch nie etwas mit den kriminellen Machenschaften von Walter am Hut, der hier in Osnabrück ein Bordell betreibt und in ziemlich allen Geschäften seine Hände im Spiel hat, die nicht legal sind. Clemens war mein Patenonkel, wie du weißt. Aber ich habe auch noch einen inoffiziellen, der mit Clemens zusammen damals beschlossen hat, sich um mich zu kümmern. Als Clemens dann diesen Unfall hatte, fühlte Walter sich verpflichtet, mich zu unterstützen. Deshalb bin ich in der Osnabrücker Unterwelt ziemlich unantastbar. Aber Teddy und Sam, die nur wenige Jahre älter als ich sind, waren von dieser Konstellation nie besonders begeistert. Zumal Walter mich nach Clemens Tod immer ein wenig bevorzugte. Das lag natürlich nur daran, weil ich der jüngere von uns Dreien bin.“

Mich aufsetzend, kann ich nur erstaunt raunen: „Dann sind diese beiden hässlichen Schlägertypen so etwas wie Brüder für dich?“

Erik grinst. „Naja! Eine Zeit lang sahen sie das so. Aber ich denke, seit gestern nicht mehr. Und ich konnte Walter überzeugen, dass ich jetzt meinen richtigen Weg gefunden habe, den ich weitergehen möchte. Ich bat ihn, mich darin zu unterstützt und seine Jungs zurückzupfeifen. Als er mich eben anrief, sagte er mir, dass er mit ihnen geredet hat und sie die Finger von dir lassen werden.“

„Warum von mir? Was habe ich damit zu tun?“, frage ich, weil ich immer noch nicht verstehe, was ich eigentlich mit der ganzen Sache zu tun habe.

Erik setzt sich auch auf und lehnt sich an die Rückwand des Bettes. „Für die beiden sind solche Mädchen wie du das, was sie nie haben werden. Außer sie zwingen sie dazu. Erst geben sie ihnen Drogen, bis sie abhängig sind und dann lernen sie sie für den Job an. Jedes ihrer Mädchen ist abhängig von ihnen und muss sich ihnen fügen. Du standst sofort ganz oben auf ihrer Wunschliste. Und dass ich dich habe, und zwar nicht so, wie sie es gerne hätten, das ärgert sie.“

Ich verstehe zu wenig von dieser Welt, als dass ich genau weiß, was er meint. „Wie sollst du mich denn ihrer Meinung nach haben?“, frage ich verwirrt.

Erik sieht mich zurückhaltend an und ich weiß, er will gar nicht, dass ich zu viel von dieser dunklen Welt weiß, in der er Jahrelang ein und ausgegangen war. Doch ich will es wissen. „Was meinst du damit?“, bohre ich nach, als er nicht sofort antwortet. Das Ganze verunsichert mich und macht mich wütend und Erik bestätigt mir in nächsten Moment, was ich schon ahne.

„Wenn ich aus dir ein drogenabhängiges Strichmädchen gemacht hätte, dann könnten sie auch über dich verfügen, wie es ihnen beliebt.“

Ich schlucke und frage aufgebracht: „Erik, gibt es Mädchen, die du drogenabhängig gemacht hast und die für dich anschaffen müssen?“

Er schüttelt den Kopf. „Nein, das ist wirklich nicht mein Ding. Aber die Maas wollten mich als Köder, weil sie schwer an die Mädels herankommen, wie du dir denken kannst. Als ich ihnen im Hype Park sagte, dass du zu Ellen und mir gehörst, dachten sie tatsächlich, ich steige endlich in das Geschäft ein. Dass du mich stehen gelassen hast, nahmen die schon fast persönlich und sahen das als geschäftsschädigenden Anfängerfehler an.“ Er lächelt zaghaft, weil er sich wohl nicht sicher ist, wie seine Offenheit auf mich wirkt.

„Oh Mann!“, kann ich nur entsetzt flüstern. Ich hatte nie richtig erkannt, wie tief Erik in diesem kriminellen Sumpf steckt, schon allein durch alle um ihn herum, die in diesem Sumpf leben.

Erik schiebt sich dicht an mich heran und sieht mich mit beunruhigtem Blick an. „Bitte, Carolin! Ich schwöre dir, ich habe nie und werde auch nie dergleichen tun. Und auch mit allem anderen werde ich aufhören. Das ist nicht mehr meine Welt. War es wahrscheinlich auch nie wirklich.“

Seine Worte sollten mich trösten und mir die Angst nehmen. Aber ich kann nicht verhindern, dass sie einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.

Ich nicke nur, stehe auf und raune: „Ich gehe duschen. Ich bin vom Alkohol noch etwas benebelt. Hinterher koche ich uns was, wenn du magst.“

Mir ist nicht nach Essen. Aber ich brauche etwas, was mich von dem Gehörten ablenkt … und dann muss ich noch meine Hausaufgaben bewältigen. Mir ist nicht klar, wie ich das alles heute noch schaffen soll. Aber zumindest können das Kochen und meine Hausaufgaben ein Vorwand sein, mich ein wenig aus Eriks Nähe zu stehlen und nachzudenken.

Der sieht mir nur hinterher und ich spüre seinen Argwohn förmlich. Er kann nicht einschätzen, was ich jetzt fühle und ich weiß es selbst auch nicht genau. Dass mein Liebster so etwas wie das Patenkind eines Bordellbesitzers ist, der die Drogenscene bestimmt und seine widerlichen Scheinbrüder Frauen nur als Prostituierte halten, das muss ich erst mal verkraften. Langsam wird mir klar, warum die Zeiss-Clarkson Clemens nicht mehr gerne in ihren Reihen sahen und sie auch nicht gerne wollten, dass Erik seine Zeit mit ihm verbrachte.

 

Als ich aus der Dusche steige, kommt Erik ins Badezimmer. Er reicht mir ein Handtuch und sieht mich beunruhigt an. „Alles okay?“

Ich nicke. Aber ich bin verunsichert und fühle mich nicht wohl.

In der Dusche hatte ich über mich und die Situation nachgedacht, in der ich stecke. Und ich hatte über Erik nachgedacht … mit seinen Drogen, seinem Umfeld, das von Drogen und Prostitution lebt, seinen gefühlten siebzig bis hundert Frauen, seiner Eifersucht und seiner Art mein Leben zu bestimmen. Und tief in meinem Inneren legte sich ein schwarzes Tuch über all das und bemühte sich, alles unsichtbar werden zu lassen und allem die Schärfe zu nehmen. Die Dunkelheit kann so etwas! Das hatte er mir beigebracht.

Und dann hatte ich an Marcel gedacht. Bei ihm war alles, was ich ihm vorwerfen konnte, dass er mit zwei, drei Mädels versucht hat eine Beziehung aufzubauen, was allerdings gescheitert war. Er hatte mich außerdem gebeten, nicht ganze Nächte wegzubleiben, und er wollte, dass ich sein großes Laster mit ihm teilte: Fußball! Sein schlimmes Umfeld war eine durchgeknallte Mutter, die er durch einen Verlobungsring an meinem Finger darauf aufmerksam machen wollte, dass er nur mich liebt und eine Exfreundin, die er in ihre Schranken verwies. Er war so unschuldig … und für mich war das alles schon zu viel gewesen. Und das macht mir jetzt Angst. Was ist mit mir in den wenigen Wochen passiert? Hier und jetzt, in diesem Badezimmer, das eigentlich Erik gehört, erkenne ich mich selbst nicht mehr wieder.

Ich hatte auf seine Frage, ob alles okay ist, nur nicken können. Ich bin verstört und durcheinander. Dass ich mich selbst nicht mehr kenne, verunsichert mich.

„Carolin?“ Erik versucht mir ins Gesicht zu sehen. Aber ich habe meinen Blick zu Boden gerichtet, während ich an ihm vorbei zum Schlafzimmer zurückkehre. Ich spüre ihn hinter mir, dicht auf den Fersen.

„Carolin!“, versucht er erneut meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und an seiner Stimme höre ich, dass er langsam nervös wird.

Im Schlafzimmer legt seine Hand sich um meinen Oberarm und dreht mich zu sich um. Er greift mit beiden Händen nach meinen Schultern und versucht erneut meinen Blick einzufangen. „Was ist los?“

Da ich ihn immer noch nicht ansehen kann, legt er seine Hand unter mein Kinn und zwingt mich aufzusehen. Ich sehe in seinen Augen Verzweiflung und weiß nicht, was er sieht. Aber ich spüre ein seltsames Gefühl, das durch meine Adern kriecht und sich immer noch fragt, warum ich Marcel für nichts böse war und Erik mir ein völlig durchgeknalltes Leben präsentieren darf?

„Carolin, was ist los?“, knurrt er und ich weiß, er schaltet in den „Ich bekämpfe, was mich angreift, mit Wut und Gewalt“ Modus.

„Ich weiß nicht“, gestehe ich und sehe in seine Augen, suche nach dem Erik, von dem er mir eben erzählt hat. Dem Erik aus der Drogen- und Zuhälterscene. Aber ich sehe nur den, der mich braucht, der seine Narben vor mir nicht verstecken muss, der ohne mich tief fällt … in genau diese erschreckende Scene, aus der ich ihn scheinbar herauszuheben im Stande bin. Und dann weiß ich, was ich bin und was ich für Marcel nie sein musste: Seine Rettung.

„Bitte, sag jetzt, was los ist!“, knurrt Erik noch eindringlicher und ich sehe mich endlich im Stande zu antworten.

„Mir ist so viel eingefallen“, flüstere ich. „Ich war immer so wütend auf Marcel … wegen seinen vorherigen Beziehungsversuchen und weil ich nicht die Erste für ihn war, wie er für mich …, weil er mich zu seiner bösen Mutter schleifte …, weil ich mit ihm zu seinen Fußballspielen gehen sollte und weil ich auf einer großen Scheunenparty auf eine Exfreundin traf. Das fand ich alles so schlimm, dass ich ihn immer wieder quälte und verlassen wollte. Und bei dir? Ich war mir einen Moment nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch ich bin.“

Erik sieht mich aufgebracht an. „Was? Du hast an Marcel denken müssen?“

Ich brauche Sekunden, um zu begreifen, dass Erik da etwas gerade völlig falsch versteht. „Ich habe an ihn denken müssen, weil ich bei ihm jede Kleinigkeit für schlimm hielt und ich bei dir viel Schlimmeres vorgesetzt bekomme.“

Weiter komme ich nicht. Eriks Augen weiten sich und sein Gesichtsausdruck wird hart. „Was soll das heißen?“, knurrt er bissig.

„Nichts! Nur dass ich mich einen Moment fragte, wo die alte Carolin hin ist. Ich hatte mich einen Moment verloren. Aber ich denke, ich weiß es jetzt.“

„Was weißt du jetzt?“

„Dass ich mich nur unglaublich verändert habe. Du hast mich verändert!“

Ich muss lächeln, weil mir ein Gedanke kommt, den ich besser nicht ausspreche. Aber Erik sieht verunsichert auf meinen lächelnden Mund und raunt: „Zumindest findest du das amüsant, was mich etwas beruhigt.“

„Das würde es nicht, wenn ich dir sage, welcher Gedanke sich gerade in meinen Kopf geschlichen hat“, raune ich, weil ich einen Augenblick das Gefühl habe, er kommt, wie immer bei mir, viel zu leicht davon. Ein wenig Unsicherheit tut ihm ganz gut.

„Dann sag mir, was für ein Gedanke das war“, knurrt er und sein Blick versetzt mir einen Stich ins Herz. Ich hatte nicht bedacht, dass Erik Erik ist und er jetzt denkt, dass ich immer noch an Marcel denke. Und dieser Gedanke zeigt sich auf seinem Gesicht, seinen zusammengekniffenen Augen und seinen zusammengepressten Lippen … und an seinen Händen, die meine Oberarme noch einen Tick fester umschließen, dass es schon an der Schmerzgrenze ist.

Ich schüttele den Kopf, fast schon in einem selbstzerstörerischen Akt, aber eigentlich, weil ich ihn noch ein wenig schmoren lassen will.

„Carolin!“, kommt es bedrohlich über seine Lippen. „ICH WILL ES WISSEN!“

Ich sehe ihm an, dass seine Schmerzgrenze erreicht ist. Wenn es um Marcel oder Tim geht, ist die nicht höher als ein Rabattenzäunchen um ein paar Rosenbüsche.

„Okay, okay!“, raune ich. „Aber bitte lass mich los. Du tust mir weh!“

Offenbar traut Erik meinem Einlenken nicht. Ohne mich loszulassen, schiebt er mich rückwärts zum Bett und lässt mich auf die Matratze plumpsen, was mein Handtuch verrutschen lässt. Scheinbar meint er, dass ich, für den Fall, dass ich doch nicht reden will, schon mal eine gute Ausgangslage für seinen nächsten Übergriff biete. Er setzt sich auf meinen Bauch und schiebt mit wütendem, aufgebrachtem Blick meine Arme über meinen Kopf.

Eine Sekunde wird mir doch etwas mulmig. Mir wird mal wieder bewusst, wie groß und stark er ist …

„Ich warte!“, zischt er durch seine zusammengepressten Zähne. Seine Augen funkeln ungeduldig und mir kommt kurz in den Sinn, dass ich froh sein kann, dass der Gedanke nichts mit Marcel zu tun hat. Ich beschließe, ihn nicht länger auf die Folter zu spannen. „Ich musste daran denken, dass du eigentlich schon so etwas wie mein Zuhälter bist.“

Erik atmet tief ein und sieht mich verwirrt an.

Ich erkläre: „Erst hast du mich nach dir süchtig gemacht und jetzt ertrage ich ohne zu murren alles, was ich bei anderen nie zugelassen hätte.“

Meine Worte machen ihn völlig sprachlos. Er hatte damit gerechnet, dass ich an glücklichere Zeiten mit Marcel dachte oder ähnlichem, und ich komme ihm mit so etwas. Er lässt mich los und rollt sich von mir runter.

Ich setze mich auf und sehe ihn an. Dass meine Worte ihn so irritieren ist gut. Sehr gut. Etwas zum Nachdenken.