Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Aus der Reihe: Das Leben #5
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Marcels Gesichtsausdruck wird bei meinen Worten zusehends mürrischer. „Okay, verstehe! Aber ich bin von dir einiges gewöhnt. Also bitte! Du wolltest, dass ich komme. Sagst du mir jetzt, was Tim seit Dienstag veranlasst, sich nun bei Julians Verhandlung auf dessen Seite zu stellen? Ich denke, es hängt mal wieder mit dir zusammen.“ Der barsche Unterton in seiner Stimme sagt mir, dass er sich sicher ist, dass ich an allem schuld bin.

Ich nicke nur niedergeschlagen. Was habe ich auch zu erwarten? Es ist schließlich auch meine Schuld.

Ich beginne ihm erst mal von dem zu erzählen, was mein Vater mir am Sonntag bei Marcels Fußballspiel erzählt hatte. „Am Sonntag hat mein Vater mir mitgeteilt, dass eine seltsame Organisation Julian einen neuen Anwalt zur Verfügung stellt, der ihn auf alle Fälle da rausholen will. Angeblich ist das eine Organisation, die Jugendlichen hilft, den rechten Weg zu finden … oder so. Der Anwalt soll irgendwas Ausländisches sein und macht das kostenlos.“

Marcel holt eine Zigarettenschachtel aus seiner Jacke, völlig unerschrocken von dem, was ich ihm da erzähle. Uns eine anbietend, bedienen wir uns und er gibt uns Feuer. Sich an sein Auto lehnend, sieht er mich unschlüssig an. „Und wie heißt diese Organisation?“

Ich kann nur die Schultern unwissend hochziehen. „Mein Vater wusste den Namen nicht mehr. Aber ich kann ihm eben schreiben und er soll mir den Simsen, wenn du willst. Er selbst konnte über die im Internet nichts herausfinden.“

Marcel lässt den Rauch ausströmen und raunt: „Das ist allerdings schon komisch. Aber vielleicht hat er auch nur nicht richtig nachgeschaut! Ich frage ihn selber.“

Irritiert darüber raune ich: „Wie, du fragst ihn selber?“

„Ich muss später noch bei deinen Eltern vorbeifahren und ihm eine DVD von einem Zusammenschnitt von den letzten Bundesligaspielen vorbeibringen. Das habe ich ihm versprochen.“

Ich werfe Ellen einen schnellen Blick zu, die den genauso verdattert erwidert.

„Ich sagte doch, ich verstehe mich mit deinem Vater jetzt richtig gut! Nächsten Sonntag ist wieder ein Spiel. Er will auf alle Fälle dabei sein. Kommst du dann auch wieder mit?“, fragt er, das Thema wechselnd und ich bin platt. Dass das Verhältnis von Marcel und meinem Vater so innig zu werden droht, gefällt mir nicht. Aber ich will das jetzt nicht mit ihm ausdiskutieren, weil dieses Gespräch schon genug an meinen Nerven zerrt.

„Nein, das geht nicht, Marcel. Bitte, lass uns jetzt mal beim Thema bleiben. Julian hat also diesen neuen Anwalt von dieser seltsamen Organisation und Tim kam Dienstag, um mit mir zu reden, weil jemand in seinem Hotel etwas für ihn abgegeben hat.“

Marcel sieht mich nur an, noch völlig unbeeindruckt.

Ich weiß, jetzt kommt der schwierige Teil und in meiner Brust wird es seltsam eng.

„Marcel! Es ist nicht einfach als Außenstehender zu wissen, in welchem Hotel Tim gerade absteigt und Tim fand, dass das viel Auswand für den war, der sich die Mühe machte, das Kuvert für ihn abzugeben.“

Ich rede und rede, um nicht das sagen zu müssen, was mir am schwersten fällt. Aber nun muss es raus und Marcel sieht mich immer noch so an, als könne er nicht fassen, dass ich ihn dafür herbestellt habe.

„Was war das für ein Kuvert und was war da drinnen?“, fragt er, als ich immer noch zögere.

„Ein Bild.“ Ich sehe Ellen hilfesuchend an, die sich nur neben Marcel an das Auto lehnt und mir keine Hilfe sein wird.

„Ein Bild? Was für ein Bild?“, drängt Marcel ungeduldig.

Ich atme zittrig einmal durch, bevor ich antworte: „Das Bild ist gar nicht so wichtig, eher das Geschriebene dazu.“

Erneut kann ich mich nicht überwinden, ihm zu sagen, was gesagt werden muss.

Ellen brummt etwas und ich sehe sie unglücklich an. „Mach schon!“, sollte das wohl heißen.

„Okay! Marcel, bitte rege dich jetzt nicht auf! Das Bild, und was es bedeutet, ist weniger wichtig. Wichtiger ist, wie gesagt, was hinten draufstand“, winde ich mich.

Seine Zigarette austretend, stößt Marcel sich von seinem Auto ab und packt mich an den Oberarmen. „Was … ist … auf … dem … Bild?“, brummt er, sich sicher, dass es doch wichtig sein muss, wenn ich so drumherum rede.

„Bitte, lass mich los!“, raune ich entsetzt und mir sicher, dass Erik schon auf dem Sprung ist.

Marcel lässt die Hände sinken, aber seine Augen funkeln mich ungeduldig an. „Was ist auf dem Bild?“, fragt er noch mal.

„Ich bin da drauf … und … Erik.“

„Erik?“, fragt Marcel und sieht Ellen an, die nur nickt. „Und was heißt das?“

„Ich bin mit ihm zusammen“, presse ich hervor.

Marcel schließt kurz die Augen und als er sie öffnet, ist dort die pure Verzweiflung zu sehen. „Also doch!“, stammelt er.

„Marcel, es geht nicht um mich und Erik! Bitte hör zu!“, sage ich resigniert und sehe, dass Ellen mich plötzlich irritiert mustert. Sie war von nichts anderem ausgegangen und froh, dass ich endlich auch Marcel davon in Kenntnis gesetzt habe, dass ich mit ihrem Bruder zusammen bin.

„Auf dem Bild stand etwas geschrieben, das mich beunruhigt. Bitte Marcel, hör … mir … zu!“ Ich lege meine Hände nun auf seine Arme und sehe ihn flehend an.

Er nickt nur.

„Auf dem Bild für Tim stand: Hilf deinem Bruder und er wird seiner Schwester klarmachen, bei wem ihr Platz ist.“

Ich ignoriere Ellen, die die Luft zwischen den Zähnen einzieht und mich verdattert anstarrt. Aber ich habe nur Augen für Marcel, der mich verunsichert ansieht. „Bist du dir sicher?“

„Ich habe es selbst gelesen. Tim wollte in letzter Zeit nichts anderes als mich für sich, wenn er von seiner Tour wiederkommt. Dafür hat er mir seine Wohnung überlassen. Und dann macht ihn jemand ausfindig, um ihm ein Bild von mir und Erik zu geben, mit diesem Spruch. Du kannst dir denken, was das für ihn bedeutet. Und er kam, um sich die Bestätigung zu holen, ob das auf dem Bild stimmt.“

„Verdammt! Du hast ihm hoffentlich gesagt, dass du nicht mit diesem Typ zusammen bist!“

Ellen brummt: „Vorsicht!“ und sieht Marcel herausfordernd an. Es ist schon süß, wie sie sofort für ihren Bruder auf die Barrikaden geht, wo sie noch vor ein paar Monaten nicht mal die gleiche Luft wie er atmen wollte.

„Dass es stimmt, sah er selbst, weil Erik auch bei dem Treffen war. Er hatte ihn selbst dahin bestellt, wohl um ihn zu fragen, falls ich ihm das auf dem Bild nicht erklärt hätte.“

Marcel scheint einen Moment nachzudenken. Dann raunt er leise: „Du weißt, was der Spruch bedeutet?“

„Natürlich!“, antworte ich genauso leise.

„Ich aber nicht!“, schaltet Ellen sich ein und Marcel erklärt ihr: „Es geht um das Vermächtnis von Kurt Gräbler. Scheinbar soll Julian Tim helfen, Carolin endlich zu bekommen. Da ist, nach dem Fluch des Alchemisten, ihr Platz, um weitere Generationen in seinem Sinne zu zeugen.“

Ellen fällt die Kinnlade runter und ich sehe ihr an, dass ihr in diesem Moment klar wird, warum Erik nichts von diesem Gespräch wissen soll.

„Oh!“, haucht sie kleinlaut.

„Was willst du tun?“, fragt Marcel mich.

Ich kann nur resigniert die Schultern heben. „Ich dachte, vielleicht weiß dein Großonkel, wer Tim das Bild zugesteckt haben könnte und welche Organisation Interesse daran hat, dass Julian nicht eingesperrt wird.“

Hatte ich gedacht, dass Marcel mir nun einen Vogel zeigt und mir sagt, ich soll meinen Scheiß doch selbst ausbaden, so habe ich mich geirrt.

„Oh Mann! Ich muss unbedingt mit ihm reden. Ich hole mir nachher von deinem Vater den Namen von dieser Organisation und fahre noch heute bei meinem Großonkel vorbei. Vielleicht kennt er die und weiß, was die vorhaben. Und vielleicht sollte ich selbst mit Tim noch mal reden. Sorry, dass ich das sage … aber ich habe ein echt ungutes Gefühl. Weiß Tim, wo du jetzt wohnst oder Erik und Ellen?“

Ich schüttele den Kopf.

„Das ist vielleicht erst mal dein Glück.“

Mir wird übel und ich lege eine Hand an das Autodach, um mich festzuhalten.

„Aber Julian hasst Tim! Vielleicht kommt er raus und will mit dem ganzen Alchemistenmist gar nichts mehr zu tun haben! Vielleicht wartet er nur ab, bis Tim seine Aussage geändert hat und hilft ihm dann einen Scheiß!“, sage ich verbissen.

„Durchaus möglich. Das werden wir aber erst wissen, wenn es soweit ist“, antwortet Marcel.

Dass „wir“ schallt in meinen Ohren wieder. „Wirst du mir helfen?“, raune ich mit zurückhaltender Hoffnung.

„Das muss ich wohl. Mein Großonkel würde mir nie verzeihen, wenn ich jetzt kneife“, raunt er und legt wieder seine Hände auf meine Oberarme. „Und wenn du meinst, dass dieser Junkie besser für dich ist als ich, dann kann ich das nicht ändern. Vielleicht sollte alles so kommen, damit du schlechter zu finden bist und vielleicht kann er dich besser beschützen als ich, weil nicht viele vom ihm etwas wissen. Tim und ich werden als erstes in die Schusslinie geraten, wenn Julian freikommt“, dramatisiert er, grinst kurz und wird dann wieder ernst. „Aber wenn du mich brauchst, bin ich für dich da!“

Ich bin gerührt. Marcel ist wie immer unglaublich lieb und hilfsbereit und mir kommen die Tränen. „Danke, Marcel!“, murmele ich und versuche sie zu unterdrücken. Aber das Ganze nimmt mich einfach unglaublich mit.

Marcel zieht mich an sich und legt seine Arme um mich. „Wenn doch endlich mal dieser ganze Scheiß vorbei wäre. Was muss noch alles passieren? Ich hoffe, ich kann Tim klarmachen, dass er dich genauso gehen lassen muss wie ich.“

Seine Worte treffen mich und meine Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten. Ich schluchze auf und lasse mich an seine Brust fallen.

Ellen legt eine Hand auf meinen Arm und ich fühle mich plötzlich schwach und schwindelig. Irgendwas zieht sich in meiner Brust zusammen und mir bleibt die Luft weg.

 

Marcel schiebt mich von sich weg, um mich anzusehen und ich registriere kurz seine grauen Augen und spüre noch, wie sich alles um mich herum zu drehen beginnt und meine Beine weich werden. Ellens aufgebrachter Ruf nach Erik ist das Letzte, was ich höre, bevor meine Welt dunkel wird.

„Carolin!“, höre ich Marcel entsetzt stammeln und spüre zwei starke Arme, die mich von ihm wegziehen.

„Carolin! Was ist passiert?“, höre ich Erik erschrocken fragen.

Ich öffne die Augen und sehe in sein Gesicht, das mich verunsichert mustert.

„Sie muss kurz ohnmächtig geworden sein“, höre ich Marcel antworten.

Ich schließe betroffen die Augen und denke nur: Marcel und Erik! Oh, bitte nicht!

„Kannst du uns fahren? Wir müssen sie nach Hause bringen“, höre ich Erik fragen.

„Pumpst du sie mit Drogen voll oder was? Die ist ja völlig fertig!“, höre ich Marcel zischen.

„Bestimmt nicht! Sie nimmt nichts von dem Zeug“, brummt Erik zurück. „Das muss der Stress sein. Fährst du uns jetzt oder muss ich ein Taxi rufen?“

Ich spüre, wie ich hochgehoben werde und höre eine Autotür, die geöffnet wird. Marcel höre ich noch böse Fluchen: „Das hoffe ich für dich, sonst bist du sowas von tot.“

Ich werde ins Auto gesetzt und spüre die starken Arme, die mich an sich drücken.

„Erik?“

„Ja, Schatz, ich bin da“, murmelt er leise an meinem Ohr und hält mich fest umschlungen.

Ellen höre ich auch neben uns, und Daniel, der sich wohl vorne neben Marcel setzt und ein aufgebrachtes: „Was ist das für eine Scheiße?“, murrt.

„Was für ein Aufgebot. Ich hoffe, ihr seid auch alle da, wenn andere Carolin dumm kommen. Sie wird das in nächster Zeit gebrauchen können“, höre ich Marcels schneidende Stimme wie durch einen Schleier zischen.

Es ist Daniel, der antwortet: „Da kannst du dich drauf verlassen.“

Das Auto setzt zurück und ich fühle, wie ich wieder ganz tief falle. Ich bin bei Erik und kann mich fallen lassen.

Von Daniels Worten werde ich wieder langsam an die Oberfläche gespült.

„Lass Erik mal machen. Das ist kein Problem.“ Ich spüre, wie ich hochgehoben und getragen werde. Ellen ist neben uns und fragt beunruhigt: „Soll ich Dr. Bremer anrufen? Er soll vorbeikommen.“

„Ja, bitte mach das“, höre ich Erik antworten und lasse mich wieder fallen. Ich bin so erschöpft und müde und irgendetwas lässt mich einfach nicht genug Kraft aufbringen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Dennoch spüre ich, wie ich auf die weiche Matratze gelegt werde und meine Schuhe von den Füßen gezogen werden. Aber erneut kann ich nicht genug Kraft aufbieten, um mich der Welt zu stellen. Etwas scheint mich zu umklammern und festzuhalten.

Als ich dann doch etwas aus den Tiefen emporsteige, umschließt ein unangenehmer Druck meinen Oberarm und eine fremde, tiefe Stimme sagt etwas, was ich nicht verstehen kann. Beunruhigt kämpfe ich mich weiter aus der Tiefe, die mich immer noch seltsam gefangen hält. Ich schaffe es nicht, die Augen zu öffnen, um zu sehen, was passiert. Etwas in mir will einfach nicht gehorchen. Aber die Stimmen werden deutlicher und mich erreichen verständliche Wortfetzen.

„Ah, deine Freundin. Das freut mich für dich. Dann bekommt dein Leben mal etwas Normalität.“

Etwas streicht über meine Armbeuge.

„Du wohnst jetzt hier in Clemens Wohnung? Ach, sie wohnt hier. Naja, dann steht das wenigstens nicht mehr länger leer.“

Mir wird etwas in die Armbeuge geklebt.

„Das sieht mir nach einem kleinen Nervenzusammenbruch aus. Hat sie viel Stress oder belastet sie etwas extrem? Dass sie ohnmächtig wurde ist eine Schutzmaßnahme des Körpers. Sie braucht absolute Ruhe und keine Aufregung. Kannst du dafür sorgen? Sonst lasse ich sie ins Krankenhaus überweisen. Mit dem Beruhigungsmittel wird sie erst mal schlafen.“

Lauter Sätze, die aus dem Nichts an mich herangetragen werden. Ich spüre etwas Warmes meine Hand ergreifen und festhalten. Auch meine andere Hand wird genommen und ich höre Marcel leise raunen: „Das musste ja mal so kommen. Was in dem letzten halben Jahr alles passiert ist!“

Marcel? Oh nein! Was macht er hier? Erik wird ausflippen!

Ich will nicht schlafen. Ich darf nicht schlafen. Ich muss aufwachen, aufstehen, Erik zeigen, dass alles in Ordnung ist und Marcel hier nichts zu suchen hat. Eriks Stimme hatte ich immer nur wie ein verunsichertes Hintergrundrauschen gehört. Diese ganze Situation und Marcel … das muss ihn völlig überfordern.

Aber ich kann nicht. Mein Körper streikt. Etwas zieht ihn immer mehr in eine dunkle Tiefe. Meine Hände werden losgelassen. Ich werde etwas hochgezogen und ein Arm schiebt sich unter meinen Nacken. Ein warmer Körper drängt sich an mich und ein Arm hält mich an diese Wärme gepresst. Ich atme Eriks Geruch ein und will mich ganz zu ihm umwenden, aber mein Körper will nicht gehorchen. Doch die innerliche Unruhe wird langsam weniger und ich spüre die Panik abflauen, eigentlich funktionieren zu müssen, und das mit Marcel und Erik zu regeln. Ich kann nichts regeln. Ich kann gar nichts mehr.

„Passt du vernünftig auf sie auf?“, höre ich Marcel fragen und das holt mich wieder aus meiner Versenkung, in die ich immer mehr abzudriften drohe. „Vielleicht kann dein Arzt etwas tun, damit sie nicht zur Verhandlung muss. Sie wird das da nicht durchstehen. Sieh sie dir doch an! Sie ist nur noch ein Schatten!“ Marcels dunkle Stimme klingt aufgebracht und wütend.

„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Morgen früh kommt Dr. Bremer noch einmal vorbei und wird entscheiden, was passieren soll. Dann werde ich mit ihm noch einmal über alles reden und sehen, was er dazu meint. Soll ich ihre Eltern verständigen?“ Ich spüre an meiner Wange das leichte Zittern in Eriks Brust, der versucht mit der Situation klarzukommen.

Marcel antwortet ihm: „Das übernehme ich. Ich fahre da gleich sowieso vorbei und werde denen wohl sagen müssen, was wirklich los ist. Aber mir ist lieber, sie ist bei jemandem, der nach ihr sieht - und wer sich einen privaten Hausarzt leisten kann …“

„Danke! Du kannst dich darauf verlassen, dass ich bei ihr bleibe und auf sie aufpasse. Ich melde mich dann morgen bei dir und sage dir Bescheid, was Dr. Bremer entschieden hat“, höre ich Erik raunen.

„Ich lasse dir die Nummer von mir da.“

„Das brauchst du nicht. Ich habe sie.“

Während mein Innerstes immer dumpfer wird, verfolge ich das Gespräch der beiden Männer. Ich mache allen so viel Stress! Aber mein Innerstes will das nicht mehr wirklich registrieren und schaltet immer mehr ab. Ich höre Ellens Stimme, verstehe aber nicht mehr, was sie sagt. Irgendwie registriere ich noch, dass Marcel sich verabschiedet und sie ihn nach draußen begleitet und dann versinke ich in einen traumlosen Schlaf.

Als ich wieder wach werde, ist es um mich herum dunkel. Ich spüre den warmen Körper an meinem und höre dessen ruhigen Atem. Aber als ich versuche, mich zu bewegen, schreckt der Körper neben mir auf. Die kleine Nachttischlampe erhellt plötzlich den Raum. „Carolin! Wie geht es dir?“, höre ich die besorgte Stimme von Erik fragen.

„Gut!“, sage ich aus einem Reflex heraus und weiß nicht, was los ist. Warum ist er so besorgt und reagiert so schnell auf mein Wachwerden? Hatte ich schlimm geträumt? Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.

Die Decke wegschiebend, will ich aus dem Bett steigen, um mir etwas zum Trinken zu holen. Aber mir ist schwindelig und es fällt mir schwer, meinen Körper Befehle ausführen zu lassen.

„Halt! Was machst du? Wo willst du hin?“, höre ich Erik rufen und spüre ihn neben mir aufspringen, während ich mich seufzend ins Kissen zurücksinken lasse.

„Ich wollte mir etwas zu trinken holen“, raune ich mit belegter Stimme.

„Ich gehe! Du bleibst im Bett. Verstanden?“ Erik deckt mich wieder zu und ich höre ihn das Zimmer verlassen. Als er wieder an das Bett kommt, öffne ich erneut die Augen und sehe seinen beunruhigten Blick. Langsam setze ich mich auf und wundere mich, warum ich mich so elend fühle.

„Wie geht es dir denn jetzt? Du hast uns alle echt erschreckt! Jetzt ist erst mal Schluss mit allem. Und wenn ich dich hier einsperren muss“, brummt Erik aufgebracht und reicht mir ein Glas Orangensaft.

„Was?“, hauche ich, während sich in meinem Kopf die Erinnerungen hochschieben.

Marcel … der Parkplatz und Ellens Schrei nach Erik.

„Oh Mann! Tut mir leid“, kann ich nur stammeln und weiß, das muss für Erik, und auch für alle anderen, schlimm gewesen sein.

Ich trinke mit zittrigen Händen das Glas leer und Erik nimmt es mir ab, bevor es mir wegfallen kann.

Schnell lege ich mich wieder zurück, weil mein ganzer Körper zittrig und unruhig wirkt. Ein schreckliches Gefühl.

Eriks Hand streicht mir die Haare aus dem Gesicht. „Dr. Bremer hat gesagt, das war ein Nervenzusammenbruch und du musst dich jetzt schonen und darfst dich nicht mehr aufregen. Ich werde dafür sorgen. Und wenn ich dich dafür ans Bett binden muss“, brummt er und ich sehe in seinen Augen die unbeschreibliche Angst und Verwirrung, die seine harten Worte Lügen strafen. Mein armer Erik. So groß und stark und so schnell überfordert.

„Es geht mir wieder gut“, sage ich und lasse mich von ihm in die Arme ziehen.

„Das glaube ich erst, wenn Dr. Bremer das auch sagt. Und jetzt schlaf wieder. Es ist schon spät. Morgen früh sehen wir weiter.“ Seine Lippen legen sich kurz auf meine und ich lasse mich wieder in den Schlaf sinken, die aufkeimenden Gedanken ignorierend, die sich in mir aufbauen wollen. Nur der eine Satz will sich nicht ignorieren lassen: Hilf deinem Bruder und er wird seiner Schwester klarmachen, bei wem ihr Platz ist.

Als ich das nächste Mal wach werde, liege ich allein im Bett und aus dem Wohnzimmer höre ich Stimmen.

Ich sehe auf den Wecker. Es ist viertel nach Acht am Morgen.

Gut, dass ich nicht zur Schule muss.

Langsam stehe ich auf und halte mich kurz am Bett fest, weil mir schwindelig wird. Aber dann hört das Zimmer auf, sich zu drehen und ich sehe an mir herunter. Ich trage meinen Rüschenpyjama und frage mich, ob ich ihn mir selbst angezogen hatte. Erinnern kann ich mich daran nicht.

Im Wohnzimmer ist niemand und ich gehe weiter zur Küche, aus der mir Kaffeegeruch entgegenweht und aus der ich die Stimmen höre. Als ich im Türrahmen erscheine, sehe ich Erik aufspringen. „Schatz, du sollst doch nicht aufstehen!“

Am Tisch sitzt ein älterer Mann mit grauen Haaren und einer Brille mit Goldrand, die seine blauen Augen, in dem schon etwas faltigen Gesicht, vergrößert.

„Ah, unsere Patientin!“, sagt er lächelnd und stellt seine Kaffeetasse auf den Tisch zurück, um mir die Hand zu geben. „Ich bin Dr. Bremer. Ich bin der Hausarzt der Zeiss-Clarkson und kenne Erik und Ellen schon seit klein auf. Wie geht es Ihnen? Erik war so nett, mir ein wenig von den Umständen zu berichten, die gestern wohl ihren Tribut forderten. Fräulein Maddisheim, setzen Sie sich zu uns. Ich denke, wir müssen uns mal unterhalten.“

Erik zieht mich am Arm zu einem der Stühle und ich setze mich. Ich bin über den Umstand verwirrt, dass ein Arzt in meiner Küche sitzt und mich behandeln will. Mein Blick läuft beunruhigt in Eriks Gesicht. Doch der nickt nur mit ernstem Gesicht und bleibt neben mir stehen, eine Hand schwer auf meiner Schulter gestützt, als müsse er mich fixieren.

„Soll ich rausgehen?“, fragt er den Arzt, der fragend auf mich verweist. Ich schüttele den Kopf und Erik lässt mich los und setzt sich.

„Möchtest du einen Tee?“, fragt er und ich schüttele erneut den Kopf. Ich will das hier schnell hinter mich bringen.

„Darf ich Carolin zu Ihnen sagen?“, fragt Dr. Bremer und lächelt freundlich.

„Sicher!“, raune ich leise.

„Ich weiß nicht, wie weit Sie sich an gestern erinnern. Sie hatten so etwas wie einen Nervenzusammenbruch. Erik sagt, Sie waren sogar kurz ohnmächtig, was schon einiges heißen soll. Ihr Körper ist akut in den Streik getreten. Ich habe Ihnen eine Beruhigungsspritze gegeben, um Sie etwas zur Ruhe kommen zu lassen.

Der menschliche Körper reagiert mit so einem Nervenzusammenbruch auf Stress und psychische Belastung, mit der er nicht mehr fertig wird. Er kann sich sogar komplett ausschalten. Mehr oder weniger war das gestern der Fall. Ich möchte, dass Sie in den nächsten Tagen noch zu einem EKG zu mir kommen und wir noch einige Tests machen. Bis dahin verordne ich Ihnen Ruhe und keinerlei Stress.“ Der Doktor sieht Erik an, als müsse er ihm das extra noch mal einbläuen.

 

„Okay, wir haben Ferien“, sage ich nachdenklich und frage zögernd: „Aber was ist mit meinem Job?“

„Sie sollten diese Woche gar nichts machen. Ich werde Ihnen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen. Aber mit Ihrem Gerichtstermin ist das etwas anderes. Sie sind als Opfer und Zeuge vorgeladen und Ihr Bruder ist der Angeklagte. Dass dies auch ein Aspekt ist, der Sie dahin brachte, wo Sie gesundheitlich jetzt sind, sollte jedem einleuchten. Aber ich denke, um ihre Aussage kommen Sie nicht herum.“

Erik braust auf: „Das geht nicht! Das steht sie in ihrem Zustand gar nicht durch!“

„Leider ist das Gericht schwer zu überzeugen, dass jemand nicht vernehmungsfähig ist. Aber ich werde sehen, was sich machen lässt. Wollen Sie denn gegen ihren Bruder aussagen oder werden Sie ihr Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nehmen?“

Das ist das, worüber Marcel mich mal aufgeklärt hatte und ich weiß, dass ich gegen Tim, und Julian mit seinem neuen Anwalt, keine Chance habe. Ich nicke nur unsicher und bei dem bloßen Gedanken an die Verhandlung bricht mir schon der Schweiß aus.

„Wissen Sie, ich werde mir Ihren Fall einmal anschauen. Ich kenne ein paar Leute bei Gericht und als ihr Arzt wird man mir auch Auskunft geben. Auf alle Fälle sollten Sie nicht der ganzen Gerichtsverhandlung beiwohnen und auch nicht stundenlang auf Ihre Aussage warten müssen. Haben Sie die Vorladung hier?“

Erik steht auf und drückt seine Hand auf meine Schulter, damit ich ja nicht auf den Gedanken komme aufzustehen. „Wo liegt sie? Ich hole sie dir. Unser Dr. Bremer ist gewöhnt sich in allen Belangen um uns zu kümmern“, erklärt er etwas widerstrebend.

„Meine Papiere liegen alle in der untersten Schublade im Sideboard. Da müsste das auch bei sein.“

Erik geht und ich sehe den Doktor unsicher an. Dann beuge ich mich dicht zu ihm herüber und frage leise, aber eindringlich: „Was muss ich tun, damit es schnell wieder besser wird?“

Er lächelt wieder. „Sich vor allem keinen Stress machen. Treten sie mal ein wenig kürzer. Besteht denn Hoffnung, dass Sie nach der Verhandlung wieder ein normales Verhältnis zu ihrer Familie aufbauen können? Sie sind zu jung, um sich allein durchs Leben zu schlagen.“

„Das braucht sie auch nicht! Sie ist nicht allein. Sie hat Ellen und mich!“, höre ich Erik energisch ausrufen, als er mit einem Zettel in der Hand wieder in die Küche kommt. Er gibt ihn an den Doktor weiter, der einen Blick darauf wirft.

„Alles klar. Ich dachte mir das schon. Das Gericht hier in Osnabrück ist zuständig und ich kenne da den einen oder anderen.“

Er stellt eine Bescheinigung für Alessia aus, obwohl ich ihm sage, dass er das nicht machen muss und belehrt mich nochmals, mich zu schonen. Sich erhebend, raunt er zu Erik: „Erik, es ist schön, dass du dich hier so einbringst. Aber du solltest sie nicht überfordern! Deine Probleme können auch schnell zu ihren werden.“

Ich weiß nicht, was Dr. Bremer genau meint. Aber Erik nickt nur und raunt leise: „Ist mir bewusst. Ich werde das jetzt ernsthaft in den Griff bekommen. Alles!“

Der Doktor nickt und legt Erik die Hand freundschaftlich auf die Schulter. „Das hoffe ich für euch beide!“

Er gibt mir die Hand und erneut den Auftrag, mich in den nächsten Tagen noch für ein EKG in seiner Praxis anzumelden und ermahnt mich noch einmal, mich zu schonen.

Erik drückt er ein Rezept mit irgendwelchen Baldriantropfen und Tabletten für mich in die Hand. Dann gehen die beiden zur Tür und ich sitze nur da, völlig verstört. Also kann ich nicht mal arbeiten gehen! Und das alles wegen gestern. Dabei weiß ich gar nicht mal genau, was eigentlich passiert ist. Mir scheinen einige Stunden in meinem Leben zu fehlen.

Erik kommt in die Küche. Er setzt sich an den Tisch und sieht mich beunruhigt an. „Wie geht es dir heute Morgen? Du hast mir gestern einen riesen Schreck eingejagt, und den anderen auch.“

„Was ist denn passiert?“, frage ich mit zittriger Stimme, die Erik schon wieder aufhorchen lässt.

Er steht auf und hält mir seine Hand hin. „Komm, ich bringe dich ins Bett zurück und erzähle dir, was gestern los war.“

Mich im Bett fest an sich drückend, berichtet er mir von Ellen, mir und Marcel und wie ich mit Marcel gesprochen hatte, er mitansehen musste, wie ich vor Marcel in die Knie ging und Ellen ihn panisch rief. Ich höre an Eriks Stimme, wie entsetzt er selbst jetzt noch darüber ist, dass ich einfach zusammengebrochen bin.

„Marcel hat uns hierhergebracht und Ellen hat Dr. Bremer angerufen, der sofort kam. Er meint, dass dies eine Reaktion deines Körpers war, weil er mit dem ganzen Scheiß nicht mehr klarkam.“

Ich sehe in Eriks Gesicht. Seine Stimme lässt mich schon seinen aufgebrachten Blick erahnen.

„Und Marcel ist fast ausgeflippt, weil er dachte, das liegt an Drogen und so. Aber wir konnten ihm versichern, dass du nichts genommen hast. Er war noch so lange da, bis Dr. Bremer gegangen ist und gestern Abend hat er bei Ellen auf dem Handy angerufen und ich habe noch einmal mit ihm gesprochen. Er hat mit deinen Eltern geredet und du sollst sie unbedingt heute noch anrufen, wenn es dir bessergeht.“ Erik lehnt seinen Kopf an die Rückenlehne des Bettes und murmelt: „Ich hatte nicht erwartet, dass er das mit uns so wegsteckt. Er meint, ich bin ein besserer Schutz für dich und er schrotet meinen Mustang mit seinem Golf, wenn ich dir doch noch Drogen unterjuble oder dir sonst etwas antue.“ Er lacht leise auf und ich bin verwirrt. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass Marcel klargeworden sein muss, dass Erik das mit dem Mustang war, den er in Bramsche immer gesehen hatte.

„Hat er sonst noch etwas wegen deinem Auto gesagt?“, frage ich verunsichert.

Erik scheint genau zu wissen, was ich meine. „Ja, dass ich ihm für alles eine Probefahrt schulde.“

Das entlockt mir ein Lächeln. Das ist mein Marcel! Er ist nicht sauer auf uns, möchte aber einmal Eriks Auto fahren.

„Ich sagte doch, er tauscht mich gegen dein Auto sofort ein“, witzele ich.

Erik lässt mich von seiner Brust auf das Kissen sinken und lehnt sich über mich, um mich ansehen zu können: „Ganz so ist es nicht. Er liebt seinen Golf und er steht auf meinen Mustang. Aber für dich würde er beide zu Schrott fahren.“

Er sieht mich ernst an und ich streiche ihm mit der Hand über die Wange mit den Bartstoppeln. „Er hat mich gefragt, ob wir schon etwas miteinander gehabt haben, als ihr noch zusammen wart“, sagt er leise und sein ernster Gesichtsausdruck verunsichert mich. „Ich habe nein gesagt. Ich konnte ihm das nicht antun. Er scheint ein ganz umgänglicher Kerl zu sein.“

Es fehlt nur noch, dass Erik sagt: „Wenn ich eine Frau wäre, würde ich mich auch in den verlieben.“ Das hatte Tim zumindest mal gesagt.

„Das ist lieb von dir. Das hat Marcel auch nicht verdient“, sage ich mitgenommen.

„Ich weiß. Und weißt du, was mir gestern klar wurde?“ Erik sieht mich unschlüssig und etwas verunsichert an.

Ich schüttele den Kopf.

„Du hast diesen eigentlich ganz annehmbaren Kerl wegen mir verlassen. Und auch Tim mit seinem dicken Mercedes, dem vielen Geld und dem Leben auf einem roten Teppich. Ich weiß nicht, ob ich das verdiene?“

„Tust du! Du verdienst alles Gute auf dieser Welt und hast auch ein dickes Auto, Geld und einen roten Teppich können wir uns noch kaufen, wenn du unbedingt einen haben willst“, raune ich und streiche ihm wieder über die Wange.

„Ach Carolin! Du bist wie ein Stehaufmännchen. Gestern noch völlig am Ende und heute baust du mich schon wieder auf und machst Witze.“ Er küsst mich und ich fühle mich von seinen Worten getragen.

Ich muss stark sein! So etwas wie gestern darf mir nicht noch mal passieren.

Am Nachmittag rufe ich meine Mutter an und muss einiges über mich ergehen lassen. Sie ist entsetzt, dass ich nicht mehr mit Marcel zusammen bin und eine Wohnung in Osnabrück habe, von der sie die ganze Zeit nichts wusste. Und dass ich krank bin, beunruhigt sie. Marcel hatte ihr aber wohl nicht gesagt, dass es ein Nervenzusammenbruch war.